Eklat beim Parteitag der Grünen - Eine Lehrstunde in doppelten Standards

Beim Parteitag der Grünen hat die Autorin Carolin Emcke als Gastpredigerin eine direkte Verbindung vom Antisemitismus zu jeder Art von Elitenkritik gezogen. Damit hat sie sich selbst und ihrem politischen Milieu den Opferstatus zugesprochen. Das Ziel: die Grünen unkritisierbar zu machen.

Carolin Emcke / picture alliance
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Autoreninfo

Bernd Stegemann ist Dramaturg und Professor an der Hochschule für Schauspiel (HfS) Ernst Busch. Er ist Autor zahlreicher Bücher. Zuletzt erschienen von ihm das Buch „Die Öffentlichkeit und ihre Feinde“ bei Klett-Cotta und „Identitätspolitik“ bei Matthes & Seitz (2023).

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Wer gehört werden will, muss sich zum Opfer machen. Diesen Ratschlag scheinen immer mehr Menschen zu befolgen. Eine Lehrmeisterin, bei der man die lukrative Bewirtschaftung der Opferposition lernen kann, ist Carolin Emcke. Sie hat zahlreiche Bücher zur Identitätspolitik verfasst, schreibt in der Süddeutschen Zeitung und wurde für ihre moralische Haltung verschiedentlich ausgezeichnet.

Ihr Weltbild lässt sich auf den Kern linksidentitärer Dogmatik zusammenfassen: Es gibt die Guten, zu denen sie selbst gehört, und es gibt die Schlechten, dazu gehören alle, die nicht ihrer Meinung sind. Es wundert darum wenig, dass sie als Gastpredigerin beim Parteitag der Grünen aufgetreten ist. Mit einem so gestrickten Weltbild hat man eine robuste Antwort auf alle Probleme. Denn wenn die Guten kritisiert werden, gilt das nicht als Ausweis einer vielstimmigen Gesellschaft, sondern es gilt als Beweis, dass die Guten in Gefahr sind.

Die Schlechten haben nicht nur eine andere Meinung als die Guten, sondern sie sind auch gefährlich. Der logische Kurzschluss, der dieser Drohkulisse zugrunde liegt, besteht in einem atemberaubenden Zirkel: Wer die Guten kritisiert, muss schlecht sein. Und wer schlecht ist, der ist eine Bedrohung für die Guten. Darum haben die Kritiker der Guten nicht einfach eine andere Meinung, sondern sie sind aufgrund ihrer abweichenden Meinung gefährliche Menschen. Und davor müssen die Guten Angst haben.

Im Gewand des Dieners

Mit dieser Argumentation erringen Carolin Emcke, die Guten und die Grünen seit einigen Jahren immer mehr politische Macht. Das Erfolgsgeheimnis besteht darin, dass sie selbst als gefährdete Opfer erscheinen und zugleich die Diskursmacht besitzen. Damit folgen sie der alten politischen Wahrheit, dass derjenige, der herrschen will, dieses am besten im Gewand des Dieners tut.

Die gegenwärtig erfolgreichste Variante des Dieners ist die Opferrolle, die mit der realen gesellschaftlichen Machtverteilung nichts zu tun haben muss. Denn wer würde ernsthaft glauben, dass eine bekannte Autorin oder eine Parteivorsitzende der Grünen das schwere Schicksal eines Opfers in dieser Gesellschaft erdulden müssen? Der Trick besteht also darin, dass man es auch ohne ausreichenden Grund schafft, in die Opferrolle zu schlüpfen. 

Vom Antisemitismus zur Elitenkritik 

Wie dieser Trick funktioniert, hat Carolin Emcke auf dem Parteitag der Grünen in seltener Offenheit klargemacht. Ihre prophetischen Worte über den kommenden Wahlkampf lauteten: „Es wird sicher wieder von Elite gesprochen werden. Und vermutlich werden es dann nicht die Juden und Kosmopoliten, nicht die Feminist:innen und die Virolog:innen sein, vor denen gewarnt wird, sondern die Klimaforscher:innen.“ 

Der offensichtliche Skandal dieser Aufzählung liegt darin, dass hier eine direkte Verbindung vom Antisemitismus zu jeder Art von Elitenkritik gezogen wird. So wird der Unterschied eingeebnet, der zwischen dem mörderischen Antisemitismus und einer Kritik an Feministen, Virologen und Klimaforschern beiderlei Geschlechts liegt. Doch das ist nur die oberflächliche Seite des Skandals. Das eigentliche Problem dieser Aussage liegt auf einer anderen Ebene.

Als vor einigen Monaten eine unbekannte Frau, die als „Jana aus Kassel“ auf einer Querdenker-Demonstration auftrat, sich selbst mit Sophie Scholl verglich, schwappten die Empörungswellen hoch. Der unbedarfte Vergleich einer Frau, die das öffentliche Sprechen nicht gewohnt ist, reichte aus, um sie zur Gefahr für die Nation zu machen, vor der sogar der Außenminister warnte.

Eine wohlkalkulierte Aussage

Nun vergleicht Carolin Emcke die Kritik an Klimaforschern mit dem Antisemitismus. Da sie aber alles andere als unbedarft im Reden ist und unablässig betont, wie sorgsam sie ihre Worte abwägt, handelt es sich nicht um eine unbedachte Formulierung. Ihre Verbindungslinie vom mörderischen Antisemitismus zur aktuellen Kritik an Wissenschaftlern ist also keine Ungenauigkeit, sondern eine wohlkalkulierte Aussage. Was will sie damit erreichen? 

Die Antwort ist interessant, da sie ins Herz der Grünen Partei und ihrer linksidentitären Ideologie trifft. Deren Prämisse lautet, dass man selbst zu den Guten und damit zu den Opfern gehört. In ihrer radikalsten Ausprägung identifizieren sich die heutigen Opfer so sehr mit den Opfern des Antisemitismus, dass sie sich selbst in der gleichen gesellschaftlichen Position wähnen. Jana aus Kassel identifizierte sich mit einer Widerstandskämpferin, das ist verboten. Die Guten von heute identifizieren sich mit den Opfern der Nazis, das sollte allen eine Mahnung sein.

Moraleliten und Funktionseliten miteinander vermischt

Was wie eine absurde Übertreibung klingt, funktioniert mit der rhetorischen Volte, dass unterschiedliche Gruppen unter den Begriff der Elite gefasst werden, um dann diesen Eliten-Begriff mit der Verfolgung und Ermordung der Juden zusammenzubringen. 

Doch an dieser Rhetorik ist vieles falsch. Zuerst wäre zu befragen, welche unterschiedlichen Bedeutungen von Elite hier durcheinander gebracht werden. Es gibt die Funktionseliten, zu denen Klimaforscher und Virologen gehören. Sie werden respektiert, weil ihre Kenntnisse der Allgemeinheit nützen können. Damit vermischt Emcke aber die moralischen Eliten, zu denen sie sich selbst ebenso zählt wie die Feministinnen und die Klimaforscher als Aktivisten. Diese beziehen ihre gehobene gesellschaftliche Stellung aus der Predigt, die sie den „normalen“ Menschen halten.

In der politischen Öffentlichkeit werden aber ausschließlich die Moraleliten kritisiert. Die Arbeit der Virologen oder Klimaforscher wird nur in der wissenschaftlichen Öffentlichkeit kritisiert, denn das ist Teil der wissenschaftlichen Wahrheitsfindung. In der politischen Öffentlichkeit werden nicht die wissenschaftlichen Erkenntnisse kritisiert, sondern die moralisch-politische Agenda, die sich der Wissenschaft bedient, um ihre Meinung durchzusetzen. Es wird also gerade nicht die Funktionselite kritisiert, sondern die Moralelite, zu der Teile der Funktionselite werden, wenn sie ihre wissenschaftliche Stellung gegen die der Moralinstanz vertauschen. 

Der Opfertrick 

Emcke ignoriert diese Unterscheidung für ihre Argumentation. Indem sie Moraleliten und Funktionseliten miteinander vermischt, wird der Begriff so unscharf, dass man damit nun alle meinen kann, die „irgendwie über den Menschen“ stehen und dafür angegriffen werden. Dadurch gelingt ihr das Kunststück, dass alle, die zu der von ihr definierten Elite gehören, verteidigt werden müssen gegen eine ebenso große Bedrohung, wie es der Antisemitismus für die Juden ist. Damit hat sie sich selbst und ihrem politischen Milieu den ultimativen Opferstatus zugesprochen. Und je mehr dieser Opferstatus geglaubt wird, desto mehr entsteht eine politische Öffentlichkeit, in der Kritik am Feminismus oder an der Klimaforschung ebenso mörderisch wirkt wie Antisemitismus. Ist eine solche gefühlte Gleichsetzung einmal durchgesetzt, sind die Grünen unkritisierbar. 

Wer die Reinform dieser Methode erleben möchte, findet sie bei den neuen Parteimitgliedern, die von „Fridays for Future“ zu den Grünen gewandert sind. Die eigene Überzeugung soll keine Entscheidung in einem Raum von Möglichkeiten sein, sondern sie ist ein Dogma, das mit dem Absolutheitsanspruch der Wissenschaft und der eigenen Opferposition auftritt. 

Politische Emotionen als Erfolgsrezept 

Nach drei Jahrhunderten Aufklärung könnte man wissen, dass die Wissenschaft gerade keine absoluten Wahrheiten produziert, sondern dass ihr Wahrheitsbegriff das genaue Gegenteil der religiösen Glaubenswahrheit ist. Ebenso könnte man wissen, dass die Opferposition keinen privilegierten Zugang zur Wahrheit hat. Darum wurden Gerichte erfunden, in denen eine neutrale Instanz entscheidet und nicht die Opfer ihre Rache befriedigen dürfen. Beide Einsichten der Aufklärung werden mit dem Furor des selbstgerechten Zorns abgeräumt. 

Wenn man sich fragt, warum die Grünen sich einerseits über wachsenden Zuspruch erfreuen, und andererseits die Partei sind, die bei nicht wenigen Menschen eine Antipathie auslöst, so liegt die Ursache in dieser politischen Emotionalität. Politische Emotionen sind die Basis, auf der Parteien und Wähler zusammenfinden oder sich ablehnen. 

Die alten sozialdemokratischen Parteien hatten ihre emotionale Basis in einer Arbeitserfahrung, in der Zuverlässigkeit, Solidarität und Fairness wichtig und in denen Ausbeutung und Ungerechtigkeit an der Tagesordnung waren. Eine Partei, die diese Gefühle ansprach und gegen die Ungerechtigkeiten einschritt, wurde gewählt.

Aus Politik wird moralische Bevormundung

Das emotionale Grundgerüst grüner Politik besteht hingegen aus der Empörung und dem Selbstbewusstsein, dass sich die Welt dem eigenen Gefühl nicht verweigern darf. Diese politische Emotionalität erklärt, warum die Grünen für die Mehrheit der Menschen noch immer als Verbotspartei erscheinen. Wenn sie eine Erhöhung des Spritpreises fordern, so unterscheidet sich diese Forderung auf der sachlichen Ebene kaum von der anderer Parteien. Der große Unterschied liegt hingegen in der emotionalen Wucht, mit der sie verlangt wird. Es scheint dann nicht um 16 Cent zu gehen, sondern es wirkt wie eine Strafe für Autofahrer. Aus Politik wird so wieder moralische Bevormundung.

Damit wird der Stand der Aufklärung, in dem der zwanglose Zwang des besseren Arguments galt, verlassen und es beginnt die große Regression der doppelten Standards. Jana aus Kassel soll Objekt des Abscheus sein, Emckes Eingemeindung von Feministinnen und Klimaforschern in das Leid der Juden gilt für Katrin Göring-Eckardt hingegen als „eine große Rede für Aufklärung“. 

Wie machtvoll die doppelten Standards inzwischen sind, wird der Wahlkampf zeigen. Katrin Göring-Eckhardt hat bereits einen Vorgeschmack gegeben, wie aggressiv sie die doppelten Standards der Identitätspolitik ins Feld führen will. Sie hat sich jede Kritik an Annalena Baerbocks geschöntem Lebenslauf verbeten, da es sich bei Frau Baerbock schließlich um die einzige Kandidatin für das Kanzleramt handelt.

Logik des Kampfes

Wenn den Guten alles verziehen werden muss und den Schlechten nichts mehr nachgesehen werden darf, befindet man sich in der Logik des Kampfes. Die Durchsetzung der doppelten Standards vertieft die Gräben in der Gesellschaft, da für die unterschiedlichen Parteien nun auch unterschiedliche Maßstäbe gelten sollen. Ein beliebiger Blick in die meisten Zeitungen oder den öffentlich rechtlichen Rundfunk ist eine Lehrstunde in doppelten Standards. 

Um zu ermessen, wie selbstverständlich sie angewendet werden, muss man sich nur vorstellen, die Emckesche Aussage wäre von einem umstrittenen Denker wie beispielsweise Richard-David Precht auf einem Parteitag der CDU oder gar der AfD getätigt worden. Der Aufschrei der Medien wäre gewaltig gewesen. 

Ob die Fehler der Grünen überhaupt noch in den Medien benannt werden, wird der Wahlkampf zeigen. Bis hierher sind sie mit der Strategie aus Empörung und moralischer Unangreifbarkeit weit gekommen. Doch der berühmte Systemtheoretiker Niklas Luhmann bemerkte einst dazu: Wer in der Politik durch seinen moralischen Hochmut steigt, wird durch ein moralisches Vergehen wieder fallen. Denn niemand ist perfekt. Annalena Baerbocks geschönter Lebenslauf hat eine erste Ahnung von dem Fall gegeben.

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