
- Warum die SPD pragmatische Politik statt linken Lifestyle braucht
Das Papier zweier Berliner Abgeordneter und eines von Hamburgs Bürgermeister Olaf Scholz offenbaren: Bei der SPD kann es kein „Weiter so“ geben. Geht sie weiter den Weg der Ideologisierung, droht der Untergang
In Sachsen wird die CDU bei der Bundestagswahl mit 26,9 Prozent nur noch zweitstärkste Kraft hinter der AfD (27 Prozent) – wenig später übernimmt Ministerpräsident Tillich die politische Verantwortung und kündigt seinen Rücktritt an. Ganz anders in Berlin: Dort verliert die SPD bei der Bundestagswahl 6,7 Prozentpunkte, ist mit 17,9 Prozent nur noch drittstärkste Partei hinter der CDU (22,7) sowie hinter der Linkspartei (18,8 Prozent) – und es passiert: nichts. Berlins Oberbürgermeister, der sich ironischerweise mit dem Titel „Regierender“ schmückt, scheint nicht im Entferntesten an Konsequenzen zu denken. Dabei ist Michael Müller nicht nur Vorsitzender der örtlichen SPD; er steht auch noch an der Spitze einer Koalition mit Grünen und Linken, von denen Letztere am 24. September die Sozialdemokraten überflügelt haben. Geht es noch tiefer?
Müller „nicht mehr auf Höhe der Zeit“
Nicht jede politische Krise muss mit aktionistischem Austausch des Spitzenpersonals bekämpft werden. Aber was in der Hauptstadt passiert, das wirkt nicht nur auf Außenstehende fast tragisch. Denn Michael Müller ist tatsächlich der personifizierte Niedergang einer Partei, mit der sich in Berlin Namen wie Ernst Reuter, Willy Brandt oder (weniger glanzvoll, aber immerhin) Klaus Wowereit verbinden. Bei Müller denkt man hingegen eher an zwei verpatze Volksentscheide die Flughäfen Tempelhof und Tegel betreffend sowie an Führungslosigkeit im Amt. Wie die SPD mit diesem Mann an der Spitze die Zukunft in Deutschlands größter Metropole gewinnen kann, ist ein Rätsel, auf das offenbar immer mehr Genossen eine Antwort haben: gar nicht.
Was jetzt zwei jüngere SPD-Abgeordnete im Berliner Landesparlament vorgelegt haben, ist weit mehr als ein Fanal gegen jedes kommunalpolitische „Weiter so“. Vielmehr geht es Dennis Buchner und Sven Kohlmeier um den Bestand ihrer eigenen Partei weit über die Stadtgrenzen hinaus. „Nicht mehr auf der Höhe der Zeit“ lautet der Titel ihrer Denkschrift, mit der sie eher nebenbei und wenig verklausuliert den Rücktritt des Regierenden Bürgermeisters fordern. Mit Bezug auf Bremens SPD-Bürgermeister Jens Böhrnsen, der einst die Landtagswahl mit deutlichem Vorsprung gewonnen, aber wegen des Verlusts von rund fünf Prozentpunkten seinen Hut genommen hatte, schreiben Buchner und Kohlmeier: „Gewählt, aber unterhalb der eigenen Schmerzgrenze geblieben und deswegen Abgang: Heute offenbar nicht mehr üblich. Stattdessen werden nach Wahlniederlagen die Verluste der anderen Parteien genüsslich analysiert, eigene Verluste werden schöngeredet oder verharmlost, alles wird kurz durchgeschüttelt, Posten getauscht, und dann steht die Combo wieder gemeinsam auf der Bühne, um mit hängenden Mundwinkeln weitere Niederlagen entgegen zu nehmen.“
Symbolträchtige Spartenprobleme
Geht es noch deutlicher? Durchaus: „Jede und jeder verdient eine zweite Chance. Aber nicht die dritte und vierte – und erst recht dann nicht, wenn zu viele eigene Fehler gemacht werden. Berlins Bürgermeister Michael Müller ist dafür leider ein gutes Beispiel.“ Was nicht heißt, dass er das einzige Beispiel ist, denn wer das Thesenpapier der beiden Hauptstadt-Genossen liest, kommt am Gedanken nicht vorbei, dass auch andere gemeint sein könnten. Etwa ein SPD-Bundesvorsitzender und soeben gescheiterter Kanzlerkandidat, der jetzt plötzlich die „Systemfrage“ stellt und seine Partei offenbar weiter nach links rücken möchte. Dazu Buchner und Kohlmeier: „Insbesondere in Berlin erleben wir aber auch eine weitgehende Angleichung der Programmatik an Linke und Grüne, die eine Zuweisung von Kompetenzen an die SPD schwierig macht. Nein, es spricht nichts dagegen, in öffentlichen Gebäuden Toiletten einzuführen, die von Menschen jeden Geschlechts genutzt werden können. Warum auch nicht: hat jeder zuhause, gibt es in jedem Zug und jedem Flugzeug. Nein, es spricht nichts dagegen, sexistische Werbung zu verbieten und auch nichts gegen Urban Gardening. Aber müssen diese Themen als die Schlüssel- und Herzensthemen der SPD wahrgenommen werden, wenn Bildung, Mieten und innere Sicherheit die Menschen weit mehr bewegen?“
Der Befund der beiden SPD-Abgeordneten ist klar und eindeutig: Die Misere ihrer eigenen Partei ist dem Aufblasen symbolträchtiger Spartenprobleme geschuldet, welche für die sozialdemokratische Kernklientel bestenfalls bedeutungslos und schlimmstenfalls befremdlich sind. Denn natürlich wissen gerade jene Bürger, die sich Lebensqualität nicht durch den Wegzug aus ihrem Problem-Kiez erkaufen können, wo es wirklich brennt: innere Sicherheit, Kriminalität, versagender Rechtsstaat. „Welche Partei ist eigentlich die Heimat derjenigen, die nicht jeden kleinen Kriminellen sofort in den Kerker werfen beziehungsweise abschieben wollen – und trotzdem am Görlitzer Park in Berlin nicht 19 Mal in einer Viertelstunde von Dealern nach dem aktuellen Bedarf an Suchtmitteln angesprochen werden wollen? Wie glaubwürdig ist die SPD eigentlich in wichtigen Zielgruppen, wenn sie das Themenfeld der klassischen inneren Sicherheit über einen so langen Zeitraum vernachlässigt?“, fragen Buchner und Kohlmeier.
Die SPD hat keine Überlebensgarantie
Es geht den beiden noch um vieles mehr, vor allem aber um die Existenz der Partei. Denn dass die SPD trotz ihrer historischen Verdienste keine Ewigkeitsgarantie hat, ist inzwischen jedem politischen Laien klar. Nur große Teile der sozialdemokratischen Funktionseliten scheinen das anders zu sehen. „Heute kann niemand mehr sicher sein, auch 2050 noch eine starke SPD in Deutschland zu finden, ja nicht einmal auf kürzere Zeiträume scheint dies absehbar“, warnen Dennis Buchner und Sven Kohlmeier: In Spanien, Griechenland oder Portugal seien die sozialdemokratischen Schwesterparteien „von linker Konkurrenz teils marginalisiert worden“. Diese Szenarien vor Augen, empfehlen die beiden Autoren ihrer SPD eine Reform an Haupt und Gliedern – sowohl was die inneren Strukturen betrifft wie auch die inhaltliche Ausrichtung. Kurz gesagt lautet ihre These: Wenn die Partei überleben will, muss sie sich vom hippen Lifestyle-Linkssein verabschieden und eine pragmatische Politik für jene Bürger betreiben, denen der soziale Zusammenhalt genauso wichtig ist wie ein funktionierendes Gemeinwesen und eine gesunde Wirtschaft.
Dass damit mehr Wähler angesprochen werden könnten als jene 20,5 Prozent, die bei der zurückliegenden Bundestagswahl ihr Kreuzchen bei der SPD gemacht haben, weiß übrigens auch noch ein ganz anderer. Olaf Scholz ist sein Name, Hamburgs Erster Bürgermeister und lebender Beweis dafür, dass eine Großstadt unter Führung der SPD durchaus erfolgreich regiert werden kann. Scholz, dem im Gegensatz zu seinem Berliner Kollegen Michael Müller einiges mehr zugetraut wird, hat sich soeben für eine „schonungslose Betrachtung der Lage“ ausgesprochen und kommt zu ganz ähnlichen Ergebnissen wie Buchner und Kohlmeier. Laut einem internen Papier, das heute in der Süddeutschen Zeitung veröffentlicht wurde, plädiert Scholz „für einen pragmatischen Kurs, der ökonomisches Wachstum und soziale Gerechtigkeit verbindet“. Wenn die SPD aus Sicht der Bürger „im höchsten Maße kompetent“ sei, dann könne der kurzzeitige Schulz-Hype tatsächlich zu einem Dauerzustand werden. Nur eben ohne Martin Schulz, möchte man hinzufügen.
Die SPD steht vor einer schwierigen Richtungsentscheidung. Jetzt geht es tatsächlich darum, ob sie überlebensfähig ist oder den Weg der Ideologisierung wählt. Es wäre schade, würde sie letzteres tun. Denn vernünftige Sozialdemokratie ist heute so wichtig wie eh und je.