Der Spitzenverband der freien Wohlfahrtsverbände empfiehlt, sich nicht an Ausschreibungen für Flüchtlingsunterkünfte zu beteiligen. Bild: picture alliance

Flüchtlingsunterkünfte - Wie Berlin die Wohlfahrtsverbände vergrault

In Berlin drohen die freien Wohlfahrtsverbände, sich aus der Flüchtlingsunterbringung zurückzuziehen. Grund ist der neue Mustervertrag des Landes Berlin für Betreiber von Asylunterkünften. Die Rede ist von „Erpressung“ und „Überwachung“

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Petra Sorge ist freie Journalistin in Berlin. Von 2011 bis 2016 war sie Redakteurin bei Cicero. Sie studierte Politikwissenschaft und Journalistik in Leipzig und Toulouse.

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Die Sozialverbände in Berlin üben massive Kritik am neuen Rahmenvertrag für die Flüchtlingsunterbringung. Der Entwurf des Landesamtes für Gesundheit und Soziales (LAGeSo) weise „für die Betreiber erhebliche Risiken auf“ und sei „nicht tragbar“, heißt es in einer Stellungnahme der Liga der Spitzenverbände der Freien Wohlfahrtspflege. Diese raten nun von einer weiteren Zusammenarbeit mit dem Land Berlin ab: „Wir haben das LAGeSo darüber informiert, dass wir unseren Mitgliedern dringend empfehlen werden, die zugesandte Aufhebungsvereinbarung nicht zu unterzeichnen.“

In der Liga haben sich die Arbeiterwohlfahrt, die Caritas, die Diakonie, der Paritätische Landesverband, das DRK und die Jüdische Gemeinde zusammengeschlossen. Zusammen zählen sie 160.000 haupt- und ehrenamtliche Mitarbeiter in Berlin.

Zurzeit hat das Berlin Containerdörfer ausgeschrieben, es werden Betreiber für insgesamt 4000 Plätze gesucht. Bislang hat der Senat individuelle Verträge abgeschlossen, in manchen Fällen gab es auch nur mündliche Vereinbarungen. Der „Vertrag über den Betrieb einer Unterkunft und die Betreuung der dort wohnenden Flüchtlinge und Asylbewerberinnen und Asylbewerber (Betreibervertrag)“ soll die Vorlage für alle künftigen Verträge sein. Er liegt dem Magazin Cicero in einer Version vom 24. Mai vor.

„Betreiber bringen sich in Insolvenzgefahr“


In dem Protestschreiben vom 6. Juni moniert die Liga der Wohlfahrtsverbände gleich mehrere Punkte: „Es wird in der Präambel von einer partnerschaftlichen Zusammenarbeit gesprochen. Der Vertrag ist vom Gegenteil geprägt.“ Er sehe weitgehende Eingriffsrechte des Landes in die Flüchtlingsunterkunft vor und ermögliche dem Betreiber „kaum konzeptionelle Gestaltungsmöglichkeit“.

So wolle sich Berlin vorhalten, jederzeit einseitig den Vertrag, die Unterkunft oder die Abrechnungsverfahren ändern zu können. Sollte es nicht zu einer Einigung kommen, steht dem Betreiber allenfalls ein „Sonderkündigungsrecht“ zu. In einer kommentierten Version des Entwurfes merkt ein Vertreter der Wohlfahrtsverbände an: Wenn das einzige Recht, das das Land Berlin den Betreibern zubilligt, die Kündigung sei, entspreche das „einer Erpressung“.

Umgekehrt sollen die Betreiber das wirtschaftliche Risiko tragen. So will Berlin kein Geld für unbelegte Plätze in den Unterkünften zahlen. Die Betreiber sollen trotzdem das ganze Personal vorhalten. Eine Änderung sei erst dann verhandelbar, wenn für mehr als drei Monate weniger als 60 Prozent der Betten belegt sind. „Viele Betreiber bringen sich dadurch in Insolvenzgefahr“, heißt es in dem Liga-Schreiben. So haftet der Betreiber auch für Schäden, „die durch seine Erfüllungsgehilfen und / oder untergebrachte Personen verursacht wurden“. Erhält der Betreiber Spenden, die er laut Vertrag eigentlich selbst bereitstellen muss, wird ihm zudem der Sachwert dafür verrechnet.

Die Senatsverwaltung für Gesundheit und Soziales äußerte sich auf Anfrage nicht und verwies auf die noch laufenden Verhandlungen.

Pressekontakte sind abzustimmen


Der Pressesprecher des Liga-Spitzenverbandes, Thomas Gleißner, sagt: „Viele gemeinnützige Träger sind in den vergangenen Monaten in Vorleistung gegangen, weil die Not so groß war.“ Allerdings habe das Land Berlin Rechnungen oft erst Monate später gezahlt. Das LAGeSo habe den freien Trägern Verbesserungen zugesichert. Im Berliner Senat tagte eine gemeinsame Arbeitsgruppe. „Doch die Empfehlungen der Arbeitsgruppe wurden gar nicht aufgegriffen, es wurde einfach ein eigener Vertrag vorgelegt“, sagt Gleißner. „Das macht uns fassungslos.“

Scharfe Kritik üben die Wohlfahrtsverbände auch an einem Passus, der ihnen verbietet, mit Journalisten zu sprechen. Die Rede ist von einer „Pflicht zur Geheimhaltung“. Mitarbeiter dürfen keine Aussagen gegenüber Presse und Rundfunk machen, der Betreiber wird dazu verpflichtet, Stellungnahmen mit Berlin „abzustimmen“. Liga-Sprecher Gleißner sagt: „Wir lassen uns den Mund nicht verbieten.“

Verfassungsrechtliche Bedenken


Schließlich melden die Wohlfahrtsverbände sogar verfassungsrechtliche Bedenken an. Der Vertrag verlangt, dass die Betreiber von Flüchtlingsunterkünften dem Land „Berlin die Bettenzuordnung mittels Software in Echtzeit“ melden. Damit soll schnell festgestellt werden, wo freie Plätze sind und Menschen möglicherweise noch untergebracht werden könnten. Das Verfahren verstößt aus Sicht der Liga aber gegen Personenschutzrechte. Im kommentierten Vertragsentwurf spricht Caritasdirektorin Ulrike Kostka von „Überwachung“. Solche Daten an den Staat zu übermitteln, halte sie für „zweifelhaft“.

Die Liga befürchtet, dass ihre Empfehlung an „qualitätsorientierte Betreiber“, sich nicht auf die Ausschreibung zu bewerben, Folgen hat: So könnten sich nun „kaum geeignete Betreiber“ auf die Ausschreibung bewerben, beispielsweise private Anbieter mit wenig Erfahrung in der Flüchtlingshilfe.

Immerhin brachte der Protest der Wohlfahrtsverbände etwas in Gang. Nach Liga-Angaben lud Berlins Sozialsenator Mario Czaja Caritaschefin Ulrike Kostka am kommenden Montag zu einem Gespräch ein.

Update 18:08 Uhr:

Ein Sprecher der Senatsverwaltung für Gesundheit und Soziales erklärte nachträglich, man werde die Hinweise der Liga prüfen. „Wir sind davon überzeugt, dass wir mit erläuternden Hinweisen und Klarstellungen den Bedenken der Liga gegen den notwendigen Betreibervertrag werden begegnen können.“ Ein einheitlicher Betreibervertrag für die über 150 Unterkünfte sei nicht nur notwendig, sondern auch eine Reaktion auf frühere Kritik des Rechnungshofes, externer Wirtschaftsprüfer, des Parlaments, der Betreiber und vieler ehrenamtlicher Helfer.

Zum Vorwurf, Pressekontakte einzuschränken, erklärte der Sprecher: „Schon in den vergangenen Monaten haben viele Betreiber von Unterkünften bei Anfragen von Medien die Pressestellen des LAGeSo und der Senatsverwaltung für Gesundheit und Soziales kontaktiert und um eine gemeinsame Abstimmung gebeten. Dies ist eine bereits bislang übliche Regelung. Jenseits des Betriebes von Unterkünften bleibt die Öffentlichkeitsarbeit der Betreiber gleichwohl in ihrer eigenen Verantwortung.“

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tomas werner | So., 19. Juni 2016 - 18:21

wenn jemand etwas nicht möchte, traut sich aber nicht NEIN zu sagen, macht er es unmöglich oder teuer-