Cicero im Januar / Illustration: Olaf Hajek

Cicero im Januar - Sagenhaft modern

Auch 925 Jahre nach der Geburt Hildegards von Bingen herrscht noch ein großer Kult um die mittelalterliche Äbtissin. In der Januar-Ausgabe von Cicero haben wir uns auf ihre Spuren begeben. Lesen Sie, warum die Universalgelehrte moderner war als viele unserer Zeitgenossen.

Alexander Marguier

Autoreninfo

Alexander Marguier ist Chefredakteur von Cicero.

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Warum sollte diese Frau überhaupt noch Thema sein für ein politisches Magazin? Wer sich je ein bisschen mit dem Leben Hildegards von Bingen, die vor 925 Jahren geboren wurde, beschäftigt hat, weiß um die anhaltende Faszination der mittelalterlichen Äbtissin. Je nach Perspektive dient sie heute als Projektionsfläche für ganz unterschiedliche Sehnsüchte und Weltanschauungen: Die einen erblicken in ihr die Mystikerin, andere bewundern ihren herausragenden Intellekt, manche verklären sie zur feministischen Ikone – und dann gibt es natürlich noch die etwas profanere Hildegard-Rezeption als einer Vorreiterin der Naturheilkunde. Unter dem „Hildegard“-Label werden Kräutertees denn auch genauso gewinnbringend vermarktet wie Liköre oder Instantsuppen.

Jeder kann sich seine liebste Facette aus dem Leben und Wirken der Heiligen herauspicken, um daraus Erkenntnis fürs eigene Dasein zu schöpfen oder zumindest ein wohliges Gefühl des Geheimnisvollen. Dabei eignet sich die große deutsche Mystikerin gerade nicht für schablonenhafte Zuschreibungen. „Sie war vielleicht die Letzte, die Gott, Welt und Mensch, die Glaube und Leben noch zusammengesehen hat.“ So erklärt Schwester Philippa Rath, eine von gut 40 Ordensfrauen, die heute noch im Rüdesheimer Konvent von Sankt Hildegard leben, das Vermächtnis der im Wortsinn legendären Benediktinerin.

Ralf Hanselle und Volker Resing haben sich für diese Ausgabe auf die Spuren Hildegards begeben – und je näher sie ihr dabei kamen, als desto schwieriger erwies es sich, der Sagenhaften mit Worten gerecht zu werden. Denn „hinter jedem Attribut scheint nur ein weiteres aufzuleuchten – und jedes Bild weiß um ein zweites“, wie es in ihrem Beitrag heißt. Er trägt den Titel „Die Unverfügbare“ und will explizit keine „letzten Wahrheiten“ verkünden, weil genau das bei Hildegard von Bingen unmöglich ist.

Einen unverklärten Blick auf sie werfen meine Kollegen aber durchaus – wobei deutlich wird, warum die Universalgelehrte vom Rhein auch 925 Jahre nach ihrer Geburt moderner ist als viele unserer Zeitgenossen. Was übrigens auch daran liegt, dass unsere Gegenwart stärker mit dem Mittelalter verwoben ist, als es manche wahrhaben wollen.
 

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Ernst-Günther Konrad | Do., 22. Dezember 2022 - 09:50

Vorweg eines: Ein sehr gewöhnungsbedürftiges neues Layout da Ihr Euch da ausgedacht habt. Leider keine direkte Verlinkung zu den Kommentaren und deren Anzahl. Leider, Leider.

Was Hildegard von Bingen anbetrifft, war und ist sie bei meiner verstorbenen Schwiegermutter (sie hieß auch Hildegard) und meiner Frau präsent und sie haben Bücher über sie gelesen und Bücher/Heftchen im Fundus.

Ich bin aber durchaus gespannt darauf, die verschiedenen Facetten ihres Wirkens hier im Cicero kennen zu lernen. Insbesondere vor dem Hintergrund, weil sie immer mal wieder zu "Werbezwecken" genutzt irgendwie zitiert wird.

Vor vielen Jahren, in meiner aktiven Zeit als Lehrerin, habe ich ein Seminar besucht, das sich mit Hildegard von Bingen beschäftigte. Wir sind damals auch topographisch auf ihren Spuren gewandelt und haben z. B. den Disibodenberg besucht, wo noch Ruinen des Klosters zu sehen sind.
Man kann diese große Frau - wie jede andere geschichtliche Persönlichkeit auch - nur aus i h r e r Zeit heraus verstehen.
Da bin ich nun gespannt, ob dies dem CICERO einigermaßen gelungen ist.
Ich werde wahrscheinlich erst nach den Weihnachtstagen zum Lesen kommen und freue micht darauf.
Von einem Großteil der heutigen Vermarktung Hildegards halte ich nichts.

Ihnen und Ihrer Familie, lieber Herr Konrad, wünsche ich den Segen der Weihnacht, frohe Feierstunden und alles Gute im neuen Jahr,
Ihre C. Wallau

Norbert Heyer | Do., 22. Dezember 2022 - 10:48

Hildegard von Bingen kam aus „ gutem Hause“ und machte eine große Karriere, die für eine Frau, die vor fast 1000 Jahren geboren wurde, völlig ungewöhnlich war. Sie verfasste religiöse Bücher, über Naturheilkunde, aber auch über Dinge, die wir heute unter Lebensberatung zusammenfassen würden. Nebenbei war sie auch musikalisch begabt - und am meisten erstaunt, dass sie in der damals männlich-dominierten Welt sich nicht nur Gehör verschaffte, sie wurde auch noch als eine starke Persönlichkeit respektiert, eine „Managerin“ des Mittelalters, eine absolute Ausnahme-Erscheinung. Typisch für die damalige Zeit war auch ihre spirituelle Seite, wie sie sich von Gott geleitet fühlte. Lediglich ihr ausgeprägter Standesdünkel wird in alten Schriften als Makel angemerkt. Ansonsten war sie wohl eine Frau, die „voll im Leben stand“ und sich in Dinge einmischte, die Frauen der damaligen Zeit eigentlich nichts angingen. Deshalb erfährt sie bis heute große Anerkennung und Wertschätzung in allen Kreisen.

Helmut Bachmann | Do., 22. Dezember 2022 - 11:34

Nicht nur Hildegard von Bingen, auch das Ciceromagazin sucht hoffentlich nach einem weiteren Horizont. So wie man im Mittelalter die Schätze der Antike bewahrte und es Gegenspieler gab, die alles Alte ablehnten, so gibt es diese Zweiteilung heute wieder. Wie naiv und arrogant diese auch sein mag. Vielen Dank für diese Artikel im Voraus.

BHZentner | Do., 22. Dezember 2022 - 14:17

...war Hildegard (trotzdem) eine herausragende Persönlichkeit ihrer Zeit. Wir sind oft am Hildegard Kloster oberhalb Rüdesheim und genießen die Ruhe des Ortes; mich fesselt vor allem der Blick ins Rheintal bis weit nach Westen. Nach den Darstellungen ihres Lebens in der Klosterkirche war sie wohl auch Ratgeberin der Mächtigen ihrer Zeit.
Den immerwieder aufkommenden ,,Hildegard-Hype" finde ich indessen teilweise drollig ob derer,die sie jeweils für ihre Zwecke ,,einspannen" - z.B. zeitgeistig, hysterische Feminist*innen wie *außen; Kräutergarten und -küche, Naturheilkunde, Meditation scheinen immerwieder ein lohnendes Geschäft.
Nur sieht sich der ,,Zeitgeist" nicht per se in der Nachfolge jener christlich-abendländischen Kultur und Geistesgeschichte, aus der Hildegard hervorging, geprägt war und die diese auf vielen Gebieten befruchtete.
Ich freu' mich jedenfalls auf Ihren Text im neuen Magazin.
Frohe Weihnachten Ihnen in der Redaktion und allen hier im Forum.