Kurden protestieren Anfang Juni gegen einen Parlamentsbeschluss, mit dem die Immunität von HDP-Abgeordneten aufgehoben wurde
Kurden demonstrieren Anfang Juni in Istanbul für die Rechte der HDP / picture alliance

Kurden in der Türkei - Die Angst vor Erdogans Rache

Nach dem gescheiterten Militärputsch hatten sich die Kurden hinter Erdogan gestellt. Wo für sie alles hätte besser werden können, wurde alles schlimmer: Der Staatspräsident geht mit Härte gegen sie vor

Melih Cilga - Kopya

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Melih Cilga ist freier Datenjournalist und lebt in Istanbul.

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Für einen kurzen Moment sah es so aus, als würde der Militärputsch die Feinde von früher zusammenbringen. Im türkischen Parlament verurteilten alle vier Fraktionen, darunter auch die pro-kurdische HDP, den Aufstand. In einer gemeinsamen Erklärung riefen sie zu einer „demokratischen Politik“ auf. Weiter hieß es: „Die Türkei braucht dringend eine pluralistische und liberale Demokratie.“ Noch vor einem Monat waren die anderen drei Parteien alle gegen die Kurden: Sie erkannten die Immunität der HDP-Abgeordneten ab.

Die Kurden stellten sich trotz allem hinter ihren Gegner Erdogan. Das klang erst einmal ermutigend. HDP-Co-Präsident Selahattin Demirtaş sagte, die Einigkeit gegen den Putsch müsse nun zu einer „Demokratisierungswelle“ führen.

Davon ist nun nicht mehr viel übrig. Am Mittwoch setzte die Regierung ihre Angriffe gegen Kurdenstellungen fort. Die türkische Luftwaffe tötete im Nordirak 20 Kämpfer der kurdischen Arbeiterpartei PKK. Überhaupt ist die Lage im Südosten der Türkei angespannt. Viele Kurden befürchten, dass sich ihre Lage nach dem gescheiterten Putschversuch weiter verschlechtert. Viele türkische Oppositionelle warnen vor einer „Lynchstimmung“. Can Dündar, Chefredakteur der regierungskritischen Zeitung „Cumhuriyet“, sprach gar von einer „Hexenjagd“.

Auch, wenn es um die Meinungsfreiheit der kurdischen Abgeordneten geht, hat das türkische Parlament offensichtlich keine Lust auf eine „pluralistische Demokratie“.

Der Kurdenkonflikt

Das aber ist kein Novum, denn die Geschichte wiederholt sich sehr oft in der Türkei: Vor 22 Jahren hatte das türkische Parlament schon einmal die Immunität der kurdischen Abgeordneten der damaligen „Demokratiepartei“ (DEP) aufgehoben. 1994 verurteilte das Staatssicherheitsgericht diese Abgeordneten zu je 15 Jahren Haft.

Der Staat führte schwere militärische Razzien in den kurdischen Städten durch, eine politische Lösung des Kurdenkonflikts schien damals unmöglich. Erst neun Jahre später wagte es Erdogan, den Friedensprozess mit einem Waffenstillstand einzuleiten.

Als der türkisch-kurdische Friedensprozess noch in vollem Gange war, kurz vor der Wahl im Juni 2015, sagte Erdogan plötzlich: „Es gibt keinen Kurdenkonflikt.“ Mit dieser kontroversen Behauptung endeten die Verhandlungen zwischen dem türkischen Staat und dem PKK-Anführer Abdullah Öcalan abrupt. Erdogan tat das, weil Wahlumfragen zeigten, dass die AKP nicht nur die nationalistischen Stimmen, sondern auch die der Kurden verlor.

Der Aufstieg der pro-kurdischen HDP-Partei

Geholfen hat es ihm nicht. Aus den Wahlen vom Juni 2015 ging die pro-kurdische HDP als Sieger und die regierende AKP als Verlierer hervor. Weil Erdogan die Wahlniederlage nicht auf sich beruhen lassen wollte, blockierte er die Koalitionsgespräche und inszenierte somit die Bedingungen für eine neue Wahl, welche wiederum die AKP gewann. Damals war unbekannt, dass er bereits eine „ungeschriebene Koalition“ mit der Armee gebildet hatte, um den Forderungen des Militärs nach einem harten Vorgehen gegen die kurdischen Guerilla-Truppen nachzukommen.

Noch immer vestehen sich Armee und Erdogan sehr gut. Der Staatspräsident unterzeichnete vor drei Wochen ein Gesetzespaket, das den Streitkräften beim Kampf gegen die PKK im Falle von Amtsmissbrauch strafrechtliche Immunität zusichert.

Zunehmende Aggressionen auf beiden Seiten

In den letzten dreißig Jahren hat der Konflikt zwischen der PKK und dem türkischen Staat mehr als 40.000 Menschen das Leben gekostet. Als jeden Tag mehrere türkische Soldaten ums Leben kamen und kein Tag ohne Trauerfeiern für Märtyrer verging, ist die Wut auf die Kurden exponentiell gewachsen. In der Wahrnehmung der türkischen Nationalisten besteht kein Unterschied zwischen friedfertigen Kurden und PKK-Angehörigen. Jeder Kurde wird als potenzieller Terrorist oder Separatist eingestuft. Diskriminierungen und Menschenrechtsverletzungen gegenüber Kurden sind an der Tagesordnung.

Ähnlich exponentiell wuchs die Wut auf der kurdischen Seite: In den dreißig Jahren der Gefechte ist eine kurdische Generation aufgewachsen, die keinen Frieden kennt. Ihr Leben ist durch die Zerstörung und Zwangsräumung ihrer Dörfer gekennzeichnet.

Als die PKK 1984 ihre Terroranschläge begann, fand sie sehr geringe Unterstützung in der konservativen kurdischen Bevölkerung, die traditionell rechte und islamistische Parteien wählte. Heute aber ist die Situation anders. Mit einem wachsenden Bewusstsein für die Gleichberechtigung, fordern sie nun Bildungsmöglichkeiten in ihrer eigenen Muttersprache, lokale Autonomie vom türkischen Zentralstaat und ein Ende der Assimilationspolitik.

Ein Umdenken in der Kurdenpolitik von Ankara?

Kann dieser jüngste gescheiterte Putschversuch irgendwie die Kurdenpolitik des türkischen Staats ändern? Wird Ankara die militärischen Einsätze in der Südost-Türkei beenden und versuchen, den gescheiterten Friedensprozess fortzusetzen? Momentan gibt es keine Anzeichen für ein Umdenken in der Kurdenpolitik.

Egal, welche politische Partei an der Macht ist, egal, ob sie säkular oder islamistisch ist: Die türkische Staatspolitik war immer auf die Bewahrung des Nationalstaats hin ausgerichtet. Die türkische Armee, die seit 1960 mehrere demokratische Regierungen weggeputscht hat, hält sich traditionell für den Schutzherrn des Säkularismus und des Nationalstaats.

Nationalismus versus Demokratie

Die rigide Identität „einer Sprache, einer Fahne, einer Nation, eines Vaterlands, eines Staats” wurde zu Beginn des 20. Jahrhunderts geprägt und besteht bis heute fort. Das macht es schwer anzuerkennen, dass es auch andere Minderheiten, Sprachen und Ansprüche auf Gleichberechtigung gibt. Wann immer die demokratischen Forderungen der Kurden im Widerspruch zu den nationalistischen Reflexen standen, wurde sofort auf Demokratie verzichtet.

Den meisten Türken ist die strenge Sicherheitspolitik einer autoritären Regierung lieber als eine demokratische Regierung. Demokratische Ansprüche werden schnell als Sicherheitsbedrohungen eingestuft. Es muss nun ernsthaft diskutiert werden, inwiefern der Nationalismus in der Türkei im Widerspruch zur Demokratie steht.

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Arndt Reichstätter | Mi., 20. Juli 2016 - 16:21

Radikal gesprochen ist jeder Staat ein Gewaltmonopol, also ein Erstanwender von Gewalt und ein Letztentscheider von rechtlichen Angelegenheiten, selbst bei jenen, in die er selbst verwickelt ist.

Man braucht sich also nicht zu wundern, wenn ein Staat Probleme nicht lösen kann. Denn der Staat ist ein Problem.

Kurzfristig sehe ich die Möglichkeit, dem Militär des Gewaltmonopols durch niedrige Steuern und dezentrale Verwaltung möglichst wenig Macht zu geben. Denn der Streit zwischen Türken und Kurden existiert ja nur, weil es ein Machtmonopol gibt, über das man unterdrückt werden wird, wenn man es nicht kontrolliert.

Langfristig sehe ich für beide Seiten nur ein kulturelles Umdenken, dass es nicht nur "die Türken" und "die Kurden" gibt, sondern beide Völker aus freien Individuen bestehen, die jeder für sich das Recht haben, über ihr Leben zu entscheiden.

Der Streit ist also nicht zwischen "Nationalismus versus Demokratie", sondern zwischen Gewalt versus Freiheit.

Lustige Perspektive als Denkmodell und natürlich völlig realitätsfremd. Das hat der Libertarismus mit dem Kommunismus gemein - als Gedankenmodell interessant und in der Realität nicht zu gebrauchen.

Der Vorwurf der "Realitätsfremdheit" ist kein moralisches oder ökonomisches Argument gegen individuelle Freiheit.

Wenn Sie gegen Anarchie sind, müssen Sie dann nicht für einen Weltstaat sein? Schließlich steht die Schweiz in Anarchie zu Venezuela. Brauchen die Schweizer und die Venezuelaner und wir alle nicht dringend eine gemeinsame Demokratie, damit wir uns nicht gegenseitig töten und ausrauben?

Markus Solta | Mi., 20. Juli 2016 - 16:31

Wenn man der Statthalterin Amerikas in Europa - Frau Merkel - die "Lage" in der Türkei hinreichend deutlich machen würde, dann gibt es vielleicht ein klitzekleine Chance, dass sie und Obama ihre schützenden Hände über den "zuverlässigen und treuen Bündnispartner" Erdogan zurückziehen könnte. Man könnte auch bis zur amerikanischen Wahl warten und hoffen, dass Trump das Rennen macht. Aber Merkel ist erfahrungsgemäß ja in gewisser Hinsicht unbelehrbar und "geduldig". Vielleicht klopfen die Kurden mal bei den Schiiten oder den Russen an. Dort ist man offensichtlich der Vernunft eher zugeneigt. Und die Iraner würde ein Verbot an der Teilnahme Olympias auch sicher nicht treffen. Aber immerhin ist man im Kanzleramt schon "besorgt" über die Entwicklung und sieht die "Verhältnismäßigkeit" in Gefahr. Das ist doch auch schon mal was für unsere Bundeskanzlerin. Hat ihr Sozi Gabriel eigentlich auch eine Meinung zu den Vorgängen in der Türkei, oder ist der auch schon im Sommerurlaub?

Dumm ist nur, dass es vermutlich für sie andere Prioriäten geben wird. Zugegeben, es ist mittlerweile ein arg ausgenudeltes Argument, aber dadurch wird's wohl leider nicht weniger wahrscheinlich, dass hier zumindest ein verdammt großes Stück Wahrheit zu finden sein könnte: http://oilprice.com/Energy/Energy-General/Energy-Is-The-Reason-Europe-I…

Dass sich Putin den Kurden zuliebe gegen Erdogan stellt, halte ich aus verschiedensten Gründen leider für ausgeschlossen. Die Frage, ob sich Putin und Erdogan jetzt wieder weiter annähern oder nicht, halte ich im Hinblick auf die aktuellen Entwicklung des Nahen und Mittleren Ostens (und auch im Bezug auf den 3. Weltkrieg, aber ich hoffe, dass das ein anderes Thema ist) allerdings auch für einen der entscheidensten Punkte.

Uwe Dippel | Mi., 20. Juli 2016 - 17:15

Es verwundert mich immer wieder, wie abhängig Berichterstattung von Personen sein kann.

Damals, zu Zeiten von Berlusconi, hatte man sich den voll aufgeschnallt. Danach Putin. Der hätte ungefähr 5 Regimekritiker zuschanden reiten lassen müssen, und die halbe Welt wäre - ich vermute auf 'Anraten' der USA - über ihn hergefallen, hätte von Anti-Demokrat gesprochen, Diktator, und was alles die Negativkiste noch so hergibt.

Und nun? War da was? Kaum. Frau Merkel spricht von Demokratie und Rechtsstaat. Sie warnt, ja, sie verwarnt Erdogan wie eine Helikoptermutti. Da werden tausende von eigenen Staatsbürgern weggebombt, Journalisten verknackt, die Akademiker erhalten Ausreiseverbot, und 15000 Staatsdiener werden entlassen.
Und zu was traktiert man uns, von Seiten der Presse, dazu? Umfassende Behandlung von Erdogan mit Samthandschuhen. Es wird freundlich angemahnt, es wird davon gesprochen, dass der EU-Beitritt 'gefährdet' sei, wenn er sich weiterhin so und so ... .

Konrad Kugler | Mi., 20. Juli 2016 - 19:08

darf tun und lassen, was er will. Mir ist das schon seit der Okkupation Nordzyperns bewußt und das ist schon sehr lange her. Konsequenzen folgen keine.

Karola Schramm | Mi., 20. Juli 2016 - 21:18

Verstehe ich nicht: "Als der türkisch-kurdische Friedensprozess noch in vollem Gange war, kurz vor der Wahl im Juni 2015, sagte Erdogan plötzlich: „Es gibt keinen Kurdenkonflikt.“
Hat er da gemeint wie Honnecker " Niemand hat vor eine Mauer zu bauen" ? Und Erdogan dachte, als er sagte:" Es gibt keinen Kurdenkonflikt" weil ich sie alle vernichten werde ?
Eine Tragik für die Kurden, von Erdogan so getäuscht und verraten worden zu sein. Ein guter, demokratischer Nationalstaat kann verschiedene Ethnien unter einen Hut bringen, wenn er will und dafür sorgen, das diese nicht diskriminiert werden, was die Akzeptanz der Zweisprachigkeit einschließt.
Ein Päsident der davor Angst hat, ist keiner für alle Bewohner der Türkei.

Aber es schreibt sich, als Nichtbetroffene, alles so leicht. So bleibt mir nur, der kurdischen Bevölkerung Geduld zu wünschen, friedlich zu bleiben und abzuwarten. Auch ein Erdogan wächst nicht i.d.Himmel. Nach scheinbaren Rückfällen kommen oft wunderbare Zufälle.

Ruth Falk | Fr., 22. Juli 2016 - 15:39

Ja, Sie haben Recht: Baiern und Preussen wohnen ja auch innerhalb einer Nation, wenn auch in verschiedenen Ländern. HAt auch ziemlich lang gedauert bis das möglich war.