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Egoismus - Vergesst die Moral - Dreistheit siegt!

Dreiste Menschen, soweit das Auge reicht. Sie sind die Egoisten des 21. Jahrhunderts, die sich mit Ellenbogen in dieser Gesellschaft behaupten. Frech und unverschämt – aber mutig. Ist die Dreistheit die moderne Allzweckwaffe gegen alles und jeden? Und wo ist eigentlich die gute alte Moral geblieben?

Autoreninfo

Sarah Maria Deckert ist freie Journalistin und lebt in Berlin. Sie schreibt u.a. für Cicero, Tagesspiegel und Emma.

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Wir sind umgeben von dreisten Menschen. Sie begegnen uns überall. Wenn sie uns beispielsweise nach einer 30-minütigen Irrfahrt um den Block den anvisierten, letzten freien Parkplatz vor der Nase wegschnappen, obwohl der Blinker bereits gesetzt war. Wenn sie sich an der Kinokasse vordrängeln und später dann im Saal in den unendlichen Weiten ihrer knisternden Chipstüte graben. Oder wenn sie neben uns auf der Parkbank lauthals in ihr, am Ohr festgetackertes Telefon blöken, während man sich selbst auf sein autogenes Training konzentriert.

Dreiste Menschen scheren sich nicht um das Unbehagen anderer. Sie scheuen sich nicht, Dinge zu tun, „welche die Ehrbarkeit und Wohlständigkeit beleidigen“, so erklärt es die Oeconomische Encyclopädie von Johann Georg Krünitz aus dem Jahr 1858. In ihrem Deutschen Wörterbuch beschreiben die Gebrüder Grimm die Dreistheit als „muthige entschlossenheit, sicherheit im benehmen“, aber auch als „anmaszung, unverschämtheit und übermasz an frechheit“. Und Goethe bemerkt derweil in seinem West-östlichen Diwan: „Alles weg, was deinen Lauf stört! / Nur kein düster Streben! / Eh er singt und eh er aufhört, / Muß der Dichter leben.“

Erst kommt das Fressen, dann die Moral, soll das heißen. [[nid:54895]]

Nun scheint es so, als hätte sich die Moral überlebt. Sie ist das künstlich konstruierte Korsett, mit dem einst Friedrich Schiller sein Theater als „moralische Anstalt“ ausstaffierte, das den Menschen läutern, bessern, ja gar erziehen sollte. Seither nimmt uns dieses Korsett jedenfalls die Luft zu atmen, denn sie bringt uns offensichtlich um unseren eigenen Vorteil, so zeigt es später dann ja auch Molière. Dreiste Menschen kommen weiter – vielleicht nicht immer reinen Herzens, aber dafür in Siebenmeilenstiefeln. Und wenn wir ehrlich sind, müssen wir uns vermutlich eingestehen, dass die Weste unseres eigenen Ethos selbst nicht mehr ganz blütenweiß daherkommt. Wir sind längst Teil einer betreten schweigenden Mehrheit geworden, die bei jeder sich bietenden Gelegenheit ihrem Glück selbst auf die Sprünge hilft und dafür den Bogen dessen, was ethisch korrekt oder gesetzlich erlaubt ist, großzügig überspannt.

Das Umgehen der Rundfunkgebühr, systematisches Schwarzfahren, Steuerbetrug oder das Klauen von Material am Arbeitsplatz – ist ja auch alles eher harmlos. Oder etwa doch nicht? Lässt sich ein schlechtes Gewissen tatsächlich so leicht beruhigen, oder wird unsere Gesellschaft zunehmend vom moralischen Verfall zersetzt? Und wenn ja, wie schlimm ist das?

„Die Mehrheit der Gesellschaft hält sich nicht an die Gesetze.“ Zu diesem Ergebnis kommen die beiden Kriminologen Susanne Karstedt und Stephen Farrall in einer Studie, die im „British Journal of Criminology“ veröffentlich wurde. Schuld an den kleinen Betrügereien, die Menschen quer durch alle Schichten weltweit jeden Tag begehen, seien in letzter Konsequenz die ungezügelten Märkte, resümieren sie. Kai Bussmann leitet das Economy & Crime Research Center an der Universität Halle und zeigt sich von diesem Ergebnis nicht wirklich überrascht. Das gesellschaftliche Klima, bestimmt vom wenig ethischen Verhalten vieler Wirtschaftsunternehmen, säge an dem sowieso schon morschen Gerüst unseres Ethos und lege dem Menschen gewissermaßen rücksichtsloses Verhalten erst nahe.

Gigantische Managergehälter, betrügerische Verträge, Tricks im Kleingedruckten – all das befördere den Niedergang der Moral, glaubt Bussmann. Die Wurzel des Übels liege seiner Meinung nach entsprechend in den neoliberalen Reformen. Denn heute müsse sich der Einzelne, so Bussmann, wie ein Unternehmer gebärden. Er muss mehr Entscheidungen übernehmen, die Verantwortung dafür trägt er selbst.

Der selbstbestimmte Mensch folgt heute also blindlings dem Heilsversprechen, jeder sei seines eigenen Glückes Schmied – für sein mögliches Unglück ist er dann jedoch gleichermaßen verantwortlich. Der schwarze Peter lässt sich so nicht mehr einfach einem anderen zuschieben. Am Ende des Tages hat man die Rechnung mit sich selbst gemacht. Und so werden ökonomische Metaphern auf den zwischenmenschlichen Bereich ausgedehnt. Das Zusammenwirken von Misstrauen, Angst und Zynismus bilden schließlich das Syndrom der „Marktonomie“ und fördern dreistes Handeln.

Georg Lind ist Fachmann in Fragen der Moralpsychologie an der Universität Konstanz. Seit mehr als 20 Jahren engagiert er sich für die Entwicklung und den Erhalt der Moral in unserer Gesellschaft. Und im Gegensatz zu Karstedt und Farrall hält er den Zusammenhang zwischen Markt und Moral für konstruiert.

Grund für dreistes Handeln sei seiner Meinung nach die fehlende Moralkompetenz und die hinge weniger mit wirtschaftlichen Prozessen zusammen, als vielmehr mit der Tatsache, dass sich die Menschen zunehmend voneinander isolieren: „Wir haben verlernt miteinander zu sprechen“, sagt Lind. „Bei uns mag es keine Segregation nach Hautfarben geben, dafür aber mehr und mehr nach Schicht und Einkommen.“ Die Absichten des Menschen mögen alle mehr oder weniger gut sein. Aber die Fähigkeit, dementsprechend zu leben und zu handeln, schwinden nach Lind in dem Maße, wie die Kommunikation untereinander schwindet.[[nid:54895]]

Immer mehr einkommensstarke Eltern würden ihre Kinder heute auf Privatschulen schicken, während die Kinder sozial Schwächerer dann für sich blieben, erklärt Lind. So würden Biographien schon in frühen Jahren aufgetrennt, was dazu führe, dass bestimmte Gesellschaftsschichten „wie im Ghetto aufwachsen“. Und diese Form der Segregation hemmt die Entwicklung der Moralkompetenz.

Dass viele Menschen abseits der Moral handeln, ist ihnen jedoch oftmals gar nicht bewusst. Lind bezeichnet das als pluralistische Ignoranz: „Der Mensch denkt von sich selbst, er handle moralisch einwandfrei, gleichzeitig glaubt er aber, damit sei er der einzige. Daraus leitet sich dann für ihn die Entschuldigung ab, es mit der Moral selbst nicht mehr so genau zu nehmen.“ Wenn alle ihre Ellenbogen ausfahren, wäre es ja blöd (so predigt es seit Jahren ein bekannter Technikkonzern), man bliebe der einzige, der blaue Flecken kassiere.

Doch Moral lässt sich trainieren. „Die Moral ist wie ein Muskel“, sagt Lind. Aufgabe der Gesellschaft wäre es deshalb, Gelegenheiten zu schaffen, in denen der Nachwuchs seine moralische Kompetenz prüfen und entwickeln kann. Das Nachdenken über ethische Grundsatzfragen bringt uns dem eigenen Ethos dann auch wieder näher.

Das Problem mit der Moral ist nur, dass sich in Zeiten von Effektivitätsraten und Absatzzahlen gesellschaftlicher Erfolg und Anerkennung kaum noch danach bemisst, ob man von edlem Gemüt ist, eine charakterfeste Persönlichkeit mit ebenso festen Werten, ja, eine moralische Instanz und Säule der Gemeinschaft. Gemessen wird vielmehr das Einkommen, gezählt werden die Sprossen auf der Karriereleiter und die Leichen, über die man dabei gegangen ist und die sich seither im Keller stapeln.

Ein weiße Weste ist auf dem globalisierten Markt heute nicht mehr allzu viel wert. Schwer haben es dann diejenigen, die womöglich noch eine streng katholische Erziehung genossen haben, die dem dreisten Weggenossen, der uns das Hemd stiehlt, ohne mit der Wimper zu zucken auch noch den passenden Mantel dazu geben. Dreiste Menschen sind verkappte Darwinisten, nur steht anstelle der Fitheit ein Schlitzohrentum, jener „frecher Mut“, mit dem sie in großen Schritten an uns vorbeiziehen auf der Zielgeraden gen Ich-Gesellschaft.

Es heißt, die Moral sei die Macht der Machtlosen. Ihnen bleibt nicht viel mehr zu tun, als mit ihrer bloßen Präsenz diese Macht zu demonstrieren und den modernen Egoisten dieser Welt ins dreckige Gewissen zu rufen. Doch auch das macht irgendwann müde. Immerhin, mit einem reinen Gewissen schläft es sich zumindest besser.

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Josef Ackermann | Di., 19. September 2017 - 01:45

Wenn das Böse die Dreistigkeit hat,
muss das Gute den Mut haben.
Die Moral, die gut genug war für unsere Väter, ist nicht gut genug für unsere Kinder.

Die Dreisten
wirbeln den Staub auf -
und die Feigen
fegen den Boden!

Hohe Moralbegriffe sind Gewohnheitssache. Wir werden gerecht durch gerechtes Handeln, maßvoll durch maßvolles Tun, tapfer durch tapferes Verhalten.

Wenn Gott verloren geht, kommt die Tugend
Wenn die Tugend verloren geht, kommt die Wohltätigkeit
Wenn die Wohltätigkeit verloren geht, kommt die Gerechtigkeit
Wenn die Gerechtigkeit verloren geht, kommen die Moralregeln.

Tja so ist das schon vor tausenden Jahren gewesen denn hier habe ich u.a. Laotse und Aristoteles zitiert mit Gedichten auf das Thema. So Gott will wird alles nichts aber wir werden sehen, die Technik verändert unseren Verlauf mehr als uns momentan bewusst ist. In diesem Sinne, WELTFRIEDEN und Gute Nacht.