Dieses Bild ist leider nicht mehr verfügbar
picture alliance

Aus für G8? - Die unbedachte Rückkehr zum alten Abitur

Niedersachsen kehrt zum Abitur nach neun Jahren zurück. Der Salto rückwärts wird die vermurkste Reform des Gymnasiums nicht heilen, sondern verschlimmbessern

Autoreninfo

Christian Füller arbeitet als Fachjournalist für Bildung und Lernen im digitalen Zeitalter. Zuletzt erschien sein Buch "Die Revolution missbraucht ihre Kinder: Sexuelle Gewalt in deutschen Protestbewegungen". Er bloggt unter pisa-versteher.com. Foto: Michael Gabel

So erreichen Sie Christian Füller:

Jetzt also alle wieder zurück auf Los. Die Abiturienten der jetzigen fünften und sechsten Klassen in Niedersachsen werden die Hochschulreife wieder nach neun Jahren ablegen. Das rot-grün regierte Bundesland zieht sich damit als erstes komplett aus dem so genannten Turboabitur zurück, der Verkürzung der Gymnasialzeit auf acht Jahre, kurz G8. Hannover erhofft sich, so den Stress für jene Schüler zu verringern, die nach acht Jahren das Abitur ablegen. Außerdem soll den wütenden Protesten der Eltern Rechnung getragen werden. Im Schuljahr 2015/16 soll die Abiturreform wieder zurückgedreht sein.

Unbedachte Rückabwicklung
 

Wirklich? Glaubt die niedersächsische Landesregierung, eine Reform ausknipsen zu können wie eine grelle Lampe? Das Gegenteil ist der Fall. Die vermeintlich simple Rückabwicklung ist mindestens so unbedacht wie die überstürzte Einführung des schnellen Abiturs. Sie kommt obendrein in einem Moment, da die meisten Gymnasien längst eine Beruhigung der Lage verzeichnen. Jüngst haben Wissenschaftler die Abiturreform untersucht. Ergebnis: Weder sind die Noten im achtjährigen Gymnasium (G8) schlechter als im neunjährigen (G9) noch fühlen sich die Schüler besonders gestresst. Warum auch? In den ostdeutschen Bundesländern gibt es die Hochschulreife nach der 12. Klasse schon ewig – und dort regt sich niemand auf.

Es ist richtig, dass die Beschleunigung des Abiturs für die Gymnasien einst ein Tort war. Dem Ministerpräsidenten Edmund Stoiber war um die Jahrtausendwende eine Idee gekommen, und seine arme Kultusministerin hatte quasi über Nacht ein Schuljahr an den Gymnasien einsparen müssen. Die anderen Bundesländer schlossen sich an. Aber der Schule fiel diese Reform zunächst schwer. Die Kultusminister hatten sich mehr schlecht als recht beteiligt. Wahrscheinlich weil sie beleidigt waren, dass nicht sie auf die Idee des G8 gekommen waren, sondern es eine Reform von oben war, ein Ministerpräsidenten-Ukas. Heraus kam eine Quetschung des Gymnasiums, aber keine sinnvolle Verkürzung der Abiturzeit. In den Lehrplänen, welchen die Pennäler zu folgen hatten, war der Abiturstoff zunächst gar nicht verringert worden. So ächzten die ersten Turbo-Abiturienten unter der Stoffmenge. Masse mal Geschwindigkeit, das ergibt schon in der Physik große Energie. In der Schulpolitik war es nicht anders – allerdings mit zeitlicher Verzögerung in der Öffentlichkeit.

Wohlfeiles G8-Bashing
 

Und so war ein interessanter Effekt zu beobachten. Während sich in den Gymnasien die Aufregung bald wieder legte, gab es rund um die wichtigste Lehranstalt der Deutschen anschwellendes Flügelschlagen. Zuerst regten sich die Eltern auf – als sie endlich merkten, wie sehr ihre Töchter und Söhne ins Schwitzen kamen; und dass plötzlich zwei Abiturjahrgänge jene Unis verstopften, in die sie ihre Kinder schicken wollten. Also schlugen die Eltern und ihre Verbände Alarm, verspätet, aber umso lauter. Und das Feuilleton erst. Dröhnende Essays waren auf den Kulturseiten zu lesen. Welch` schlimme Gewalt man dem Gymnasium angetan hätte! Wie grausam das heilige Abitur den beiden neoliberalen Götzen unterworfen worden sei, der Beschleunigung und der Ökonomisierung! Die Kritik aus dem Feuilleton hörte sich eigentlich ganz gut an – nur mit dem Turbo-Abitur hatte sie nicht mehr viel zu tun. Die Kultusminister hatten inzwischen die Lehrpläne durchlüftet, fleißige Studienräte das G8 gewissermaßen ins Gymnasium hineinorganisiert. Durch den – historisch zufälligen – parallelen Ausbau von Ganztagsschulen konnte der ärgste Druck gewissermaßen über den Tag verteilt werden.

Am achtjährigen Gymnasium wird immer noch - berechtigte - Kritik geübt. Gerade die pädagogische Umstellung von Stoffhuberei auf exemplarisches und individuelles Lernen ist sicher nicht vollendet. Aber eine völlige Abkehr vom G8 wollen eigentlich nur ganz wenige. Die Präsidentin der Kultusministerkonferenz, Sylvia Löhrmann, ist sogar strikt dagegen, ja sie ist richtig sauer. „Wir können nicht alle paar Jahre das ganze System auf den Kopf stellen“, sagt die grüne Schulministerin von Nordrhein-Westfalen. Und plädiert für fortlaufende Verbesserung.

Rollback als späte Rache gegen Wulff
 

Warum also der abrupte Rollback aus der Reform heraus? Dafür gibt es zwei Ursachen. Erstens: Rache. Speziell in Niedersachsen ist die Ausrottung des G8 eine späte Antwort auf Christian Wulff. Er hatte als Ministerpräsident eine böse Attacke auf die Gesamtschulen des Landes zu verantworten – indem er ihnen einst das achtjährige Abitur regelrecht aufgezwungen hatte. Das haben in Niedersachsen die GEW und Rot-Grün nicht vergessen und zahlen es nun heim. Zweitens: Populismus. Der Salto rückwärts aus dem G8 heraus ist ein PR-Projekt von denen da oben für die da unten. Federführend sind erneut die Ministerpräsidenten. Sie trauen ihren Kultusfritzen nicht und wollen die von den Post-Pisa-Reformen geschädigte Elternschaft besänftigen.

Aber Hü-Hott gehört auf den Reitplatz, und Zick-Zack ist vielleicht eine Tugend des Slalomfahrens. Für die Schulpolitik taugt beides sicher nicht. Auch die Zurück-Reform wird erneut Jahre dauern, vollständig beendet wäre sie frühestens im Jahr 2021. Am Ende wird man also gute 20 Jahre Hin und Her am Gymnasium beklagen, die pädagogisch sinnlos waren. Die zerklüftete deutsche Schullandschaft wird noch unübersichtlicher. Und das Gymnasium wird eine Reformruine sein. Das ist wahrscheinlich das schlimmste, denn das Gymnasium ist des Bildungsbürgers liebstes Kind.

Der Rückfall ist deswegen so ärgerlich, weil mit G8 und G9 an sich eine kluge und nachhaltige Reform möglich ist – wenn man die beiden Abitur-Geschwindigkeiten schlau verteilt. Das G8 gehört an die Gymnasien und das G9 an die Gesamtschulen. Berlin ist ein gutes Beispiel dafür. Dort kommt das Gymnasium gut mit dem G8 zurecht. Und dort spült die Reform gleichzeitig Bildungsbürgerkinder in die Gesamtschulen, wo es das Abitur ebenfalls gibt – nur eben ein bisschen gemütlicher. So sieht eine clevere Handhabung des Abiturs aus, die den Schulstreit befriedet und pädagogische Feinarbeit ermöglicht. Berlin könnte ein Vorbild für die ganze Bildungsrepublik sein. Das Modell Niedersachsen ist es sicher nicht.     

 

 

 

Bei älteren Beiträgen wie diesem wird die Kommentarfunktion automatisch geschlossen. Wir bedanken uns für Ihr Verständnis.