Der Direktor der Internationalen Filmfestspiele Berlin, Dieter Kosslick, spricht am 31.01.2017 in Berlin während einer Pressekonferenz zum Programm der 67. Berlinale.
„Der Besucherprototyp der Berlinale ist weiblich, 37 Jahre alt und hat studiert“ / picture alliance

Start der Berlinale - „Mit einem Erdmann-Effekt kann man rechnen“

Heute beginnt die 67. Berlinale. Dieter Kosslick, Direktor des Filmfestivals, spricht im Interview über die veränderte Sicherheitslage in Berlin, potenzielle Gewinner und die Zukunft des Films in unsteten Zeiten

Autoreninfo

Dieter Oßwald studierte Empirische Kulturwissenschaft und schreibt als freier Journalist über Filme, Stars und Festivals. Seit einem Vierteljahrhundert besucht er Berlinale, Cannes und Co. Die lustigsten Interviews führte er mit Loriot, Wim Wenders und der Witwe von Stanley Kubrick.

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Seit Mai 2001 steht die Berlinale als eines der weltweit bedeutendsten Filmfestivals unter der Leitung von Dieter Kosslick. Mit einem Budget von rund 18 Millionen Euro ist sie längst zum Wirtschaftsfaktor geworden. Neben dem Festival macht der parallel stattfindende Filmmarkt Berlin zwölf Tage lang zum Zentrum der Medienbranche. 

Herr Kosslick, haben Sie nach Anschlag auf einen Berliner Weihnachtsmarkt Konsequenzen für die Sicherheitsvorkehrungen der Berlinale gezogen?
Das Festival ist seit Jahren mit dem Thema Sicherheit konfrontiert, die vorige Berlinale fand unmittelbar nach den Anschlägen von Paris statt. Es gibt ein maßgeschneidertes Sicherheitskonzept, das in enger Zusammenarbeit mit den Behörden entwickelt wurde. Unsere Maßnahmen werden dabei auch 2017 so diskret wie möglich ausfallen. Wir wollen keine Hundertschaften der Polizei aufmarschieren lassen – aber wir haben viel Sicherheit vor Ort.

„Toni Erdmann“ von Maren Ade hat dem deutschen Kino einen grandiosen Triumph beschert. Hoffen Sie durch den Film auf Rückenwind, was die internationale Aufmerksamkeit für die deutschen Festivalbeiträge betrifft?
Mit einem „Erdmann“-Effekt kann man rechnen. Als „Good Bye, Lenin!“ auf der Berlinale gefeiert wurde, bekamen die anderen deutschen Filme gleichfalls große Aufmerksamkeit. Wobei die Zuschauer ohnehin wissen, dass die „Berliner Schule“, zu der Maren Ade gerechnet wird, nicht in Frankreich erfunden wurde.

Welche Themen treiben das aktuelle Weltkino um? Was ist der rote Faden der 67. Berlinale?
Die Flüchtlingsfrage beschäftigt nach wie vor das internationale Kino. Migration bleibt ein großes Thema der Berlinale. Wobei es mittlerweile nicht mehr allein um Betroffenheit geht, sondern um Ursachen und Zusammenhänge. Auffallend ist, dass Filmemacher auf die Geschichte ihrer Länder blicken und fragen: Weshalb ist die Situation heute so, wie sie ist? Das geschieht aktuell in vielen Teilen der Welt, ob in Kuba, in Norwegen, in Pakistan oder Indien. Es sind filmische Reisen in die Vergangenheit.

Ist der berühmte rote Faden für ein Festival wichtiger als der rote Teppich mit Star-Auflauf? Zumal in Berlin Glamour-Premieren zu Kinostarts bereits Routine sind.
Es mag viele Kinopremieren das Jahr hindurch in Berlin geben, der rote Teppich der Berlinale ist allerdings schon etwas Besonderes. Die Atmosphäre eines Festivals sorgt für eine ganz einzigartige Stimmung. Wobei Glamour und Themen traditionell gleichermaßen wichtig sind. Zwischen rotem Faden und rotem Teppich herrscht bei der Berlinale keine Konkurrenz. 

Der Regisseur Werner Herzog sagte vor Kurzem: „Festivals befinden sich auf einem Sinkflug. Es gibt über 4.000 Festivals, aber nach wie vor nicht mehr als vier wirklich gute Filme pro Jahr.“ Teilen Sie die Meinung Ihres einstigen Jury-Präsidenten?
Die Zahl scheint etwas übertrieben, weltweit gibt es vielleicht rund 1.200 Festivals. Und manche Filme haben nur dann eine Chance, wenn sie auf einem Festival laufen. Werner Herzog ist mit Festivals eigentlich immer ganz gut gefahren – wobei von den erwähnten vier wirklich guten Filmen natürlich einer immer von ihm stammte. 

Die Retrospektive widmet sich diesmal dem Science-Fiction-Film. Wie sieht die Zukunft des Festivals aus? Wo findet die Berlinale statt, wenn 2018 der Vertrag mit dem Stage-Theater ausläuft? Wann wird aus dem Bären eine Bärin?
Ob aus dem Bären je eine Bärin werden wird, kann ich nicht vorhersagen. Über den Anteil an Frauen, die dieses Jahr im Programm vertreten sind, wird sich allerdings niemand beklagen können. Der Standort des Festivals mit dem Berlinale-Palast ist vorerst gesichert, über Anschlussjahre wird es Verhandlungen mit dem neuen Eigentümer geben.

Die vier Amazon-Produktionen im Vorjahr in Cannes haben allesamt nicht überzeugt. Ist die Blase von Netflix und Co. geplatzt oder sind diese Plattformen nach wie vor ein Sprungbrett für kreative Filmemacher?
Nach dem Erfolg von „The Night Manager“ bei der letzten Berlinale laufen auch dieses Mal an zwei Tagen Serien im öffentlichen Programm. Auf dem Filmmarkt werden diese Formate ebenfalls präsent sein. Wer den ganz großen Hype um die Streaminganbieter skeptisch sieht, kann bei uns sehen, dass die Welt nicht jeden Tag neu erfunden wird: Wir präsentieren im Berlinale-Special mit „Acht Stunden sind kein Tag“ von Rainer Werner Fassbinder den Beweis, dass es auch 1972 schon starke Serien gab.

Mit über 300.000 Besuchern ist die Berlinale das größte Publikumsfestival der Welt. Wie sieht der typische Festivalbesucher aus?
Das wissen wir sogar ziemlich genau: Der Besucherprototyp der Berlinale ist weiblich, 37 Jahre alt und hat studiert. Eine umworbene Zielgruppe, die die Filme gern in der Originalsprache sieht.

Wie groß ist die Schnittmenge zwischen Berlinale-Programm und dem privaten Geschmack seines Direktors? Dürfen Filme in das Bären-Rennen, die objektiv vielleicht relevant sind, subjektiv jedoch eher zum Stöhnen?
Es laufen natürlich auch Filme im Programm, die nie persönliche Lieblinge von mir sein werden. Darüber gibt es dann immer lange Diskussionen mit dem Auswahlkomitee des Festivals. Geschmack ist bekanntlich eine Geschmackssache.

Wann ist der schönste Moment für den Festivaldirektor? Bei der Eröffnung, dem Abschluss oder wenn Berlinale-Filme beim Oscar prämiert werden?
Der schönste Augenblick ist jener, wenn die Eröffnung mit all dem damit verbundenen Stress vorüber ist und das eigentliche Programm beginnt: Das ist mein Glücksmoment des Festivals. Dann marschieren all die 37-jährigen Akademikerinnen über den Roten Teppich ins volle Kino – dieses Glücksgefühl lässt sich nur noch steigern, wenn Filme, die bereits einen Goldenen Bären bekamen, zwei Wochen später noch den Oscar holen.

Haben Sie bei der Eröffnung eine Vorahnung, wer auf dem Siegertreppchen stehen wird?
Nein, das lässt sich bei unseren selbstbewussten Jury-Präsidenten, so wie jetzt Paul Verhoeven, absolut nicht vorhersagen. Statistisch allerdings haben jene Filme die meisten Goldenen Bären bekommen, die am ersten Freitag um 16.00 Uhr auf dem Programm standen – was gemeinhin als weniger beliebter Programmplatz gilt. Alle wollen ihren Film am Samstagabend zeigen.  

Wie wird sich ein US-Präsident Donald Trump auf Hollywood auswirken?
Die politische Situation in den USA wird mit Sicherheit im Kino und der Kunst reflektiert werden. Hollywood wird sich stärker positionieren und radikaler den Themen stellen. Auf die Resultate bin ich gespannt – das werden wir bei der 68. Berlinale 2018 dann sehr wahrscheinlich erleben und ich bin nun mal ein 68er.                                              

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Johannes Luig | Do., 9. Februar 2017 - 16:29

Ist einer der schlechtesten Filme, die ich je gesehen habe.
Amateurhaft, nichtssagend, mit unerträglichen Längen.
Aber 'man' muss ihn gut finden. Warum eigentlich?
Mit freundlichem Gruß
Johannes Luig

raimund höllriegel | Do., 9. Februar 2017 - 23:03

Antwort auf von Johannes Luig

TONY ERDMANN arbeitet mit dem stilmittel der weitergefassten sichtbarmachung von kommunikation. so zeigt die kamera oft, nachdem der verbale dialog beendet ist, ein längeres verweilen auf der nächsten ebene, also da, wo sich das gesagte beim jeweils andern, in gestik und mimik äußert. dadurch entsteht ein subtiler spannungsbogen, der naturgemäß nur von erstklassigen schauspielern übertragen werden kann. zuschauer, die möglichst umstandlos von einer szene zur nächsten "geführt" werden wollen, dürfte der film probleme bereiten. indes kann kein zweifel darüber bestehen, dass maren ade mit diesem film ein meisterwerk gelungen ist, von dem noch lange die rede sein wird.

Ich liebe z.B. Woody Allen! Aber Danke, Herr Höllriedel, dass Sie mich auf mein Defizit hingewiesen haben. Und Sie müssen natürlich ein Mann von Welt sein, mit enormer kultureller Kompetenz. Schon Ihre Kühnheit, auf die Großschreibung zu verzichten, verschlägt mir den Atem.
Hochachtungsvoll
johannes luig

Mathias Trostdorf | Fr., 10. Februar 2017 - 00:19

Antwort auf von Johannes Luig

Ich habe nur den Trailer gesehn, der ja bekanntlich Lust auf den Film machen sollte. Der sprach mich leider gar nicht an. Ich guck mir eigentlich gerne deutsche Filme an und mag auch Sandra Hüller, aber Männer mit Perücken und Pferdegebiss finde ich weder lustig noch originell.
Auch die Besucherzahlen sagen ja wenig darüber aus, wieviele Kinobesucher aufgrund der Werbung oder aufgrund von Empfehlungen oder eigenen Erfahrungen glaubten, ihnen würde der Film gefallen, und sich daraufhin eine Karte gekauft haben. Früher gabs mal in einigen Kinos am Ausgang so einen Kasten mit Knöpfen von eins bis fünf, die man drücken könnte, um zu bewerten, wie man den grad angesehenen Film fand. Eine Auswertung dieser Ergebnisse würde besser zeigen, wieviele oder wiewenige Leute den Film auch tatsächlich gut fanden.

Anouk Plany | Fr., 10. Februar 2017 - 00:43

Antwort auf von Johannes Luig

Ja das geht mir auch so. Ich verstehe den Hype um diesen wirklich schlechten Klamauk-Film überhaupt nicht.

Uwe Dippel | Do., 9. Februar 2017 - 17:00

Mir geht es ähnlich wie Werner Herzog.
Als Filmfan kommen mir immer weniger gute Filme entgegen.
Zu einem guten Teil sehe ich das parallel mit Literatur. Ob Ingrid-Bachmann-Wettbewerb in Klagenfurt oder Filmfestivals, es gibt einen immer dickeren Haufen von Filmen, die 'Haltung' über das Künstlerische stellen.
Dieser Tage schmeißen sich mehr als 90 Prozent der Filmemacher auf das Thema 'Migration'; und fast ausschließlich mit Dokumentarfilmen oder im gleichen Stile aufgemachte, meist Erfolgsgeschichten. Es wird so zur Beliebigkeit, aus welchen Ländern, mit welchen Strapazen, persönlichen und emotionalen Traumata der oder die neu ankommt. Beliebig und beinahe auswechselbar.
Es fehlt der Mut zum Aussenseiterfilm, zu anderen Themen, l'art pour l'art.
Auch hat in den letzten Jahren der political correctness der Gruppendruck auf die Künstler insgesamt, auch die Filmemacher, zugenommen, die 'richtige Haltung' auf Zelluloid zu bannen. Das hat ja schon den Tatort erreicht.

Cecilia Mohn | Do., 9. Februar 2017 - 21:24

Kunst sollte frei sein dürfen. Hierzulande ist die Filmlandschaft von "political correctness" untergraben, so dass kein eigenständiges Denken mehr möglich ist. Demzufolge sind fast alle Filme Agitation und Propaganda. Das ist beängstigend. Der Film TONI ERDMANN kommt da schon als Ausnahme daher, er traut sich, frei zu denken und ist erfrischend. Die Businessclique wird ad absurdum geführt, wie es komischer kaum geht.
Das Programm der Berlinale ist dieses Mal sehr nichtssagend. Das Niveau sinkt. Schade.
Cecilia Mohn

Michael Bodef | Fr., 10. Februar 2017 - 04:34

Diese Veranstaltung war, durch die Jahre hinweg, selten mehr als eine hochsubventioniert Unterhaltungs- Show, zunächst als Frontheater für das "Frontstadtpublikum", später nur noch als Party der übersubventionierten deutschen Filmindustrie.. - "Glamour" (?) für die "Hauptstadt" der Selbstbespiegelung, mit entsprechender Berichterstattung. Die "Provinz" feiert sich selbst und ihre "Errungenschaften".
Es gibt leider ausreichend viele hausgemachte Gründe, warum wir auch in den nächsten Jahrzehnten keinen guten/ erfolgreichen deutschen Spielfilm sehen werden.

Edgar Timm | Fr., 10. Februar 2017 - 09:41

Wie die Filmförderungsanstalt (FFA) am Mittwoch weiter mitteilte, lösten 121,1 Millionen Besucher 2016 eine Kinokarte. Das waren 13 Prozent weniger als im Vorjahr. Und die Besucherzahlen werden weiter abnehmen - erstens werden die "Heimkinos" weiter aufrüsten: 65-Zoll-Bildschirme, 7.1 Surround-Sound und bequeme Möbel und zweitens wird das Filmangebot durch Streaming immer umfangreicher. Ein nicht zu vernachlässigender Effekt erscheint mir aber die Kino-Situation zu sein: Wer hat noch Lust, zu später Stunde finsteren Männerhorden zu begegnen, ausgeraubt zu werden und körperliche/seelische Schäden davonzutragen? Ich beobachte, dass in den Theatern und in der Oper die Nachmittagsvorstellungen deutlich besser als früher besucht werden. Aber Oper/Theater kann man nicht zu Hause haben - Kinofilme schon.

Mathias Trostdorf | Fr., 10. Februar 2017 - 14:56

Was die Berlinale betrifft, war ich aber überrascht, daß der aktuelle Jurypräsident Paul Verhoeven gestern auf der Pressekonferenz angab, die Filme in diesem Jahr doch eher nach der filmischen Qualität und nicht nach der politischen Aussage beurteilen zu wollen. Das ist meiner Ansicht ein Schritt in die richtige Richtung und wird dem Können der Filmschaffenden gerechter. Wenn man das politische Engagement eines Films würdigen möchte, könnte man eine eigene Kategorie dafür erschaffen oder einen Sonderpreis vergeben.