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Büsingen - Wenn die Schweiz den Bundestag wählt

Er ist der exotischste Wahlbezirk der Bundesrepublik. Denn er liegt nicht in Deutschland: Die Exklave Büsingen am Hochrhein in der Schweiz. Eine Spurensuche zwischen Eidgenossen, Bundesbürgern und Wahlurnen

Autoreninfo

Vinzenz Greiner hat Slawistik und Politikwissenschaften in Passau und Bratislava studiert und danach bei Cicero volontiert. 2013 ist sein Buch „Politische Kultur: Tschechien und Slowakei im Vergleich“ im Münchener AVM-Verlag erschienen.

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Über die Felder und Wälder weht eine spätsommerliche Brise. Behäbig zieht der Rhein an Häuschen vorbei, die es sich an seinem Ufer bequem gemacht haben. Fachwerkgebäude, Äcker, stille Sträßchen. Büsingen am Hochrhein ist kein Ort, der auf den ersten Blick außergewöhnlich erscheint. Dabei erschließt sich die Exotik dieses Dorfes im Schweizer Kanton Schaffhausen bereits am Ortseingang. Der Wind streicht dort nicht nur über eine blau-weiße Fahne, auf welcher eine lilafarbene Weinrebe prangt. Gleich drei Fahnen wehen dort. Rechts neben dem Dorfwappen flattert an einem Mast die Schweizer Flagge. Links bläht sich schwarz-rot-golden die deutsche auf.

Im Ort hängen überall Wahlplakate. SPD und CDU, Grüne und FDP werben um Wähler. Am 22. September dürfen die Bewohner des kleinen Dorfes in der Schweiz den deutschen Bundestag mitwählen. Die Enklave Büsingen ist ein Unikat, ein Relikt. Und um zu erklären, warum dies so ist, muss man in der Geschichte weit zurückblicken, bis ins Jahr 1699.

Büsingen - das „ewige Ärgernis" Schaffhausens


Habsburger Truppen vor Schaffhausen. Seit sechs Jahren schmachtet hier ein österreichischer Statthalter im Verließ: Eberhard Im Thurm, Vogt des Dorfes Büsingen, das an die Schweizer Stadt grenzt. Schaffhausen lenkt schließlich ein, Im Thurm kommt frei. Büsingen aber soll „zum ewigen Ärgernis“ Schaffhausens österreichisch bleiben. Auch als Habsburg Jahre später die umliegenden Gebiete ans eidgenössische Zürich verkauft. Büsingen am Hochrhein wird so zu einer österreichischen Exklave in der Schweiz. Im Preßburger Frieden 1805 geht diese schließlich in die Besitzungen des Königreichs Württemberg über.

Zwei Jahrhunderte später gehört die fast acht Quadratkilometer große Enklave staatsrechtlich zu Deutschland, sie ist aber Teil des Schweizer Zoll- und damit Wirtschaftsraumes. Die Büsinger sind Deutsche wider Willen. Viele Male hatte die Gemeinde, die heute 1400 Seelen zählt, versucht, auch politisch Teil der Schweiz zu werden. Bereits 1918 forderten in einer Volksabstimmung 96 Prozent der Dorfbewohner die gänzliche Zugehörigkeit zur Schweiz – allein ein passendes Austauschgebiet wurde nicht gefunden. 1924 drohten die Dorfbewohner erfolglos mit Gewalt. Einem Vorstoß ein Jahr später entgegnete das badische Innenministerium, dass Büsingens „Bestrebungen auf Loslösung […] vom deutschen Reich aussichtslos“ seien. Zuletzt bestätigte das Landratsamt Konstanz diese Haltung. 1956 legte es in Verhandlungen mit der Schweiz über die Eingliederung Büsingens sein Veto ein.

Wie bei Asterix und Obelix


Die rechtliche Hybris des Dorfes mit zwei Postleitzahlen schreibt seit 1964 ein Staatsvertrag fest. Teile des Gesundheitswesens, Zoll und Landwirtschaft unterliegen eidgenössischem Recht – ansonsten gelten deutsche Gesetze. So haben am örtlichen Badestrand deutsche und nicht schweizer Beamte Wasserproben zu entnehmen. Offizielle Währung ist der Euro. Deutsche Polizisten kontrollieren, ob die Gesetze eingehalten werden. Bewaffnete Schweizer Kollegen in Uniform dürfen sich maximal zu zehnt in Büsingen aufhalten.

Markus Möll ist als Bürgermeister der Herr über das Grundgesetz des Ortes. Gibt es neue Gesetze aus dem Bundesland Baden-Württemberg, Berlin oder eine neue Richtlinie aus Brüssel, durchforstet er die 24 Seiten des Staatsvertrags; schaut nach, ob nicht stattdessen doch Schaffhauser oder Schweizer Recht gelten muss. So betrifft beispielsweise die novellierte EU-Verordnung zu Trinkwasser alle 28 Mitgliedsstaaten; aber nicht das, was in Büsinger Rohren fließt. Das bundesdeutsche Erneuerbare-Energien-Gesetz (EEG) greift nicht, obwohl in der Wirtschaft meist eidgenössische Normen gelten.

Manchmal, sagt Bürgermeister Möll, fühle er sich in Büsingen wie bei Asterix und Obelix, wo ganz Gallien von den Römern besetzt ist – bis eben auf ein kleines Dorf.

„Politik und Wirtschaft lassen sich aber nicht trennen“, sagt Möll. Die Lage ist undurchsichtig – der Christdemokrat nennt das „schwierig aber spannend“. Die Banken seien sich unsicher, welche Gesetze greifen. Die meisten haben ihre Filiale in Büsingen deshalb geschlossen. Geht es um Geld, sind die Büsinger durch den Staatsvertrag zudem doppelt bestraft: Die Lebenshaltungskosten haben Schweizer Niveau, die Steuern deutsches.

Hinzu kommt, dass die Büsinger ihre Steuern in Euro zahlen müssen obwohl 99 Prozent von ihnen in der Schweiz arbeiten und von ihren Arbeitgebern in Schweizer Franken bezahlt werden. Das hat Folgen: Verliert der Franken gegenüber dem Euro an Wert, schießt das Euro-Einkommen in die Höhe und damit auch die zu zahlende Einkommenssteuer, die in der Bundesrepublik zudem progressiv ist. Netto verdienen die Einwohner Büsingens bei gleicher Arbeit weniger Geld. Eurokrise im Mikrokosmos.

„Spitzenpolitiker kommen selten hierher“


Daraus entsteht eine demographische Schieflage: Die Jungen ziehen ins drei Kilometer entfernte Schaffhausen, wo sie weniger Steuern zahlen. Die älteren Schweizer hingegen wandern nach Büsingen aus. Denn hier werden, wie im Rest Deutschlands, Einkünfte aus Renten erst ab 2040 zu 100 Prozent als Einkommen versteuert. In der Schweiz werden sie das schon heute. Büsingen ist jetzt die zweitälteste Gemeinde Baden-Württembergs. Ein Drittel der Bewohner haben mittlerweile einen Schweizer Pass.

Die beiden anderen Drittel dürfen am am 22. September an der Bundestagswahl teilnehmen. Seit Wochen lächeln Politiker wie Nese Erikli den Büsingern von Wahlplakaten entgegen. Persönlich ist Erikli Anfang September das erste Mal in dem Ort. Die grüne Direktkandidatin für den Wahlkreis Konstanz, zu dem Büsingen gehört, hat zwei studentische Wahlkämpfer dabei, die grüne T-Shirts mit dem Aufdruck „Born to be green“ tragen. Die türkischstämmige Erikli steht mit Gummibärchentüten und grünen Flyern vor dem Dorfladen. Pechschwarzes Haar vor süddeutschen Häuschen.

Wenn dann einmal jemand vorbeikommt, schaltet die 32-Jährige sofort auf Wahlkampf: Sie erhöht die Frequenz schwäbischer Zischlaute, lächelt und erkundigt sich nach Problemen. Ein alte Frau mit Runzeln im Gesicht antwortet auf Schwyzerdütsch, dass es den älteren Menschen hier eigentlich gut gehe – denn die meisten bekämen ja eine Schweizer Rente. Dann kommt länger niemand. „Es ist das erste Mal, dass es so wenig zu tun gibt“, sagt Erikli und lächelt gequält.

„Spitzenpolitiker kommen selten hierher, denn viele Stimmen fängt man hier nicht“, lacht Günter Eiglsperger aus seinem weißen Bart heraus. Der 74-Jährige sitzt im Trainingsanzug am Terrassentisch. Vor ihm das Buch „900 Jahre Büsingen“, an dem er maßgeblich mitgewirkt hat. Der Rauch seiner Zigarette zieht an seinen eisblauen Augen vorbei, die zwischen den Falten des freundlichen Gesichtes sitzen. Seit 1971 wohnt er in Büsingen, hier war er 20 Jahre lang Gemeinderat: In dem Dorf, um dessen knapp 830 Wahlberechtigte die Parteien buhlen.

Die CDU dominiert, die Wahlbeteiligung ist niedrig


Nicht alle Spitzenkandidaten gehen vor Ort auf Stimmenfang. Die SPD beispielsweise ist nur an Laternenpfählen präsent. Als Partei links der Mitte kann sie hier nicht auf viele Wähler hoffen. „Es ist ein sehr konservatives Dorf“, sagt der Chronist Eiglsperger. Die CDU ist hier eine Macht. Seit 1968 dominiert sie in Büsingen die Landtagswahlen. Der CDU-Direktkandidat für den Bundestag, Andreas Jung, bekam 2005 und 2009 je die Hälfte aller Büsinger Erststimmen. Wahlbegeistert sind die Büsinger indes nicht. Die Wahlbeteiligung ist niedrig.

Die Gemeinderätin Ursula Barner sagt, die Büsinger fühlten „sich von Deutschland im Stich gelassen“ und gingen daher nicht wählen. Man sei einfach nicht wichtig. Die Büsinger bezeichnen ihren Ort als „Fliegendreck“ auf der deutschen Landkarte. Der Chronist Eiglsperger vermutet dagegen anderes: Die Alteingesessenen Büsinger seien schweizerisch sozialisiert. Sie seien „Schweizer im Herzen“, sagt er. „Vielleicht wählen deshalb hier nicht so viele.“

Auch die „hergloffenen“ Deutschen werden stärker von der Schweiz und deren Alltag geprägt als vom deutschen Mutterland. Die meisten haben hier Franken im Portemonnaie, auf der Straße hört man Schaffhauser Dialekt. Im Dorfladen steht die Schweizer „National-Limo“ Rivella im Regal, vor dem Häuschen ein Kasten, aus dem die Büsinger nicht die Bild am Sonntag, sondern den Sonntagsblick ziehen können. Büsingen ist und bleibt aber eine Zwischenwelt. „Wir sind weder Fisch noch Vogel“, sagt Eiglsperger.

Letztendlich sind die Büsinger stolz auf ihre Einzigartigkeit. Deshalb steht vor dem Rathaus auch keine Fisch- oder Vogelskulptur. Sondern ein Fischvogel – aus buntem Holz und Metall, der ein wenig aussieht wie ein etwas zu großes, havariertes Spielzeugflugzeug. Ein Restaurantbesitzer hat einen kreativen Umgang mit der Exklavensituation gefunden: Die Grenzlinie hat er mit weißen dicken Farbstrichen quer durch den Biergarten gezogen.

Das Büsinger Interesse an Schwarz-Gelb


Doch draufzahlen wollen die Büsinger für ihre Einzigartigkeit dann doch nicht. Damit die Grenze nicht mehr über das Netto am Monatsende bestimmt, kämpft das Dorf mit einer Initiative für eine Angleichung der Einkommensteuer an Schaffhauser Niveau – die meisten Steuern in der Schweiz werden kantonal festgelegt. Die Büsinger sind dafür bereits bis nach Berlin gegangen. Gemeinsam mit dem CDU-Wahlkreisabgeordenten Andreas Jung sind die Büsinger im Frühsommer im Finanzministerium vorstellig geworden. Konkretes ist noch nicht passiert.

Der CDU-Abgeordnete ist Bindeglied zu den Entscheidern, die vielleicht einmal die Steuern angleichen könnten. „Eigentlich kann es nur über Herrn Jung laufen“, sagt Barners Gemeinderatskollegin Ursula Leutenegger. Wenn am 22. September ein anderer Direktkandidat für den Kreis Konstanz in den Bundestag einzöge, müssten man Wissen und Beziehungen dagegen wieder neu aufbauen.

Die „Fischvögel“ haben – unabhängig davon, ob sie sich links, rechts, liberal oder grün fühlen – ein höchst vitales Interesse an einem Herrn Andreas Jung in Berlin als kompetentem Ansprechpartner. Und daran, dass ihnen keine weitere Steuerbelastungen aufgebürdet werden. Nur kann das Dorf auf die Wahl und damit seine Zukunft kaum einwirken. Die 830 Wahlberechtigten werden die Wahl im fernen Berlin nicht entscheiden. Viel mehr als Hoffnung bleibt den Büsingern also nicht.

Viele haben sie offenbar schon aufgegeben und werden der Wahl am 22. September wie auch bei den beiden letzten Bundestagswahlen deshalb fern bleiben.

 

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