
- Das Ende der Einschläferungs-Taktik
Die Union wird im Bundestagswahlkampf auf ihren Markenkern und eigene Ideen angewiesen sein, um Mehrheiten zu mobilisieren. Themenklau beim Herausforderer wird nicht mehr funktionieren. Angela Merkels Methode der asymmetrischen Demobilisierung war zwar ein beispielloser Erfolg, aber sie ist Vergangenheit.
Die 16 Jahre der Kanzlerschaft Merkel hatten eine ständige Begleitmusik: Das Klagelied über Angela Merkels Lieblingstaktik der asymmetrischen Demobilisierung ertönte in den eineinhalb Dekaden mal leiser, mal lauter, aber es verstummte nie. Asymmetrische Demobilisierung meint, dass der politische Wettbewerb dadurch eingeschläfert wird, indem man sich die Positionen des politischen Gegners schamlos zu eigen macht. Nicht aus Überzeugung, nicht zur Begeisterung der eigenen Anhängerschaft, sondern um den Rivalen die Chance zu nehmen, ihre Parteigänger zu mobilisieren.
Der Preis dafür ist, dass widersprüchliche Politikziele so abgeschliffen und verwässert werden, dass sie irgendwie vereinbar sind. Und der politische Friede, der mit diesem Vorgehen erreicht wird, führt dazu, dass die Partizipation am politischen Prozess schwindet. So, wie Demokratie durch ein Übermaß an Polarisierung beschädigt wird, schadet ihr deren Abwesenheit. Es entstehen Repräsentationslücken: Die Anhänger der Opposition erleben diese nicht mehr als kraftvollen Gegenpol, wohingegen es der Wählerschaft der Regierungspartei schwerfällt, sich in deren an den Zeitgeist angepassten Agenda wiederzufinden. Solche Repräsentationslücken können sich dann in politischen Eruptionen entladen, die sich im schlechtesten Fall auch noch skrupellose Demagogen zunutze machen.
Viele setzten auf Merz, dann auf Söder
So zumindest dürften es nicht wenige enttäuschte Unionstraditionalisten empfinden, die nach langen Jahren des äußerst flexiblen Liebäugelns der Partei mit sozialdemokratischen und linksliberalen Themen auf eine Renaissance der klassischen konservativ-liberalen Volkspartei hoffen, zugleich jedoch aus Überzeugung ihrer Partei die Treue halten. Viele in diesem Lager hatten zunächst auf eine Kanzlerkandidatur von Friedrich Merz gesetzt, die sich jedoch nicht materialisierte. Im Machtkampf um die Kandidatur ging die Gunst jenes Teils der Konservativen in vielen Fällen auf Markus Söder über. Mit ihm verbindet sich die Vorstellung einer CDU, die zwar nicht zu all ihren alten Grundsätzen zurückkehrt, jedoch zu ihrer alten Position im bundesrepublikanischen Parteiengefüge: Mitte-rechts, ohne permanent nach Mitte-links auszugreifen.
Es fragt sich jedoch, ob Markus Söder tatsächlich der Bannerträger einer schwärzeren Union ist, für den ihn viele halten. Ist Söder nicht vielmehr eine Merkel 2.0, obwohl auf ihn etwas ganz anderes projiziert wird? Sein atemberaubend schneller Wandel vom „Asyltourismuskritiker“, der lustvoll mit hoch- und erzkonservativen Begrifflichkeiten provozierte, zum selbsternannten „Progressiv-Liberalen“, der mit vielen urgrünen Ausstiegs- und Verbotsforderungen lächelnd mindestens gleichzieht, erinnert doch eher an die junge Kanzlerin Angela Merkel. Die hat um 2005 herum eine ähnliche Metamorphose durchgemacht. Marktliberaler als im damaligen Bundestagswahlkampf ging es nie zu, gewürzt mit einer ordentlichen Prise gesellschafts- und sicherheitspolitischem Konservatismus. Nicht wenige unter Freund wie Feind glaubten, nun sei mit einem Vierteljahrhundert Verspätung der Thatcherismus in Deutschland angekommen oder zumindest die geistig-moralische neoliberale Wende endlich da.
Der Wandel der Angela Merkel
Allerdings folgte auf den Furor eine ernüchternde Klatsche: Gestartet mit beinahe absoluten Umfragemehrheiten, hievte sich die Union gerade so über die Ziellinie. Angela Merkel hatte Glück im Unglück und überstand eine Palastrevolte konservativer CDU-Granden. Direkt danach kam der Wandel zu jener Angela Merkel, die von vielen abgelehnt, aber von noch mehr Menschen geliebt wird: der Präsidialkanzlerin mit dem feinen Gespür für den Zeitgeist. Vorbei mit Prinzipienreiterei oder -treue, je nach Sichtweise! Die Parallele zu Markus Söder ist augenfällig: Nachdem er unter dem höchst kontroversen Schlagwort einer „konservativen Revolution“ im bayerischen Landtagswahlkampf ein für die hohen Ansprüche der CSU recht enttäuschendes Ergebnis eingefahren hatte, wandelte er sich zum fortschrittlichen Herold einer neuen Zeit, der nach eigener Aussage mit dem Zeitgeist gehen wolle. Er selbst verweist dabei immer wieder auf das Vorbild Angela Merkels, als deren Erbe er sich sieht.
Das ist nicht die schlechteste Vorbildwahl für einen ambitionierten Politiker: Trotz aller Unkenrufe wird es im Herbst dieses Jahres in der Geschichte der Bundesrepublik kaum jemand so lange vermocht haben, sich an der Spitze des Landes zu halten wie dessen erste Kanzlerin. Allerdings werden alle Tag- und Fieberträume der unzufriedenen Konservativen Makulatur, wenn ausgerechnet der Kandidat ihrer Herzen diesen Kurs fortsetzt. Außerdem ist nicht sicher, dass die asymmetrische Demobilisierung, wie Markus Söder sie erkennbar in Sachen Umwelt- oder auch Coronapolitik betreibt, immer noch so durchschlagend effektiv ist wie einst.
Den Gegner kopieren, das funktionierte mal
Mitte der Nullerjahre traf dieses Vorgehen noch auf ganz andere Verhältnisse: Damals war das Parteiensystem der alten Bundesrepublik noch intakt. Die Volksparteien kamen zusammen locker auf 70 Prozent, und die drei- bis viermal kleineren kleinen Parteien durften sich nicht einbilden, jemals mehr als Kellner in einer Koalition sein zu können. Populistische Parteien hatten nur in geografischen Nischen Wahlchancen. Ein Machtmonolith nach Art einer seinerzeitigen Volkspartei konnte es sich leisten, die Programmatik des politischen Gegners ein Stück weit zu kopieren: Ganze Milieus und Bevölkerungsgruppen blieben trotzdem sicher bei der Stange. Das hat es dem „Genossen der Bosse“ Gerhard Schröder, der wirtschaftsliberalen Akzenten oft nicht abhold war, ebenso wie auch Angela Merkel ermöglicht, sich bisweilen gänzlich vom Markenkern der eigenen Partei abzusetzen.
Nur ist das alte Parteiensystem inzwischen ebenso Vergangenheit wie der Stammwähler. In der digital beschleunigten Demokratie verschwimmen die Unterschiede zwischen Kleinen und Großen, Großthemen wie Umfrageergebnisse sind äußerst volatil. Wenn aber fast jede Partei Chancen hat, an der Spitze mitzuspielen und nahezu gleichberechtigt mit den vielen potenziellen Koalitionspartnern zu regieren, nützt es nichts, Inhalte zu kopieren, die scheinbar Konjunktur haben. Schließlich lohnt es sich für jene Wähler, denen ebenjene Themen am Herzen liegen, nicht, einen Abglanz zu wählen, wenn das Original dieselben Aussichten hat, diese politischen Ziele zu verwirklichen. Unter diesen Umständen ist die asymmetrische Demobilisierung nicht mehr jener Erfolgsgarant wie vor eineinhalb Dekaden. Sie hat sich erschöpft und ist inzwischen selbst aus der Zeit gefallen, wie die harte politische Polarisierung und der Umbruch im Parteiensystem beweisen.
Jetzt muss die Union eigene Antworten bereithalten
Eine Union, die Relevanz behalten möchte, wird daher nicht umhinkommen, den Großthemen Ökologie und Migration, welche seit Jahren die politische Agenda dominieren und dies wohl auch in den 20er-Jahren tun werden, mit eigenen Antworten zu begegnen, anstatt sich den politischen Rivalen anzuverwandeln. Aber was tun, wenn eine Partei sich nicht mehr auf die traditionellen Anhänger stützen kann, die auch den sprichwörtlich aufgestellten Besenstiel wählen würden? Wenn sie nicht mehr aufgrund schierer Größe einen Machtanspruch zu erheben und ihre Herausforderer nicht mehr durch Themenklau klein zu halten vermag?
Dann ist sie auf ihren Markenkern und eigene Ideen angewiesen, um Mehrheiten zu mobilisieren. Die politische Methode Angela Merkels, die asymmetrische Demobilisierung, ist folglich einerseits ein beispielloser taktischer Erfolg. Andererseits ist sie Vergangenheit.