Brasiliens Präsident Michel Temer
Michel Temer: angeklagt wegen passiver Korruption, Behinderung der Justiz und Bildung einer kriminellen Vereinigung / picture alliance

Staatskrise in Brasilien - Immer tiefer in den Sumpf

Brasilien kommt nicht zur Ruhe. Die Korruptionsaffäre um Präsident Michel Temer und führende Politiker weitet sich immer mehr aus und nimmt geradezu mafiöse Züge an. Doch von Rücktritt will niemand etwas wissen. Und auch die Opposition macht wenig Hoffnung

Philipp Lichterbeck

Autoreninfo

Philipp Lichterbeck lebt seit 2012 als freier Journalist und Autor in Rio de Janeiro. Er berichtet aus Brasilien und dem Rest Lateinamerikas für Medien in Deutschland, Österreich und der Schweiz.

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Die jungen brasilianischen Staatsanwälte ahnten nicht, was sie auslösen würden, als sie 2014 begannen, ein Netz aus Schmiergeldzahlungen zu untersuchen. „Autowaschanlage“ nannten sie ihre Ermittlungen – auf Portugiesisch Lava Jato –, weil die Geldübergaben oft in diesen stattfanden. Am Anfang schien es nicht mehr als eine Routineoperation zu werden. Doch dann drangen die Ermittler immer tiefer ein in ein Geflecht aus Schmiergeldzahlungen und Abhängigkeiten zwischen der Politik und den größten Unternehmen des Landes. Mindestens fünf Milliarden Dollar, so wissen sie heute, wechselten illegal ihre Besitzer. Der Skandal, der wegen der zentralen Funktion des Ölkonzerns auch als Petrobras-Skandal bezeichnet wird, ist damit die größte Korruptionsaffäre der Welt. Und er erschüttert Brasilien wie ein nicht enden wollendes Beben.

Den Brasilianern hat Lava Jato schmerzhaft verdeutlicht, wie sehr sich ihre politische Klasse in einer Kultur der Selbstbereicherung und der Lüge eingerichtet hat. Diese ist so umfassend und gilt den Beteiligten als so normal, dass Eingeständnisse von Schuld oder Rücktritte dort so selten sind wie Schnee auf dem Zuckerhut. Selbst nach der Veröffentlichung kompromittierenden Materials besitzt der Homo Politicus Brasiliensis noch die Fähigkeit, sich vor die Kameras zu stellen und von Verleumdung zu fabulieren.

Der Skandal um Michel Temer

Das jüngste Beispiel ist Präsident Michel Temer. Als er sich Ende August die Präsidentenschärpe nach dem Sturz von Dilma Rousseff überstreifte, machte er ein einziges Versprechen: Er werde die einst fünftgrößte Volkswirtschaft der Welt aus der Krise führen, an der seine Vorgängerin schuld sei. Nur ein Dreivierteljahr später hat Temer das Land in eine Staatskrise gestürzt.

Auslöser sind Tonaufnahmen, in denen er verschiedene Gesetzesbrüche gutheißt. Seit ihrer Veröffentlichung gilt er nurmehr als Präsident auf Abruf. In drei Fällen ermittelt Brasiliens Bundesanwaltschaft gegen den Präsidenten: passive Korruption, Behinderung der Justiz und Bildung einer kriminellen Vereinigung. Selbst der mächtige Medienkonzern Globo, der Temer mit ins Amt hievte, hat sich von ihm abgewandt.

Dass Temer nicht schon längst zurückgetreten ist, gehört zur oben beschriebenen Politkultur. Er mag sich zudem geschützt fühlen, weil ein Impeachmentverfahren monatelang dauern würde. Zwar begann am Dienstag ein Prozess gegen ihn vor dem Obersten Wahlgericht; dabei geht es um die Frage, ob Temer und Rousseff ihren Wahlkampf 2014 illegal finanzierten. Aber eine rasche Entscheidung ist aufgrund der vielen Möglichkeiten, das Verfahren zu verzögern, unwahrscheinlich.

Rousseff als Bauernopfer

Im Grunde war der neuerliche Skandal vorprogrammiert. Die Regierung Temer hatte einen schweren Geburtsfehler. Es ging ihr nie darum, das vielleicht drängendste Problem des Riesenlandes anzugehen: die epidemische Korruption, die von den Lava-Jato-Ermittlern offenbart wurde. Vielmehr taten Temer und seine Verbündeten alles, um die Untersuchungen zu behindern; diese kamen ihnen immer näher. Offenbar hatte Temer geglaubt, er könne nach der Absetzung Rousseffs business as usual betreiben. Zu diesem Zweck hatten er und seine Leute sie schließlich gestürzt. Diese Lesart des Impeachments setzt sich immer mehr durch.

Denn Rousseff hatte den Lava-Jato-Ermittlern stets freie Hand gelassen – zum Entsetzen der alten Nomenklatura. Die jungen Staatsanwälte begannen, plötzlich Politiker ins Visier zu nehmen, die sich für unantastbar hielten. Herren wie Michel Temer, die es jahrzehntelang gewohnt waren, in Brasilien die Strippen zu ziehen. Deswegen – und nicht wegen ihrer vermeintlichen Haushaltstricks – wurde entschieden, dass Rousseff weg muss. Ein indigener Anführer aus Temers Partei PMDB bezeichnete sie in einem später bekannt gewordenen Gespräch als „Kuh, die man den Piranhas zum Fraß” vorwerfen sollte. „Wir müssen diesen Mist stoppen“, sagt er in Bezug auf Lava Jato. 

Rousseffs verspätete Rache

Es spricht ebenso für sich, dass der Impeachmentprozess gegen Rousseff von einem der korruptesten Politiker des Landes initiiert wurde: Eduardo Cunha, Ex-Parlamentspräsident, Parteifreund Temers und heute Bewohner einer Gefängniszelle.

Allerdings hatte Rousseff den Ermittlern schon vorher ihre vielleicht wirksamste Waffe geliefert: den großzügigen Gebrauch einer Kronzeugenregelung. Sie sicherte Verdächtigen Straferleichterungen im Austausch für umfassende Geständnisse zu. Festgenommene Konzernchefs und hochrangige Politiker, die ein Leben in Luxus gewohnt waren, wurden nun von den Ermittlern so lange in kargen Zellen gehalten, bis sie auspackten. Dass jetzt Michel Temer über eine Kronzeugenaussage stürzen könnte, kann man als Rousseffs verspätete Rache betrachten.

Der Deal der Batista-Brüder

Temer tappte Anfang März in die Falle von Joesley Batista, dem größten Fleischfabrikanten der Welt. Joesley und sein Bruder Wesley Batista wurden wegen verschiedener Korruptionsaffären ihres Unternehmens JBS untersucht. Um sich Haftverschonung zu erkaufen, machten sie einen Deal mit der Staatsanwaltschaft. Sie versprachen, einen großen Fisch an die Angel der Ermittler zu liefern.

Kurz darauf tauchte Joesley Batista eines Nachts in der Residenz von Michel Temer auf. Dieser empfing ihn nicht ahnend, dass der 44-jährige Batista in seinem Jackett ein Aufnahmegerät versteckt hatte. Batista erzählte dem Präsidenten nun von allerlei Schweinereien, etwa, dass man zwei Richter schmiere, worauf Temer sagte: „Sehr gut, sehr gut.“ Oder dass man Eduardo Cunha, dem inhaftierten Ex-Vorsitzenden des Parlaments ein Schweigegeld zahle, was Temer ebenfalls wohlwollend kommentierte.

Kurseinbrüche, Massenproteste, brennende Ministerien

Mit dieser Aufnahme marschierten die Batista-Brüder zur Staatsanwaltschaft. Als der Mitschnitt Mitte Mai öffentlich wurde, stoppte in Brasília der Politikbetrieb. Der Handel an der Börse in São Paulo wurde wegen dramatischer Kurseinbrüche ausgesetzt, die brasilianische Währung Real gab enorm nach.

In den Tagen danach erschütterten Massenproteste die Metropolen Rio de Janeiro und São Paulo. In der Hauptstadt Brasília wurden bei einer Demonstration mehrere Ministerien in Brand gesteckt. Die Polizei hatte den Konflikt eskaliert, indem sie mit Pferden in die Menge gesprengt, Tränengasbomben aus Hubschraubern abgeworfen und sogar scharf geschossen hatte. Angesichts der Szenen schickte Präsident Temer die Armee auf die Straße, was wiederum Erinnerungen an die Militärdiktatur (1964-1985) wachrief – und als Zeichen seiner Schwäche gedeutet wurde.

Mysteriöse Todesfälle

Nun liegt Temers Zustimmungsrate bei fünf Prozent und ein Land fragt sich, wie es weitergehen soll. Temer hält an der Behauptung fest, es handle sich um ein Komplott gegen ihn. Widersprüche fechten den 76-jährigen Temer nicht an, der wegen seines gotischen Looks auch als Vampir bezeichnet wird. Er ist ein Veteran im Macht- und Lügenspiel der Hauptstadt.

Es ist kein harmloses Spiel. Im Januar kam der Richter Teori Zavascki bei einem mysteriösen Flugzeugabsturz ums Leben. Zavascki war am Obersten Gerichtshof für die Zulassung der Anklagen gegen Politiker im Lava-Jato-Prozess zuständig. Er galt als unbestechlich. Das ärgerte Temers Leute, wie abgehörte Telefonate beweisen. Michel Temer ersetzte Zavascki mit einem Gefolgsmann. Schon damals sprachen viele von einer Verschwörung. Sie fühlten sich bestätigt, als vor wenigen Tagen ein Beamter erschossen wurde, der die Ursachen des Absturzes untersuchte.

Ein Drittel des Kongresses geschmiert

Gründe, die Wahrheit zu fürchten, haben viele in Brasília. Allein auf der Schmiergeldliste des Fleischkonzerns JBS tauchen 1829 Politiker auf. Sie gehören insgesamt 28 Parteien an, manche sind Lokalpolitiker, andere bekleiden höchste Regierungsämter. „Wir wollten uns eine Reserve von Entscheidungsträgern halten“, sagte ein JBS-Manager. Im Wahlkampf 2014 ließ JBS umgerechnet 100 Millionen Euro in die Taschen von Politikern fließen, das Unternehmen schmierte ein Drittel des aktuellen brasilianischen Kongresses. Zudem stehen zwölf amtierende Gouverneure sowie acht aktuelle Minister von Michel Temer unter Korruptionsverdacht. Keiner von ihnen denkt an Rücktritt, alle weisen jegliche Schuld von sich.

Laut Umfragen wollen nun 90 Prozent der Brasilianer Neuwahlen. Doch dafür bedürfte es einer Verfassungsänderung. Diese aber will Brasiliens konservativer Kongress nicht. Bei einer möglichen Absetzung – mehrere Anträge wurden bereits eingebracht – würde Michel Temer von Parlamentspräsident Rodrigo Maia ersetzt. Auch dieser steht unter Korruptionsverdacht.

Alternativen? Fehlanzeige

Es gehört zum brasilianischen Drama, dass es weit und breit keine politische Persönlichkeit gibt, die Hoffnung macht. Junge integre Menschen wurden jahrelang vom Gang in die Politik abgeschreckt, die für viele Politiker nicht mehr als ein lukratives Geschäft ist.

Umfragen zu den Präsidentschaftswahlen Ende 2018 sehen derzeit Ex-Präsident Lula da Silva vorne. Der 71-Jährige verkörpert die Nullerjahre, als Brasiliens Wirtschaft boomte und Millionen von Menschen dank staatlicher Programme Aufstiegs- und Bildungschancen hatten. Aber er ist ein Mann der Vergangenheit und auch ihm sind die Staatsanwälte auf den Fersen. An zweiter Stelle folgt ihm Jair Bolsonaro, ein Rechtsradikaler, der Folter, Vergewaltigung und außergerichtliche Exekutionen verteidigt.

Obwohl Bolsonaro seit 25 Jahren im Parlament sitzt (und nur einen einzigen Gesetzesvorschlag gemacht hat), gelingt es ihm, sich als Anti-Establishment-Kandidat zu präsentieren. Die Krise, die auch eine moralische ist, treibt viele Brasilianer in die Arme eines autoritären Scharlatans. Bolsonaros Wahlprogramm beschränkt sich auf einen Punkt: den Schweinestall ausmisten. Diesen Wunsch kann man sogar nachvollziehen.

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Dorothee Sehrt-Irrek | Mi., 7. Juni 2017 - 16:00

Was hat Brasilien, dass es öfter auf der Agenda steht, eine "Freundin" Merkels?
Mich würde mehr Polen interessieren, überhaupt Nord und Nordosteuropa.
Aber ihr heisst eben Cicero und den Römern war es zu kalt da...?

Michaela Diederichs | Mi., 7. Juni 2017 - 21:03

Antwort auf von Dorothee Sehrt-Irrek

Ich glaube, die Römer sind nicht weit nach Osten und Norden gekommen. Aber vielleicht trügt mich hier mein Gedächtnis, lieber Frau Sehrt-Irrek. Sehen Sie es doch bitte mal so: auch ganz weit weg - nämlich in Brasilien, Venezuela, Mexico, Columbien etc. - haben Wähler keine echten Alternativen und hadern mit der Politik. So gesehen sind wir eine große frustrierte Weltwählergemeinschaft. Im Sinne der Masse sind wir der Politik überlegen, aber wir machen nichts daraus. Cicero zeigt uns mit diesem Artikel: woanders ist es auch nicht besser, allenfalls korrupter und wärmer. Aber das muss man dann auch erst mal mögen.

Juliana Keppelen | Mi., 7. Juni 2017 - 20:01

Da haben die Korruptesten (Konservative)der Korrupten die wahrscheinlich am wenigsten Korrupte (Sozialistin)aus dem Amt geputscht damit sie nicht in die Nähe eines Korruptionsverdacht gelangen. Ich hege einen anderen Verdacht spätestens als Frau Rousseff auf dem G20 in Australien es wagte sich dem zu der Zeit als Paria gekennzeichnete Herr Putin offensiv zu unterhalten und danach auch noch eine USA Reise absagte wegen eines Abhörskandals war für mich klar diese Frau wird nicht mehr lange im Amt sein. Es kam wie gedacht plötzlich waren Demonstrationen auf der Straße gegen Rousseff und die bekannten Korrupten betrieben ihre Absetzung. Dieses Strickmuster kommt mir doch sehr bekannt vor. Und die Wertegemeinschaft die sich doch sonst überall mit erhobenem Zeigefinger einmischt verhält sich auffällig ruhig.

Ihr Beitrag legt ihre positiven Gefühle für den Sozialismus offen, hat aber nichts mit der Realität in Brasilien zu tun. Ich war in der Zeit von Präsident Lula (Tintenfisch) 5 Jahre in Brasilien (ab 2003) und jeder, der auch nur etwas geöffneten Augen durch Brasilien ging, sah, das eine ganz neue Ära der Korruption eingeleitet wurde. Gerade die PT hat hier ihren größten Anteil. Ihre Sozialismusverteidigung ist lächerlich, in den Jahren 2002 und 2003 war ich länger in Venezuela, übrigens gaben sich die europäischen Linken die Klinke in die Hand und feierten den 3. Weg. Dort kamen sie wegen der Korruption an die Macht und bauten diese dann immer weiter aus.
Sozialisten und Kommunisten wollen, das alle Menschen gleich sind, besser noch alle ausser sie. Im Schwarzbuch des Kommunismus (dessen Titel und Vorwort, nicht aber dessen Zahlen kritisiert wurden) werden 100 Millionen Todesopfern des kommunistischen Gedankenguts aufgelistet. Mehr alle alle anderen Religionen und Ersatzreligionen.

Juliana Keppelen | Fr., 9. Juni 2017 - 11:32

Antwort auf von André Oldenburg

Und wie erklären sie sich, dass die Korruptesten der Korrupten die "Konservativen" sind (und wenn man genau hinschaut nicht nur in Brasilien)? Wenn ein Herr Lula oder die PT gewählt wird dann war doch offensichtlich vorher schon nicht Friede, Freude, Eierkuchen. Das hat nichts mit hoffieren des Sozialismus zu tun, egal welches System, egal welche Regierungsform es sollten in jedem Fall erst die Menschen und deren Wohlergehen im Vordergrund stehen.

Doris Michel | Do., 8. Juni 2017 - 12:57

Ein Fleischkonzern beherrscht das Land in seinem Interesse. Politiker treten als Strohmänner auf und manipulieren die Menschen in dessen Sinne. Roussef ist Opfer dieser Politik. Die deutsche Wirtschaft hat beste Beziehungen zu Brasilien und profitiert von dem schmutzigen Spiel. Niemand hinterfragt die immense Fleischproduktion auf Kosten der Umwelt und des Regenwalds, die expandierende Plantagen-Landwirtschaft, die Vertreibung der indigenen Bevölkerung und die Exploitation der Natur. Hut ab vor den Staatsanwälten, die in dem Sumpf herumwühlen, um ihn Stück für Stück trocken zu legen. Leioder begeben sich alle, die damit zu tun haben in Lebensgefahr.
Die Zustimmung der Massen erkaufen sich Politiker und Parteien mit billigen Wahlversprechen. Eine wirkliche Gefahr sehe ich, ebenso wie der Autor in den Rechtsradikalen, die sich als Saubermänner gebärden, aber wie der phillipinische Präsident Selbstjustiz und illegale Handlungen im eigenen Land fördern wollen. -+

Ich kann ihrem Kommentar nur zustimmen. Die Wälder Sterben die Meere werden verdreckt das alles gehört zumindest genau so in den Focus gerückt wie der Klimaschutz.

Thorsten Rosché | Do., 8. Juni 2017 - 14:00

Zitat : Auch die Opposition macht wenig Hoffnung Zitat ende. Wir sind nicht allein.........