
- Die Spur führt nach Oxford
Kolumne: Morgens um halb sechs. Als Jugendlicher hat Osama Bin Laden einen Sprachkurs in Oxford absolviert. Dort habe er die Dekadenz der britischen Gesellschaft erkannt, steht in seinem hinterlassenen Tagebuch. Wird der Inbegriff der geistigen Elite zur Geburtsstätte des Terrorismus?
Zwischen der Themse, die vor Ort Isis genannt wird, und dem kleinen munteren Fluss Cherwell liegt eine Stadt, die viele Legenden geschrieben hat und immer noch schreibt. In Oxford wurde und wird nicht nur hochwertig gelehrt, sondern auch erfunden. Lewis Carolls „Alice im Wunderland“, John Ronald Reuel Tolkiens „Hobbit“ stammen aus Oxford und sind mit der Stadt, dem Fluss und den vielen alten Weidenbäumen verbunden. Oxford ist nicht nur eine der ältesten Universitätsstädte der Welt, sondern vor allem eine schöpferische Stadt.
In Oxford trifft sich die sogenannte „Elite“ betuchter Sprösslinge, aus denen später etwas werden soll. Viele Paare lernen sich hier kennen und heiraten mitunter. Oxford kann fürs Leben prägen oder eben lebenslang abschrecken. Wer sich nur in höheren Zirkeln bewegt, hat schnell die Nase voll von all der Hochnäsigkeit. Linderung findet sich in der Natur, den Spazierwegen am Kanal und an der Themse. Wer Menschen ausweichen will, um mit seinen Gedanken allein zu sein, findet in Oxford ausreichend Raum. Doch nicht jeder schafft den Absprung in die eigene phantastische Welt.
Dekadenz und Armut
Osama Bin Ladens Tagebücher erzählen von einem misslungenen Sprachkursaufenthalt in Oxford zwischen 1971 und 1972. Dort, und bei den Sonntagsausflügen zu Shakespeares Geburtsort nach Stratford upon Avon, soll ihm die Dekadenz der britischen Gesellschaft aufgefallen sein. Der Kulturkritiker Matthew Arnold nannte Oxford die Stadt der träumenden Elite, „the city of dreaming spires“. Wenn man nicht ins Träumen flüchtet und im inneren Zirkel bleibt, kann Oxford tatsächlich unerträglich werden.
Die Stadt lebt von einer High Society, in der nicht jeder willkommen ist. In Oxford unterscheidet man „towns“ und „gowns“. Die einfachen Leute, die in der Stadt leben, sind „towns“. „Gowns“ sind die Gelehrten, die wie Fledermäuse aussehen und mit ihren scharfkantigen Hüten und flatternden Umhängen in Harry-Potter-Hallen dinieren.
Gehört man nicht zu den „gowns“, ist man ausgeschlossen. Während die Gelehrten der Universität Unterkunft und Essen bekommen, müssen Normalsterbliche um ihre Existenz in der Stadt hart kämpfen. Die Miet- und Hauspreise sind hoch. Rentner findet man tagsüber in den Museumscafés oder in Blackwell’s Buchladen. Dort ist es vor allem schön warm. Wer sich im Zirkel der Gelehrten aufhält, sieht die Armut in Oxford nicht. Sie fällt einem erst auf, wenn man auf eigene Faust Spaziergänge durch die Stadt unternimmt.
Oxford ist ein Bildungsmonster
Osama Bin Laden war, als er nach Oxford geschickt wurde, ein Teenager. Er hielt sich vermutlich ausschließlich in der Sprachkursgruppe auf. Durch hermetische Abschirmung züchtet sich die „Elite“ auf diese Weise ihre eigenen Gegner. Kulturelle Überzüchtung schürt Aggressionen. Zu hohe Erwartungen ebenfalls: Die Kinder der Gelehrten und Betuchten sacken immer wieder in die Drogenszene ab. Nicht jeder hält den Nobelpreisansprüchen der Eltern stand.
Oxford ist eine Art Bildungsmonster. Die legendäre Bodleian Bibliothek besteht aus insgesamt 30 Bibliotheken und zählt in ihrem Bestand 11 Millionen Bücher. Die Oxford Universität zählt allein 38 Colleges. Mit dem Ashmolean Museum hat Oxford eines der ältesten Museen Englands. Ein uralter Geist herrscht in Oxford, der aus seinem Gerippe immer wieder neue Geister erwachsen lässt. Es mag kein Zufall sein, dass eines der ältesten Dinosauriergerippe der Welt in Oxfordshire gefunden wurde.
Die Stadt ist voller Teenager, aus denen letztendlich Persönlichkeiten werden sollen. Die Liste des Gelingens ist lang: 6 Könige, 5 Staatspräsidenten, 25 Premierminister, 46 Nobelpreisträger, 6 Heilige, 86 Erzbischöfe und 18 Kardinäle waren unter den Universitätsabsolventen. Die Dichter Oscar Wilde, John Donne, T.S. Eliot, W.H. Auden, Aldous Huxley, Seamus Heaney, Salman Rushdie und viele andere waren in Oxford Fellow oder studierten dort. Der Physiker Stephen Hawking wurde in Oxford geboren. Bill Clinton, Richard von Weizsäcker, König Abdullah von Jordanien, Margaret Thatcher, Viktor Orbán – sie alle verbindet eine Zeit in Oxford (nur Orbán brach den Aufenthalt vorzeitig ab). Sie sind durch dieselben Straßen spaziert, in dieselben Kneipen gegangen. Das Pflaster der Stadt ächzt unter den großen Namen. Wie gut, dass auch Mr.-Bean-Darsteller Rowan Aktinson in Oxford studiert hat. Unter Kalifen und Präsidenten, künftigen Erzbischöfen und Nobelpreisträgern kann man sich schließlich nur durch Lachen gesund halten. Oxford nicht als gehasste Eliteschmiede zu begreifen, sondern als menschliche Komödie, ist die eigentliche kulturelle Glanzleistung. Trotz aller Ablehnung der britischen Kultur fand man bei Osama Bin Laden ausgerechnet ein Mr.-Bean-Video. Ob er es gesehen hat, ist fragwürdig.
Hier vermischt sich nichts
Nun hat Oxford also auch einen Topterroristen hervorgebracht. Er reiht sich kurioser Weise in die Liste der Würdenträger ein. Die stärksten Gegner der „Elite“ stammen aus elitären Kreisen und so schließt sich der Kreis einer hermetischen Welt. Eine gesunde Straßenkötermischung fehlt in dieser Stadt. Dabei ist es gerade der Straßenköter, der am wenigsten krank ist. Eine Stippvisite bei den Ärmsten könnte zur fehlenden Note für die Ausbildung der Eliten werden. Das englische Königshaus lebt, seit sich Diana den Armen so warmherzig zuwandte, genau diese Art der Begegnungen vor. Wer dagegen in einer dekadenten Welt bleibt, erlebt die Welt auch als dekadent. Osama Bin Laden hat, als wohlhabender Sohn Saudi Arabiens, diesen Teil der britischen Kultur nicht mitbekommen. Das mag aber auch an Oxford liegen. Hier vermischt sich nichts.
Als gälte es Dämonen zu bekämpfen, zählt die Stadt mit nur 152.000 Einwohnern 102 Kirchen: 30 anglikanische, 12 katholische, 4 evangelische, 6 baptistische, 4 methodistische, 5 reformatorische, 1 ökumenische und 35 andere Glaubensrichtungen. Überall wird gebetet und gesungen. Die Stadt der „dreaming spires“ ist auch die Stadt der vielen Kirchtürme. Ob gerade durch die vielen Kirchen eine Atmosphäre des Bösen entsteht, sei dahingestellt. Wo das Böse beschworen wird, wird es ja auch lebendig gehalten.
Mit Geisteskraft gegen die Schwermut
Das Wetter, das auf das Gemüt drückt, wäre eine angenehmere und logisch nachvollziehbare Erklärungsvariante für die dunklen Gedanken. Der Schriftsteller Robert Burton verfasste hier nicht umsonst seine „Anatomie der Melancholie“. Die Jahrestemperatur der Stadt liegt im Durchschnitt bei 10 Grad Celsius. Es regnet fast jeden Tag, auch im Sommer. Geistige Aktivität ist der beste Ersatz für mangelndes Sonnenlicht.
Das Wappen der Stadt hält die Grundsituation fest: Ein Ochse geht durch eine Furt über das Wasser. Denn nur mit der Geisteskraft eines Ochsen lässt sich die Schwermut überbrücken. Wer dagegen noch jung und labil ist, sieht anstelle der Schwermut nur gefüllte Dinnerhallen mit affektierten Möchtegerns.
Eindrücke fürs Leben
Oxford hinterlässt einen lebenslangen Eindruck. Ich habe dort selbst einmal als Teenager einen Sprachkurs absolviert und die Zeit nie vergessen. Als ich später mein Leben an der Grenze wähnte, fiel mir seltsamerweise Oxford ein. Ich wollte unbedingt noch einmal dorthin. Tagelang bin ich durchs Moor, durch die Gärten, durch Museen und Universitäten gelaufen, mit angeschlagenem Knie und gebrochener Hand, bei strömendem Regen. Manchmal hilft Regen mehr als jeder geschützte Zirkel. Dann will man die Paläste nicht zerstören, sondern schätzt es, wenn es in einem Café schön warm ist.
In die Bodleian Bibliothek kann man allerdings nur gehen, wenn man über eine Erlaubnis verfügt. Und so saß ich dann mit den Rentnern in den für Normalsterbliche zugänglichen Bereichen. Wer im Palast sitzt, mag ihn, der inneren Kälte wegen, zerstören wollen. Wer im Café sitzt, wärmt sich an einer Tasse Tee.