
- „Wie soll man einen Israeli denn erkennen ohne sein Käppchen?“
Kolumne: Brief aus Tel Aviv. Knapp die Hälfte der jüdischen Bevölkerung in Israel ist säkular, jeder Fünfte glaubt nicht an Gott. Trotzdem gibt es kaum einen Fernsehbericht, in dem nicht früher oder später ein Ultraorthodoxer durchs Bild läuft. Wieso machen die Deutschen das Land „heiliger“, als es ist?
Einer der vielen Vorteile, wenn man in Israel lebt, ist, dass man im Laufe der Jahre unzählige Deutsche wiedersieht, die mal eben für einen Besuch vorbeikommen, was sie, wenn ich in Schwäbisch Gmünd oder Bremerhaven oder, wie es sich für eine Schriftstellerin eigentlich gehört, auf dem Steckdosen-nächstgelegenen Platz eines Berliner Cafés leben würde, wahrscheinlich eher nicht täten. Auch diese Woche ist mal wieder ein alter Bekannter da. Wir schlendern durch Tel Aviv, die Sonne dreht für Anfang November noch mal so richtig auf, als sein Blick plötzlich an einer Häuserzeile hängen bleibt, in die sich, fast versteckt hinter ein paar Büschen, eine winzig kleine Synagoge quetscht.
Der Bekannte bleibt stehen, linst verstohlen ins Innere. Ob er da wohl mal reindürfe. Ich sehe von seinen Flip Flops zu den kurzen Hosen, zu den nackten Armen, an denen noch der halbe Strand klebt. In dem Aufzug sei das vielleicht keine so gute Idee, sage ich. Überhaupt seien Synagogen in Israel jetzt nicht unbedingt mit deutschen Kirchen zu vergleichen, die man einfach so besichtigen gehe; meistens sei es besser, man lasse sich von jemandem mitnehmen, der sich ein wenig auskenne.
„Hm, ja, verstehe“, sagt der Bekannte, „würde denn vielleicht dein Freund mit mir hingehen?“ Nein, das sei jetzt mal wirklich keine gute Idee, antworte ich und beginne zu lachen, vielleicht ein wenig zu heftig, zumindest schaut der Bekannte auf einmal so befremdet, dass ich schnell hinterher schiebe, dass mein Freund Atheist sei, und zwar ein ziemlich leidenschaftlicher, dass er ein massives Problem mit dem Einfluss der Orthodoxie auf den Staat habe, ihre politischen Vertreter für durch und durch korrupt halte, dass die Chance, gerade ihn in eine Synagoge zu kriegen, wohl so ziemlich bei null läge.
Was macht einen Juden zum Juden?
„Aber ich dachte, er sei Jude?“, sagt der Bekannte verwirrt. „Ist er ja auch“, antworte ich, „aber eben nicht religiös.“ Der Bekannte runzelt die Stirn, schüttelt energisch den Kopf. „Aber das ist doch ein Widerspruch in sich!“
Ich hole tief Luft, ein wenig genervt, denn einer der Nachteile, wenn man in Israel lebt, ist, dass die Gespräche mit Deutschen sich oft ziemlich ähneln, dass man gelegentlich vergisst, dass sie nicht „die Deutschen“ sind, sondern alles Einzelpersonen, sie auch für die Aussagen der vorherigen Besucher und der deutschen Medien und im Grunde für ganz Deutschland in Haft nimmt.
Nein, das sei kein Widerspruch, erkläre ich so geduldig wie möglich. Vielmehr sei die Frage, was einen Juden denn jetzt zum Juden mache, eine, auf die es sehr unterschiedliche Antworten gäbe. Für die einen sei es die Zugehörigkeit zu einer Glaubensgemeinschaft, für die anderen zu einer ethnischen Gruppe; wieder andere definierten Jüdisch-Sein vor allem über die Bindung an eine Kultur, an Traditionen, eine gemeinsame Geschichte.
Der Glauben war den Nazis egal
„Eins lässt sich aber mit ziemlicher Sicherheit sagen: Wann immer es im Laufe der Jahrhunderte darum ging, Juden auszugrenzen oder ihnen für irgendwas die Schuld in die Schuhe zu schieben oder sie gleich ganz auszulöschen, war es den Tätern ziemlich schnuppe, wer denn nun gläubig war und wer nicht“, sage ich, wobei mir selbst nicht entgeht, dass mein Ton bedenklich von genervt zu aggressiv umschlägt.
Tatsächlich, rede ich mich in Fahrt, tatsächlich seien die Juden in Deutschland nie so wenig religiös gewesen, wie in der Zeit vor Hitlers Machtergreifung. Dennoch könne ich mich nicht erinnern, dass die Nazis vor den Gaskammern nach einem Glaubensbekenntnis gefragt hätten. Und auch die Hamas habe bisher nicht angeboten, den Raketenbeschuss einzustellen, wenn nur alle Juden zum Islam überträten, kümmere sich herzlich wenig darum, ob bei ihrem „alle Juden ins Meer treiben“-Ziel denn vielleicht auch Säkulare dran glauben müssten – was, ja, ja, zugebenermaßen alles schon ziemlich aggressiv ist, wie gesagt, Ain‘t My First Time At The Rodeo.
Kein Land wie jedes andere
„Aber was hält deinen Freund denn dann überhaupt hier?“, fragt der Bekannte. Was jetzt wiederum ich befremdlich finde. „Naja, die Tatsache, dass das seine Heimat ist? Er hier geboren wurde? Seine Familie und Freunde hier leben? Dass er nun mal Israeli ist?“ Der Bekannte runzelt erneut die Stirn, schaut von der Synagoge zurück zu mir. „Und woran macht sich das fest, wenn nicht am Glauben?“
Meine Güte, woran sich denn sein Deutsch-Sein festmache, will ich rufen. Ob er solche Fragen denn eigentlich auch in anderen Ländern stelle. Aber ich weiß selbst, dass das unfair ist, dass mein Ärger weniger von ihm, als davon herrührt, dass ich es einfach schon so unheimlich oft erlebt habe, dass Deutschen zu Israel nichts anderes als Religion einfällt – was, schon klar, natürlich auch nicht von ungefähr kommt. Ja, Israel ist kein Land wie jedes andere, nicht zuletzt, weil die Meinungen darüber, ob es eher ein Staat für die Juden oder ein jüdischer Staat sein soll, eben auch innerhalb der Bevölkerung sehr weit auseinander liegen.
Die Macht das Rabbinats – und der säkulare Alltag
Ja, Konzessionen, die bei der Gründung vor fast 70 Jahren an die damals kleine Minderheit der Religiösen gemacht wurden, bestehen zum Teil bis heute, geben ihnen zum Beispiel das alleinige Recht, Ehen zu schließen und zu scheiden, oder sorgen dafür, dass am Shabbat, dem für viele einzig freien Tag, um Freunde und Familie zu besuchen, weder öffentliche Busse noch Züge fahren. Ja, ultraorthodoxe Männer verbringen zum Teil ihr halbes Leben mit religiösen Studien ohne einer Erwerbstätigkeit nachzugehen, während ihre sieben, acht, neun Kinder überwiegend von staatlichen Hilfen leben und Schulen besuchen, denen die Regierung erlaubt, selbst zu entscheiden, ob sie Kernfächer wie Mathematik oder Englisch überhaupt unterrichten wollen … wie gesagt, ich lebe selbst mit einem Mann zusammen, der mich schwerlich vergessen lässt, welche Macht das Rabbinat in diesem Land inne hat.
Aber: Er ist mit seiner Kritik daran keineswegs allein. Gegen das Fahrverbot öffentlicher Verkehrsmittel am Shabbat sprechen sich zum Beispiel 63 Prozent der jüdischen Israelis aus. 49 Prozent geben an, nicht religiös zu sein; 20 Prozent sagen, sie glauben nicht an Gott. Die Zahl der Ultraorthodoxen liegt hingegen bei gerade mal 8 Prozent. In der deutschen Wahrnehmung scheinen sie jedoch eine sehr viel prominentere Stellung einzunehmen.
Die Realität des Fernsehens
Kurzes Geplauder aus dem Nähkästchen: In den vergangen Jahren wurde ich mehrfach von deutschen Fernsehteams in Tel Aviv besucht, um zu irgendeinem Thema interviewt zu werden. Falls Sie sowas noch nie gemacht haben: Interviewt werden heißt, man redet fünf Minuten über sein neues Buch; anschließend läuft man fünf Stunden die Straße rauf und runter, guckt nachdenklich in die Sonne, tut so, als würde man spontan irgendwelche Freunde treffen, damit die Fernsehmenschen später etwas haben, was sie unter das über-das-Buch-Reden schneiden können. Meistens verabredete ich mich mit den Teams der Einfachheit halber bei mir zu Hause – in einer Gegend, in der, das jetzt mal nicht statistisch überprüft, sondern rein gefühlt, 99 Prozent der Menschen nicht religiös sind.
Kurzer Einschub, weil sich hier erfahrungsgemäß manchen die Frage stellt, woher ich das denn wissen wolle: Anders als im Christentum, wo man seinen Glauben auch gerne mit sich alleine ausmachen kann, gibt es im Judentum eine Reihe von Kleiderregeln, an deren Einhaltung sich ziemlich gut der Grad der Religiosität ablesen lässt: Frauen mit Perücke oder einem locker ums Haar geschlungenen Tuch; Männer mit schwarzen Hüten oder einer Kippa, deren Größe, Farbe und Material wiederum etwas über die Untergruppe verrät, zu der der Betreffende sich zugehörig fühlt … kurz gesagt, wenn Ihnen jemanden mit Hotpants entgegen kommt, ist die Antwort wahrscheinlich: zu keiner. Einschub Ende.
Meine Gegend ist also ziemlich säkular. Trotzdem war unter all den Beiträgen kein einziger, in dem nicht spätestens nach 30 Sekunden ein rauschebärtiger Mann mit Schläfenlocken durchs Bild lief (und/oder ein Soldat mit Uzi über der Schulter – aber darüber reden wir ein andermal).
Bilder und ihre Wirkung
Anderes Beispiel: Vor einer Weile habe ich einen kleinen Text geschrieben, in dem es unter anderem um Israelis in Berlin ging. Das Thema ist nicht neu, in den vergangenen Jahren ist eine ganze Reihe von Artikeln dazu erschienen. Eins hatten jedoch erstaunlich viele gemeinsam. Das Foto: ein Kippa-bedeckter Hinterkopf vorm Brandenburger Tor. Selbst wenn man davon absieht, was die x-fache Verwendung des immer selben Bildes über die Originalität deutscher Medienmacher aussagt, so ist sie doch vor allem eins: irreführend. Tatsächlich dürfte der Anteil der Religiösen unter den Israelis in Berlin verschwindend gering sein, sind es in überwältigender Mehrheit Säkulare, die es in die deutsche Hauptstadt zieht.
Also schrieb ich vorsorglich der Redaktion eine Mail, in der ich freundlich darum bat, bei der Veröffentlichung doch bitte auf dieses eine Foto zu verzichten – woraufhin mein Artikel, I kid you not, mit einem siebenarmigen Leuchter illustriert wurde.
Ja, aber das müsse ich doch verstehen, erklärte mir die Bildchefin am Telefon. Wenn ich schon keine Männer mit Käppchen wolle, würde der Leser doch überhaupt nicht kapieren, dass es bei dem Text um Israelis gehe. Was mir natürlich einleuchtete. Ich meine, hey, wann hat man Emmanuel Macron schon mal ohne Baskenmütze gesehen? Und was wären die Berichte über Kataloniens Unabhängigkeitsbestrebungen ohne das regelmäßige Einblenden einer Paella?
„Ist ja gut“, sagt der Bekannte, allmählich selbst ein wenig ungeduldig, nachdem er eine leicht abgeschwächte Version des Obenstehenden über sich hat ergehen lassen, „aber was heißt es denn sonst, Israeli zu sein?“
Typisch israelisch
Das ließe sich so nicht beantworten, wehre ich ab, dafür seien „die Israelis“ zu heterogen, man könne nicht das ganze Land über einen Kamm scheren… aber während ich mich noch um Festlegungen winde, merke ich selbst, dass das wiederum ziemlich deutsch ist, dass ein Israeli, Vorsicht: Überleitung!, dass ein Israeli an meiner Stelle nie so lange zögern würde, dass er längst geantwortet hätte, denn wenn eins mal wirklich typisch für einen Israeli ist, dann, dass er keine Angst vor klaren Aussagen hat. Dass er extrem direkt ist, was manchmal taktlos oder kränkend oder auch einfach unverschämt sein kann, aber hie und da auch ziemlich befreiend. Dass er den Pragmatismus der Höflichkeit vorzieht, sei es, weil das moderne Hebräisch nicht mal über halb so viele Worte wie das Deutsche verfügt und große Schnörkel schlicht nicht erlaubt, sei es, weil das Leben hier einem Hochdruckkessel gleicht und für zu viel Romantik gar keine Zeit bleibt.
Wenn eins typisch für Israelis ist, dann dass in jedem Mann ein Macho steckt. Und in jeder Frau auch. Und oft genug auch schon in den Kindern. Dass die sich bisweilen aufführen, als gehöre ihnen die ganze Welt. Und dann doch so herrlich tough und unerschrocken und selbstbewusst sind, dass ich manchmal wünschte, ich hätte meiner Kindergartenjahre hier verbracht.
Streit als Sport
Wenn etwas typisch für Israelis ist, dann dass sie, während der Deutsche sich noch fragt, ob die Idee, die er da neulich hatte, jetzt wirklich sooooo gut ist, einfach schon mal loslegen, was zu irren Erfindungen und Innovationen und ständig neuen Start-up-Gründungen führt. Aber eben auch zu großem Dilettantismus. Dazu, dass man niemals, aber auch wirklich niemals das bekommt, was man eigentlich will, über was sich dann so laut gestritten wird, dass es garantiert die ganze Nachbarschaft mitkriegt.
Wenn etwas typisch für Israelis ist, dann, dass sie nichts so fürchten, wie für dumm verkauft zu werden, dass sie lieber stundenlang weiter debattieren, als dass einer riskieren würde, zu früh aufzugeben, einander beschimpfen, anbrüllen, verwünschen – nur um sich nach Beilegung des Zwists geradezu anerkennend auf die Schulter zu klopfen, wie zwei Tennisspieler, die sich nach dem Match die Hände reichen.
Wenn etwas typisch für Israelis ist, dann dass sie ein großes Talent für Freundschaften haben, sowohl zum Pflegen alter, als auch zum Knüpfen neuer, dass sie es zumindest mir extrem leicht gemacht haben, mich in dieses Land zu verlieben, gerade weil es eines ist, dass sich nicht so leicht definieren lässt.
Aber alternativ können wir uns natürlich auch auf die Liebe zum Hummus einigen.