Chinas Präsident Xi Jinping und Olaf Scholz geben sich die Hand
Chinas Präsident Xi Jinping und Olaf Scholz im Jahr 2017 / dpa

Olaf Scholz in China - Plattes Bashing ersetzt keine Strategie

Bundeskanzler Olaf Scholz reist nach China. Die Gespräche in Peking sind wichtig für die deutschen und europäischen Interessen. Gleichzeitig wird die Beteiligung des chinesischen Staatskonzerns Cosco an dem Terminal Tollerort im Hafen Hamburg zum Symbol hochgejazzt. Es ist peinlich, wie unsere Außenministerin und andere an den Tatsachen vorbeireden – das spricht nicht für besonnene politische Führung, die einem strategischen Kompass folgt, meint unser Gastautor Rudolf Scharping.

Rudolf Scharping

Autoreninfo

Rudolf Scharping war von 1993 bis 1995 Bundesvorsitzender der SPD, von 1991 bis 1994 Ministerpräsident des Landes Rheinland-Pfalz und später Bundesminister der Verteidigung. Bei der Bundestagswahl 1994 war er Kanzlerkandidat und von 1995 bis 2001 Präsident der Europäischen Sozialdemokraten. Nach seiner Zeit als Politiker baute er die eigene Beratungsgesellschaft RSBK AG auf, die deutsche Unternehmen im Zusammenhang mit China berät. Seit 2005 hat Scharping auf zahlreichen Reisen insgesamt fast sechs Jahre in China verbracht.

So erreichen Sie Rudolf Scharping:

„Wenn Du Dich selbst kennst, doch nicht den Feind, wirst Du für jeden Sieg, den Du erringst, eine Niederlage erleiden. Wenn Du weder den Feind noch Dich selbst kennst, wirst Du in jeder Schlacht unterliegen.“ (Sun Tzu: „Die Kunst des Krieges“)

Der Bundeskanzler reist nach China. Die Gespräche in Peking sind wichtig sind für die deutschen und europäischen Interessen. Sie sind wichtig im Vorfeld des G20 Gipfels. Es hat ohnehin viel zu wenige persönliche Kontakte zwischen europäischen und chinesischen Führungskräften gegeben seit Ausbruch der Corona-Pandemie. Anders zwischen China und den USA: Es gab es zahlreiche persönliche Begegnungen, in China, in den USA und man traf sich sogar in Europa, ohne dass Brüssel oder Paris oder Berlin eine Rolle spielten.

Der Besuch kommt zur richtigen Zeit, wenn auch spät. Die Differenzen sind zunehmend größer geworden (die Debatten wegen Menschenrechten, Taiwan, fairem Wettbewerb, chinesischen Polizeistationen im Ausland zeigen das). Mit Gesprächen „screen to screen“ ist da wenig auszurichten. Da gehen Zwischentöne verloren, Feinheiten können nicht ausgelotet, Vertrauen nicht entwickelt werden. Je schwerwiegender die Meinungsverschiedenheiten, umso wichtiger das Gespräch. Das haben die USA und China bisher viel besser verstanden. Anders sind Lösungen in den spannungsreichen und vielschichtigen Beziehungen nicht zu finden.

Dass auch China den Besuch als wichtig einschätzt, wird gegen den Besuch als solchen gewendet. Für eine starke und souveräne Haltung spricht das nicht. Gleichzeitig wurde die Beteiligung des chinesischen Staatskonzerns Cosco an dem Terminal Tollerort im Hafen Hamburg förmlich zum Symbol hochgejazzt; das sei kritische Infrastruktur und China lasse solche Beteiligungen ja auch nicht zu.

Hamburg und Cosco

Tatsächlich ist Cosco beteiligt an Piräus, Zeebrügge, Antwerpen, Rotterdam, Valencia, Bilbao und zwei Terminals in Italien (außerhalb Europas in den USA, Singapur, Südkorea, Peru, Ägypten, Saudi-Arabien und Abu-Dhabi). Nun kommt wahrscheinlich ein Terminal in Hamburg dazu. Wer das für unvertretbar hält, müsste sich eigentlich äußern zu den anderen Beteiligungen von Cosco in Europa und – vor allem – Umrisse aufzeigen einer Strategie, die europäische Häfen nicht in einen riskanten Wettlauf gegeneinander treibt. Plattes Bashing ersetzt keine Strategie.

Es wird behauptet, dass China umgekehrt solche Investitionen oder Beteiligungen nicht zulasse. Nun plädiere ich seit langem für Reziprozität im wirtschaftlichen Austausch mit China. Es ist aber peinlich, wie unsere Außenministerin und andere an den Tatsachen vorbeireden. Ein wenig Recherche, ein Blick in Berichte wie der Hinrich-Stiftung oder in Geschäftsberichte genügt: die dänische Reederei Maersk hält Beteiligungen an Terminals in Shanghai, Xiamen, Tianjin, Guangzhou, Qingdao (von insgesamt 75 Terminals weltweit), mit Beteiligungsquoten von 19 Prozent (Qingdao) bis zu 49 Prozent (Shanghai East).

Das spricht nicht für besonnene politische Führung, die Ziel im Auge behält und einem strategischen Kompass folgt.

Strategie

Strategie wäre ein „genauer Plan für ein Verhalten, das dazu dient, ein (militärisches, politisches …) Ziel zu erreichen, und in dem man alle Faktoren von vorherein einzukalkulieren versucht“ (Oxford Languages). Das erfordert unverzichtbar eine klare Bestimmung von Zielen und Prioritäten, von Interessen und Werten, einen umfassenden Blick auf die Tatsachen, eine nüchterne Analyse von Stärken und Schwächen, von Risiken und Möglichkeiten, und zwar der eigenen ebenso wie der aller anderen.

Eine Strategie muss auch Potentiale der Zusammenarbeit und der Konflikte in den Blick nehmen, also auch die innere Lage, die Handlungsmöglichkeiten und -zwänge des jeweils anderen Landes. Daraus folgen Einschätzungen für die Dynamik von Entwicklungen, von Folgen und Nebenfolgen. Davon gibt es bisher in Deutschland oder Europa allenfalls Ansätze.

Nüchtern betrachtet: China verfolgt eine Strategie und legt diese auch offen. China folgte und folgt eigenen Interessen; dazu gehört eine stabile Welt. In der will China eine führende Rolle spielen, in jeder Hinsicht. Das ist eine Herausforderung, in jeder Hinsicht. Zum Beispiel: China will seine wirtschaftliche Stärke als politischen Einfluss nutzen; eine führende und unabhängige Rolle in Technologie und Innovation aufbauen; sein Territorium sichern und seine militärische Stärke ausbauen. Jedes dieser Themen verdient eigene Aufmerksamkeit. Das gilt auch für Menschenrechte, Fragen der Freiheit und Rechtsstaatlichkeit. Ich konzentriere mich hier auf Hinweise zur wirtschaftlichen und politischen Selbstbehauptung Europas und Deutschlands in einem internationalen Kontext und den Beziehungen zu China.

Gefährliche Zwillinge: Nationalismus und Protektionismus

Sind wir abhängig? Ja; es gibt Verflechtungen und Abhängigkeiten. Sie bestehen. Aber gegenseitig. Die Wirklichkeit ist: wir sind aufeinander angewiesen, Deutschland vor allem auf Europa und umgekehrt. Wir leben vom freien Zugang zu den weltweiten Märkten, zu Rohstoffen, Energie und anderem. Damit untrennbar verbunden sind Wohlstand und Freiheit, Arbeitsplätze und soziale Sicherheit in Deutschland und Europa. Das ist übrigens für China nicht grundsätzlich anders. Die internationale Arbeitsteilung hat ein Maß an Möglichkeiten geschaffen wie nie vorher, sie hat diese Verflechtungen und gegenseitigen Abhängigkeiten regelrecht zur Voraussetzung – und wird doch auf Dauer nur akzeptiert, wenn die großen Verwerfungen in den Gesellschaften und zwischen den Völkern beherrscht werden. „Zivilisiert den Kapitalismus“ appellierten vor Jahren Marion Gräfin Dönhoff und Helmut Schmidt. „America First“ schrie Donald Trump – und beschleunigte innergesellschaftliche Spaltung, nationalistische Irrwege und wirtschaftlichen Protektionismus.

Man muss wohl noch einmal daran erinnern: Wir in Europa müssen ja auch mit solchen Erscheinungen kämpfen, aber wir können auch zurückgreifen auf bessere Erfahrungen und Konzepte, vor allem auf die soziale Marktwirtschaft. Um auf der Welt besser bestehen zu können, haben wir Europäer zunächst die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) geschaffen, dann die EU, den Euro oder auch eine gemeinsame Vertretung in der WTO. Danach ist Europa leider im Wesentlichen stehengeblieben. Wir haben die EU größer gemacht, aber nicht handlungsfähiger. Das weiß man auch in China genau zu analysieren und daraus Konsequenzen zu ziehen. Deshalb ist es klug, dass die Bundesregierung ihre China-Strategie europäisch verankern will.

Jedoch: Das darf nicht im Wirtschaftlichen stecken bleiben, so zentral das ist. Kultur, Wissenschaften, Austausch auf vielen Ebenen, Zusammenarbeit bei globalen Herausforderungen oder mit dritten Ländern – die Themen sind vielfältig und anspruchsvoll. Den üblichen Globalzahlen kann man Abhängigkeit von China nicht ablesen. An den deutschen Exporten 2022 (Januar bis August) hatte der Handel mit EU-Staaten einen Anteil von 187 Mio. Tonnen oder 74,8 Prozent (Destatis vom 28.10.2022). Bezogen auf alle Exporte bis 2020 gingen in den letzten zehn Jahren in die EU-Staaten immer zwischen 52,7% (2020) und 59,4% (2011) bzw. 59,1% (2018). Deutsche Investitionen in China steigen und haben ein Volumen, das um rund das 25fache größer ist als die chinesischen Investitionen in Deutschland. Der internationale Zahlungsverkehr (nach SWIFT und BIS) wird dominiert von USD und Euro. Egal, was man heranzieht: China ist bedeutend für Deutschland und umgekehrt, entscheidend aber ist Europa.

Abhängigkeiten besser kontrollieren

Zu einer umfassenden Strategie gehört das Wissen um eigene Stärken. China braucht den Austausch mit Deutschland und Europa. Auch Chinas wirtschaftliche und soziale Stabilität ist darauf angewiesen: Arbeitsplätze, Unternehmen, Steueraufkommen und vieles mehr. Das setzt China einen eher engen Handlungsrahmen, noch.

Deutschland gründet seinen Wohlstand, seine wirtschaftliche Stärke, seine Sicherheit auf Austausch mit der Welt. Von der Freiheit der Seewege bis hin zur Resilienz der Lieferketten, von der Beschaffung der Rohstoffe bis zum Export veredelter Produkte – Deutschlands Austausch von Gütern und Dienstleistungen, ihre finanzielle Abwicklung und Absicherung ist untrennbar verbunden mit und stark durch Europa. Die innere Stärke Deutschlands beruht (noch) auf seinen integrierten und ausgefeilten Wertschöpfungsketten – und auf seiner Fähigkeit, Innovation voranzutreiben (was dringend verbessert werden muss).
 

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Das ist übrigens ähnlich, wenn man sich China und Asien betrachtet. Das hat ja zu „RCEP – Regional Comprehensive Economic Partnership“ geführt, der seit Januar 2022 bestehenden größten Freihandelszone der Welt. Sie verbindet Australien, Neuseeland, Japan und Südkorea mit China und den ASEAN-Staaten; das sind ein Drittel der Weltbevölkerung, der weltwirtschaftlichen Leistung und des weltweiten Handels. In RCEP wickelt China bei weitem mehr wirtschaftliche Aktivität ab als mit Europa und den USA zusammen. Die Demokratien im Fernen Osten und Ozeanien haben das Abkommen mit China und den ASEAN-Staaten vor einem Jahr ratifiziert; die Europäer haben mit China ein in der Sache weitergehendes Abkommen „ausgehandelt“, blockieren aber die Ratifikation und es droht die Gefahr, von weltweiten Entwicklungen abgehängt zu werden.

Stabilisierende Rolle in der Finanzkrise

Übrigens: China will seine Abhängigkeiten auch besser kontrollieren können. In der Globalisierung steckte schon immer „Regionalisierung“, also die Schaffung von Wirtschaftsräumen in eher kontinentalen Kontexten, ob damals NAFTA oder EWG, ob Mercosur oder ASEAN usw. Das sollte und soll die weltweite Arbeitsteilung regional verankern, überschaubar halten, resilienter gestalten. Nichts davon richtet sich gegen jemanden, sondern alles das folgt einem Gebot wirtschaftlicher und politischer Vernunft.

Das steckt auch den chinesischen Formeln von zwei Wirtschaftskreisläufen, einer stärkeren Binnenkonjunktur, einer größeren (technologischen und wirtschaftlichen) Unabhängigkeit, dem Anstreben einer führenden Rolle. Es ist zudem eine unmittelbare Reaktion auf eine Entwicklung, die in Europa und Deutschland oft übersehen wird.

China hatte 1997 in der asiatischen Finanzkrise eine sehr stabilisierende Rolle eingenommen (gegen eigene kurzfristige Interessen und gegen kurzatmige Ratschläge, vergleichbar mit Deutschland und anderen später in der Euro-Krise); in der weltweiten Finanzkrise hatte China mit einem gewaltigen Stimulus-Programm sich selbst geschützt und seine Konkurrenten in Amerika und Europa gleich mit. Seither generiert China etwa 30 Prozent des weltweiten Wachstums. Umso gefährlicher der bald darauf vom US-Präsidenten Trump vom Zaun gebrochene Handelskrieg. Bei (heute) über 650 Milliarden USD Handelsvolumen zwischen China und den USA (davon rund 500 Mrd. USD chinesischer Exporte) wirkte das als exogener Schock. Man fürchtet Wiederholung und Schlimmeres; auch wir in Europa schauen ja besorgt auf die möglichen Ergebnisse der amerikanischen Zwischenwahlen, auf den Zustand der amerikanischen Demokratie (Fritz Stern, der herausragende Historiker und kluge Analyst, nannte die USA schon 2008 eine „gefährdete (plutokratische) Demokratie“).

Kritische Abhängigkeiten

Betrachtet man sich einzelne Sektoren, dann kommen die wirklichen Herausforderungen zum Vorschein: ob medizinische Wirkstoffe oder seltene Erden, ob bestimmte andere Vorprodukte oder die Rohstoffe und Technologien zur Fertigung von Solarzellen und Batterien – diese wenigen Stichworte mögen hier genügen. Diversifizieren, Lieferketten resilienter machen, alles richtig – und was ist mit unseren Hausaufgaben? Deutschland und Europa müssen der Ort von Innovation und Offenheit für technische Lösungen, für Fortschritt und unternehmerischen Mut bleiben – an mancher Stelle wieder werden. Einige Beispiele:

2011 hat Deutschland die Grundlagen seiner Energieversorgung selbst (und wie kein anderes Land auf der Welt) eingeschränkt; das sollte dringend geändert werden, nicht alleine wegen der Folgen des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine. Die Märkte für Erneuerbare Energien wurden erst schwer beschädigt, dann auch noch falsch organisiert. In Deutschland ist die Stromversorgung unsicherer geworden bei international nicht mehr wettbewerbsfähigen, weil deutlich zu hohen Preisen. Wenn in den oben genannten Bereichen wir uns von China abkoppeln wollten, dann kann Deutschland die Energiewende nicht schaffen. Die hohen Strompreise hierzulande; die Verfügbarkeit von Rohstoffen bezüglich Mengen, Lieferwegen und Preisen; die technischen und wirtschaftlichen Wertschöpfungsketten – das zieht Investitionen, Technologien und am Ende Arbeitsplätze aus Deutschland ab. Rotoren für Windmühlen werden nicht mehr in Deutschland produziert, Northvolt überprüft seine Batterieproduktion in Schleswig-Holstein und denkt an die USA. Deren Subventionspolitik tut ein Übriges. Nicht zu vergessen: die OECD legt dar, welche gewaltigen Konsequenzen für Wirtschaft und Umwelt es haben wird, wenn Kupfer, Kobalt und andere Rohstoffe in dem Umfang abgebaut werden, wie es bei vollständiger Elektrifizierung der Wirtschaft erforderlich wäre.

Die Lieferketten für Medikamente sind global; die Wirkstoffe kommen zu mehr als 70 Prozent aus China, gerade im Bereich der Antibiotika. Man kann das ändern wollen – dann muss man gerade in unseren demokratischen Gesellschaften erklären, was das kostet an Zeit und Geld und wer die Rechnung bezahlt.

Mit den Augen des anderen sehen

Automobile werden für weltweite Märkte hergestellt, China ist davon der größte. China ist führend in Bereichen wie autonomes oder assistiertes Fahren, Technologieoffenheit der Antriebe, Nutzung von künstlicher Intelligenz – man kann die Liste gerne verlängern; vielleicht glauben ja in Deutschland und Europa manche im öffentlichen Raum, dass China oder Japan oder andere in Asien auf Deutschland oder Europa warten. Und Abhängigkeit reduzieren? Was wird denn geschehen, wenn sich die europäischen Hersteller auf das Segment größerer Fahrzeuge mit elektrischen Antrieben konzentrieren und damit asiatischen Herstellern bestimmte Marktsegmente und Technologien überlassen, auch in Europa? Eine deutsche Aktiengesellschaft darf, weder gegenüber ihren Aktionären noch aus rechtlichen und wirtschaftlichen Gründen, einfach mal so einen Markt aufgeben. Unser Wirtschaftsministerium muss analysieren, mit den Unternehmen besprechen, öffentlich darlegen, welche Folgen eine mögliche Abspaltung des Chinageschäfts für die deutsche Wirtschaftskraft, die Arbeitsplätze, die Steuereinnahmen oder auch die Aktienkurse, vielleicht auch für den Sitz solcher Unternehmen haben kann.

Ganz allgemein gesagt: man sollte internationale Entwicklungen immer auch mit den Augen des anderen sehen, klug analysieren und verschiedene Interessen und Sichtweisen abklopfen auf gemeinsame Schnittmengen – alles andere ist bestenfalls dumm, wahrscheinlich gefährlich.

So entsteht auch eine Propaganda-Formel: China sei wie Russland. Wirklich? Russland hatte 2021 einen Anteil an der weltweiten Wertschöpfung von rund 3,1 Prozent, China rund 18,6 Prozent. Kurz und bündig: der Vergleich zwischen Russland und China im Zusammenhang mit Wirtschaft, Markt, Technologie, Innovation – in jeder Hinsicht ist das weit gefehlt, wenn es um nüchterne Abwägung von Chancen und Risiken im Zusammenhang mit China geht. Führungssystem, Entscheidungen vorbereiten und umsetzen – wie vieles andere auch nicht vergleichbar mit Russland.

Nicht zuletzt: Wir benutzen die gleichen Worte, transportieren mit ihnen einen historischen Kontext, einen Inhalt und glauben, man hätte sich verstanden. So ist es aber nicht und genau deshalb sind persönliche Gespräche, ein dichtes Netz an Kontakten, Zwischentöne und interkultureller Dialog so wichtig. Ich fürchte aber, dass nicht nur in Deutschland zunehmend auf innenpolitische Legitimierung, auf die Resonanz in der eigenen Echokammer fokussiert wird. Dringend ist das Gegenteil davon: eine inter-disziplinäre China-Kompetenz, die sich aus vielen Quellen, Fachrichtungen und Erfahrungen speist und fähig bleibt zu einem aufklärerischen Dialog.

China-Kompetenz?

Chinas selbst steht vor enormen Herausforderungen. Sie bedrohen die wirtschaftliche und soziale Stabilität, letztlich die Herrschaft der Partei. Sie muss entscheiden, ob sie „Reform und Öffnung“ fortsetzen will oder mit noch stärkerer Repression reagiert. Ich schätze, dass China seine Schiffe nicht noch einmal verbrennen wird (wie geschehen Anfang des 15. Jahrhunderts, als dem Kaiser die Handelsflotte zu teuer wurde).

Covid: Anfangs hatte die Null-Toleranz-Politik angesichts der Corona-Pandemie und der Bilder aus dem Ausland in China hohe Zustimmung. Das ist heute anders. Monatelange Lockdowns, ständiges Testen (in Shanghai kamen Menschen in Karnevalskostümen als Ausdruck von Protest), fortdauernde Reisebeschränkungen (gerade auch in China selbst), fliehende Arbeiter aus zugesperrten Fabriken wie gerade in Zentralchina– die Stimmung ist umgeschlagen. Anfangs war akzeptiert, was den Bedingungen des chinesischen Lebens und Gesundheitssystems geschuldet war, mit großer Bevölkerungsdichte in den küstennahen Städten und Provinzen bei geringerer Leistungsfähigkeit des Gesundheitswesens (Ärztedichte, Versorgung mit Krankenhausbetten und Intensivstationen). Für Ausländer wird das Covid-Regime wahrscheinlich weiter gelockert. Das ändert nichts daran, dass China seine Strategie ändern und wirksame Impfkampagnen durchführen sollte, gerade unter den Älteren.

Der Austausch mit „dem Ausland“ und direkte Gespräche, das findet heutzutage im politischen oder wissenschaftlichen Raum praktisch nicht, im wirtschaftlichen Raum nur sehr eingeschränkt statt. Der Unmut ist groß. Viele Ausländer gehen. Die Folgen reichen bis in den sowieso schon gebeutelten Immobilienmarkt, wenn, wie in Shanghai, zehn Prozent der Wohnungen in bester Lage plötzlich zum Verkauf stehen. Für die chinesischen Entscheider ist das ein Spagat: Null Covid wird von oben vorgegeben, die Umsetzung wird nach unten auf Provinzen und Städte verlagert. Die stehen vor einem schier unauflösbaren Dilemma: die Belegschaften in den Fabriken einsperren, Null Covid erreichen und gleichzeitig die Vorgaben erfüllen für Produktion, Umsätze, Export, Steuereinnahmen – das sind nämlich zentrale KPI für den, bei uns würde man sagen, öffentlichen Dienst.

Mehr als wirtschaftliches Gefälle

Demografie und Innovation: Die demografische Herausforderung Chinas entspricht exakt derjenigen Deutschlands. Chinas Bevölkerung beginnt zu schrumpfen. Schwerwiegender noch: Die Zahl der Erwerbsfähigen sinkt, ihr Durchschnittsalter steigt, die Jugendarbeitslosigkeit verharrt bei fast 20 Prozent. Die jüngere Generation sucht nach Auswegen, auch aus dem manchmal erbarmungslosen Wettbewerb und Leistungsdruck. Die demografische Entwicklung aber wird langfristig eine gewaltige Herausforderung für die Leistungsfähigkeit chinesischer Unternehmen, für die Innovationskraft im Lande und nicht zuletzt für das Gesundheitswesen, gerade im Pflegebereich. Innovation, die erforderlichen Sprünge in der Produktivität – mit den gewaltigen Investitionen in die Infrastruktur, also in Stahl und Beton ist das nicht zu schaffen.

Küste und Land: die wirtschaftliche Entwicklung in China ist vor allem eine der küstennahen Städte und Provinzen. Für sich genommen, ist beispielsweise das BIP der Provinz Guangdong größer als das von Südkorea; aber Guangdong hat um Faktor 2,5 mehr Einwohner (126 Mio. zu 52 Mio.). Wachstum, wirtschaftliche Leistung, internationaler Austausch: fast alles konzentriert sich auf Küstenregionen, darunter vor allem das wirtschaftliche Powerhaus aus Shanghai und den Provinzen Jiangsu und Zhejiang.

Das ist viel mehr als wirtschaftliches Gefälle oder unterschiedlicher Stand der Entwicklung. Der entwickelte Teil Chinas steht direkt gegenüber einer oft noch archaischen Gesellschaft, modern trifft auf traditionell, ja uralt. Vom Land kommen die Frauen und Männer, die als Wanderarbeiter ohne hukou, als nicht am Ort des Aufenthalts gemeldete Menschen schuften. Zurück bleiben Dörfer, in denen Kinder im Wesentlichen mit ihren Großeltern aufwachsen. In den Städten gehen in aller Regel beide Eltern arbeiten, Plätze in Kitas oder Kindergärten reichen nicht aus und die oft privaten Einrichtungen müssen bezahlt werden.

Das und die Angst vor den Kosten einer Krankheit und einer sehr schmalen Altersversorgung treibt die Sparquote auf bis zur Hälfte des verfügbaren Einkommens. China hätte ein riesiges Potential des Binnenkonsums, hätte es nur eine leistungsfähige und vertrauenswürdige Sozialversicherung. Es ist deshalb alles andere als ein Zufall, dass deutsche Versicherungen sich diese Möglichkeiten genau anschauen. Das muss ausgebaut werden, wie jedes Engagement zur Bewältigung sozialer oder gesundheitlicher Aufgaben oder in Umweltschutz, Kreislaufwirtschaft oder Klimaschutz.

Krank machende Luft

Wachstum und Umwelt: die Explosion der chinesischen Wirtschaftsleistung ist einzigartig. China ist, so gesehen, zurück auf dem Platz, den es innehatte in achtzehn der letzten 20 Jahrhunderte (OECD, Madison). China ist heute für die große Mehrheit der Länder der wichtigste Handelspartner und hat in dieser Hinsicht die USA in 20 Jahren von diesem Platz verdrängt. Aber dieses rasante Wachstum hat neue Probleme geschaffen, wie wir aus dem deutschen „Wirtschaftswunder“ wissen sollten. Vor Jahren schon sagte ein Bürgermeister in China öffentlich: was nutzt das Wachstum, wenn unsere Kinder die Luft nicht mehr atmen, wir das Wasser nicht mehr trinken können, ohne krank zu werden. Der Druck auf ein nachhaltiges Wirtschaften ist auch in China groß. Es gibt entsprechende zivilgesellschaftliche Initiativen und Organisationen. Und es gibt die bekannten politischen Ziele: technologische Führerschaft, stärkere Innovation, nachhaltige Wirtschaft. Es gibt auch Erfolge. Nur ein Beispiel: kein Land baut so schnell erneuerbare Energien aus wie China. Trotzdem bleibt der Anteil der Kohle an der Stromerzeugung bei rund sechzig Prozent. Ob man 2030 den Höhepunkt des CO2 Ausstoßes erreicht und 2060 in China klimaneutral wirtschaftet, das ist ehrgeizig, aber möglich. Dabei sind China und andere asiatische Länder risikobereiter, experimentierfreudiger, offener für technische Möglichkeiten, für Innovationen und deren schnelle Entwicklung als wir in Deutschland und Europa.

Wirtschaft und Reichtum: die Spannung zwischen superreich und noch immer arm ist enorm (auch wenn die absolute Armut ausgerottet ist). Man darf nicht vergessen: das Ende der Kulturrevolution mit ihren schrecklichen Verwüstungen liegt noch keine fünfzig Jahre zurück; die Zeit bitterer Armut und hungernder Familien endete erst mit dem Beginn der 1990er Jahre; die in der Wirtschaftsgeschichte einmalige Explosion der wirtschaftlichen Möglichkeiten begann eigentlich erst mit den 2000er Jahren und Chinas Beitritt zur Welthandelsorganisation (WTO). Das ist eine kurze Zeitspanne. Das Volk hat kein Archiv, wohl aber ein Gedächtnis. Und die Erinnerungen an Hunger und Armut werden erzählt, in den Familien, über soziale Medien (wenn auch in Anspielungen und Witzen versteckt). Übrigens: zwischen den Gesellschaften bleibt der Abstand enorm; gemessen an der wirtschaftlichen Leistung (GDP) pro Kopf liegen die USA, Deutschland oder Japan um das Drei- bis Vierfache vor China. Was den Abstand zwischen den armen und den reichen Teilen innerhalb der Gesellschaften angeht (Gini Koeffizient 2020), sind zwei große Länder besonderer Spannung ausgesetzt: die USA und China.

Die Folge von all dem ist: Chinas ungeschriebener Gesellschaftsvertrag wankt, wenn das Versprechen wirtschaftlicher Entwicklung nicht eingelöst werden kann; wenn private und unternehmerische Freiheiten eingeschränkt werden. Mehr noch: In Europa, Nordamerika oder China gibt es so viele „Hausaufgaben“, dass eigentlich niemand internationale Spannungen (oder Schlimmeres) brauchen kann. Im Gegenteil.

Die globalen Herausforderungen haben Priorität

Die Ausgangslage ist fundamental anders als jemals zuvor in der Geschichte. Das ergibt sich aus der Weltbevölkerung, die sich nach dem 2. Weltkrieg mehr als verdreifacht hat. Das geht einher mit gewaltigen Verschiebungen: fast sechzig Prozent der Menschen leben in Asien. Südlich der Sahara lebten einmal so viele Menschen wie im Deutschen Reich vor gut hundert Jahren. Allein in Nigeria leben jetzt 220 Millionen Menschen; es werden in weiteren 25 Jahren rund 400 Millionen sein. In Afrika leben rund 1,3 Milliarden Menschen, in gut 25 Jahren wird sich deren Zahl verdoppelt haben.

Angesichts der weltweiten Herausforderungen und Bedrohungen – wie Klimawandel, Frieden, Massenvernichtungswaffen – sollten wir die Perspektive wechseln, und das schnell und nachhaltig. Mehr Zusammenarbeit, starke internationale Institutionen, eine regelbasierte Ordnung der Welt statt des Rechts der Stärkeren – wir sollten China herausfordern zu diesem Wettbewerb; und beim Wort nehmen.

Die USA verhalten sich schon jetzt klüger und pragmatischer. Sie sprechen von „cooperation, competition, conflict“ mit dem Ziel, Konflikte so zu managen, dass die Gebiete von „cooperation“ und „competition“ nicht gefährdet werden. Praktisch heißt das: die größten LNG Verträge der Geschichte, abgeschlossen zwischen China und den USA Ende 2021, gehen einher mit harten Sanktionen im Bereich der Chip-Technologie; harte politische Auseinandersetzungen gehen einher mit Gesprächen und gemeinsamen Initiativen in der Klimapolitik (die USA haben auch angeboten, dass China bevorzugt amerikanische Umwelttechnik nutzen könne); beißende Rhetorik wechselt ab mit der Einsicht, man könne die jeweils andere Nation nicht ändern; scharfe Kritik an der Lage der Menschenrechte geht einher mit Gesprächen, wie man die Risiken von KI-gesteuerten Waffensystemen beherrschen könne, nicht nur im Weltraum; Tesla führt in China die Liste der Zulassungen der Elektroautos an, exportiert aus China heraus und Spezialisten bringen die amerikanische Produktion auf Vordermann – während Apple in kürzester Zeit zwei Millionen neue iPhone 14 auf JD.Com verkauft – es gibt keine Anzeichen, dass die US-Firmen in den „normalen“ Geschäften mit China behindert würden. Warum sollten wir in Deutschland das tun? Und wenn wir einmal damit angefangen haben, wurden dann präventiv auch mögliche Reaktionen in China durchdacht?

Die Welt wird neu geordnet

In der Tat: Auf die globalen Herausforderungen findet man tragfähige Antworten nur gemeinsam mit China. Das ist harte Arbeit, an den strategischen Linien und den vielen taktischen Varianten. Aber alles deutet hin auf neue Blockkonfrontation. Was bedeutet das für Europa, was für Deutschland? Hier lohnt ein Blick auf einige historische Zusammenhänge.

Europa war über Jahrhunderte prägend für die Welt, im Guten wie im Schlechten. Das währte über 500 Jahre. Nach dem zweiten Weltkrieg war Europa das mögliche Schlachtfeld der globalen Bi-Polarität. In einer neuen Bi-Polarität wird Europa eine belanglose Randerscheinung – oder (endlich) ein umfassend kraftvoller Akteur.

Panchsheel

Stimmen aus China behaupten, die gegenwärtige Weltordnung sei ein westliches Konstrukt und müsse überwunden werden. Deshalb beginne ich mit Panchsheel. Das Wort steht für den Abschluss des ersten Vertrages zwischen Indien und der Volksrepublik China im Jahre 1954. Ziemlich lange her, könnte man denken. Nun, Panchsheel ist die vertragliche Geburtsstunde von fünf internationalen Prinzipien:

-    Gegenseitiger Respekt für die territoriale Integrität und Souveränität,
-    Gegenseitiger Verzicht auf Aggression,
-    Gegenseitige Nicht-Einmischung in innere Angelegenheiten,
-    Gleichberechtigung und Zusammenarbeit zum gemeinsamen Nutzen,
-    Friedliche Koexistenz.

Die Five Principles haben eine steile Karriere gemacht, wenn ich das salopp formulieren darf. Auf Antrag von Indien, Jugoslawien und Schweden wurden 1957 die Prinzipien der friedlichen Koexistenz einstimmig von der Generalversammlung der Vereinten Nationen beschlossen. Welchen Wert die Beschlüsse der Generalversammlung der Vereinten Nationen haben, ist in Chinas politischer Elite bewusst, war es doch die Generalversammlung, die 1975 die „rechtswidrige Vertretung“ Chinas durch Taiwan aufhob und den Sitz der Volksrepublik China zusprach - mit großer Mehrheit, der asiatischen und afrikanischen, auch der europäischen Staaten, gegen die Stimmen der USA. Damit aber nicht genug; China selbst hat diese Five Principles immer wieder in seiner Außenpolitik untermauert, bis in die jüngste Vergangenheit durch Xi Jinping und auch in den Begründungen fast aller seiner Abstimmungen in den Vereinten Nationen.

Deshalb sollte man China und seinen Präsidenten beim Wort nehmen. Dies auch, weil ein anderer Kontext (erstaunlicherweise) im „Westen“ vergessen scheint. Das führt uns nach Bandung in Indonesien. Dort fand 1955 die erste asiatisch-afrikanische Konferenz in der Geschichte statt; sie hat enorme langfristige Wirkungen und wird dennoch von Europa und Deutschland praktisch ignoriert. Das ist erstaunlich (und sehr kurzsichtig) gerade für Deutschland, das zu Recht doch stolz ist auf seine Erinnerungskultur. Indonesien war Ende 1949 unabhängig geworden, nach mehr als vier Jahren Krieg gegen die Niederlande. 1955 kamen erstmals in der Geschichte Regierungschefs aus Afrika und Asien zusammen, vormalige Opfer des Kolonialismus, jetzt 29 unabhängige Staaten. Unter den Teilnehmern, eingeladen von Indonesiens Präsident Sukarno, auch Jawaharlal Nehru und Indira Gandhi aus Indien sowie Zhou Enlai aus China.

Brandts Ost- und Entspannungspolitik

Nehru argumentierte, dass kleinere Länder nicht zur Wahl zwischen großen Blöcken und Mächten gezwungen seien, also zwischen der „ersten“, der westlichen Welt mit ihrem wirtschaftlichen Liberalismus und der „zweiten“, der östlichen Welt mit ihrer staatlichen Planung. Dazwischen gebe es Raum für eine „dritte“ Welt, frei (!) von den beiden anderen durch „positive Neutralität“. „Dritte Welt“? In einem der leider nicht seltenen Anfälle angeblicher politischer Korrektheit wird der Begriff seines historischen Kontextes entkleidet und danach entsorgt, weil damit angeblich schlimmste Unterentwicklung sich paart mit „westlicher“ Arroganz. Nein, Nehru dachte an politische Freiheit (!), an einen unabhängigen Raum eigener Interessen. Das war kühn angesichts der Konfrontation des immer härter werdenden Kalten Krieges und unmittelbar nach dem Koreakrieg.

Von Bandung führt ein gerader Weg nach Belgrad, zur Gründung der „Blockfreien“ in 1961 – und ein etwas verschlungenerer Weg zur Konferenz der Nicht-Atomwaffen-Staaten in Genf 1968, wo der damalige deutsche Außenminister Willy Brandt (in einer fast vergessenen Rede) die Ost- und Entspannungspolitik skizzierte, die dann weltweite Unterstützung erhielt und Voraussetzungen schuf, die in der Deutschen Einheit mündeten.

Übrigens: Zur ziemlich gleichen Zeit, nämlich im Oktober 1967, schrieb Richard Nixon (damals Präsidentschaftskandidat) in Foreign Affairs: „we simply cannot afford to leave China forever outside the family of nations, … There is no place on this small planet for its potentially  most able people …“. Bald nach seiner Amtseinführung, nämlich am 20.21. Januar 1969 schrieb Nixon an Kissinger: „Chinese Communists: Short range – no change. Long range - ... we want contact … (want) China – cooperative Member of international community and member of Pacific community.“ (US State Department, Office of the Historian). Hier sei festgehalten: die Grundlagen der gegenwärtigen Weltordnung sind alles andere als ein „westliches“ Konstrukt. Erinnern wir in Europa uns daran nicht, dann können wir auch China nicht daran erinnern.

Manche denken vielleicht: lange her, weit weg, kaum noch bedeutsam. Weit gefehlt: in Europa verhandelte man Mitte der 1950er Jahre die Verträge zur Bildung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft – EWG. Die Frage der Kolonien und ihrer möglichen Einbeziehung (!) in die EWG, die Suez-Krise oder die erste Konferenz (acht) gerade unabhängiger Staaten Afrikas in Ghana – der innere Zusammenhang, die politische Dynamik einer politischen Neuordnung des Globus und seiner Befreiung vom Kolonialismus sind unübersehbar. Man darf nicht vergessen: erst nach der „Nelken-Revolution“ in Portugal wurden dessen Kolonien 1974 unabhängige Staaten.

Wenn solche historischen Kontexte (wie hier grob skizziert) in Europa und Deutschland nicht einbezogen werden in strategische Überlegungen, auch zu China, dann greifen sie zu kurz. Man könnte überspitzt sagen: mit einem selbstbezogenen und unhistorischen Hochmut blieben wir unter unseren Möglichkeiten und hinter unseren Notwendigkeiten.

Personen

Ein junger Professor der Shanghai Fudan Universität besuchte Ende 1988 die USA. Der sechsmonatige Studienaufenthalt mündete 1991 in dem Buch „America against America“.  Wer Chinas politische Entwicklung verstehen will, kommt nicht vorbei an Wang Huning, auch nicht an seinen Überlegungen zu „The Structure of China’s Changing Political Culture“ (1988), einer Auseinandersetzung mit der „Kulturrevolution“ (ich setze das in Anführungszeichen, weil das Wort zwar eingeführt ist, aber dennoch eine unglaubliche Beschönigung jenes Furors, mit dem Menschen ermordet, Familien zerstört und Hoffnungen vernichtet wurden).

Kurz gesagt: Wang Huning sieht nicht nur fundamentale Unterschiede, bedingt durch Geschichte oder politisches und rechtliches System. Er sieht die Demokratien, namentlich die USA auch auf dem Abstieg, eine schwankende Führungsmacht. Ich füge an: die für die Demokratien wahrscheinlich lebenswichtige Frage lautet, ob und wie verlässlich Demokratien sich auf langfristige strategische Linien einigen können? Wie gut ist die Balance zwischen gegenwärtigen Bedürfnissen und zukünftigen Notwendigkeiten? Das gilt in unseren Gesellschaften und weit darüber hinaus, beispielsweise in dem Aufbau von Vertrauen und verlässlichen Beziehungen zu anderen Staaten.

Manches wird man abwarten müssen und die Wahrheit in den Tatsachen suchen. Was wird tatsächlich geschehen, wirtschaftlich, sozial, ökologisch? Ist Li Qiang als neue Nr. 2 ein Ja-Sager oder wird um Entscheidungen gerungen, wenn auch hinter verschlossenen Türen? Ist der neue zweite Mann geprägt durch Erfahrungen im wirtschaftlichen Powerhaus Chinas, also durch seine führenden Positionen in Zhejiang und Jiangsu Provinz sowie in Shanghai?  Das alles wird man besser beurteilen können, wenn der Nationale Volkskongress im März 2023 vorbei ist und ob der (bis 2025) geltende Fünf Jahr Plan modifiziert wird. Ein Blick in das neue Politbüro weist auf einen möglichen politischen Schwerpunkt hin: Chen Jining und Li Ganjie; beide haben große Teile ihres Werdegangs im Bereich Umwelt verbracht, Chen ist jetzt auch die neue Nummer Eins in Shanghai und Li wird die Abteilung Organisation führen, die besonders mächtige Abteilung in der KP-Zentrale.

Wacht Europa auf?

Henry Kissinger hat einmal gesagt: Deutschland ist zu klein für die Welt und zu groß für Europa. Beides stimmt heute nicht mehr. Ob Europa die Kraft und Entschlossenheit aufbringt, den strategischen Weitblick und die innere Kohärenz, ein eigenständiger und starker globaler Akteur zu werden, das muss sich zeigen. Unsere wirtschaftliche Kraft und Attraktivität, unsere Anziehungskraft als freiheitliche, sozial und ökologisch verantwortungsbewusste Weltregion muss erhalten und ausgebaut werden. Das wird aber nicht ausreichen, um sich weltweit zu behaupten. Eine Gruppe von Staaten, Frankreich, Deutschland und andere, wird wohl vorangehen müssen – entschieden, aber immer offen für jedes Land, das mitwirken will.

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Ingo Frank | Do., 3. November 2022 - 13:25

als „Wegbereiter“ für die deutschen Firmen, die lieber auf bezahlbare Energie, als auf Grünen, und nicht in ausreichender Menge und zur
j e d e r Zeit zur Verfügung stehender Energie setzen, und ihr „Glück“ = in besseren Produktionsbedingungen, als im Buntland Germany suchen..
Mit freundlichen Gruß aus der Erfurter Republik

Christa Wallau | Do., 3. November 2022 - 14:29

Es steht zu befürchten, daß in den Ampel-Koalition kein einziger Minister irgendeine in sich schlüssige und langfristige Strategie hat, und der Kanzler erst recht nicht.

Wie schon bei Angela Merkel lautet das Motto der deutschen Regierung:
Wir fahren auf Sicht und entscheiden ad hoc (aber immer erst nach längem Zögern), wie es weitergehen soll, es sei denn: Eine Entscheidung muß (tatsächlich oder auch nur unserer Einschätzung nach) sofort getroffen werden. In diesem Falle handeln wir so, wie es u n s am meisten nützt bzw. zu nützen scheint.

Das alles hat natürlich nichts von langfristiger Strategie an sich, aber das deutsche Volk läßt sich dieses Gehampel offenbar gern gefallen.
Die einzige Frage ist: Wie lange noch?
Wann bringen die sich oft widersprechenden Ad-hoc Entscheidungen dermaßen schlimme Folgen für die Bürger mit sich, daß selbst der letzte Regierungsgläubige zu zweifeln beginnt?
Dann wird's eng.

Hans Jürgen Wienroth | Do., 3. November 2022 - 14:29

In diesem Artikel steckt viel Wahres, dass sich unsere Politiker zu Herzen nehmen sollten. Scholz sollte Xi darauf hinweisen: Wer für den Weltmarkt produzieren will, der muss verlässlich sein! Ansonsten sucht sich der Markt andere Lieferanten. Das gilt für IT-Chips genauso wie für Medikamenten-Grundstoffe. China kann für seine Zero-Covid-Strategie nicht Menschen auf der ganzen Welt sterben lassen. Ein Angriff Chinas auf Taiwan würde die Weltwirtschaft incl. China umgehend ruinieren.
UNO und WTO haben ebenfalls keine eigene Strategie und sind so zum „zahnlosen Tiger“ verkommen. China und andere versuchen ihre Handelspartner über den Tisch zu ziehen und die WTO schaut auf Regeln des letzten Jahrtausends. Das fängt bei Währungsparitäten an und hört bei Strafzöllen auf. Auch das ein Versäumnis „des Westens“, der sich zu lange auf seine „Wertepolitik“ beschränkte, Partner belehren wollte, statt mit ihnen auf Augenhöhe Vereinbarungen zu treffen. China organisierte derweil „Netzwerke“.

Georg Kammer | Do., 3. November 2022 - 15:00

Wieder eine sinnlose teure Reise, die nichts bringt und die Welt lacht weiter über Deutschland und den Ausverkauf an China.
Und wenn man glaubt es geht nichts mehr, kommt uns Olaf mit noch mehr Wumms daher.
Gerade Pressekonferenz, Westbalkan Staaten.
Ihr Beitritt ist in unserem Interesse, wegen Putin, was sonst.
In meinem überhaupt nicht.
Hier ist der Grund:
Serbien: 3,1 % Muslime
Nordmazedonien: 33,33 % Muslime
Albanien: 57 % Muslime
Bosnien - Herzegowina: 50,7 % Muslime
Kosovo: 95,61 % Muslime
Montenegro: 16 % Muslime

Deutschland: 5,7 % Muslime, zur jeweiligen Gesamtbevölkerung.
Sie können dann alle mit dem Personalausweis einreisen.
Was für eine Bereicherung für die EU und dem Zahlmeister Deutschland.
Ich freue mich schon auf die vielen neuen Moscheen und Döner - buden.
Genauso währe es doch bei unserem Fachkräftemangel, in jede zukunftsrelevante Firma, gleich Chinesen in die Vorstände zu berufen.
Das spart viel Zeit und Stress.

Dorothee Sehrt-Irrek | Do., 3. November 2022 - 19:30

Medial wurde Rudolf Scharping nie so rübergebracht, wie er sich selbst jetzt darstellen kann, als ein Experte für internationale Politik in Zeiten globaler Interdependenzen.
RESPEKT
Ich wage dennoch zu sprechen zu kommen auf ein Land, eine Region, die Genosse Scharping evtl. etwas stiefmütterlich behandelt, Russland.
Gerade weil Scharping die bedeutende Rolle hervorhebt, die China in der Finanzkrise für Asien, ja wohl auch für die USA hatte.
Russland etwa nicht?
Mein Eindruck war, dass Russlad sowohl loyal zu Europa stand, wie auch den USA.
Mein weiterer Eindruck ist, dass der hier von Scharping gezeigte globale Weitblick und Überblick, keine Chance hat, Realität zu werden, obwohl alles dafür vorhanden ist, wenn sich ein Land der Welt zum mächtigsten und einzigen der Welt aufbauen möchte.
Da stehe ich vor und glaube mich in der Steinzeit, während der Rest der Welt Moderne und Verständigung wahrwerden lassen könnte.
Und das liesse sich auf Trump reduzieren?
Sie träumen Herr Scharping:(

Fritz Elvers | Fr., 4. November 2022 - 00:42

ist jetzt fertig. Man will dort eie noch genauere Atomuhr installieren. Ok, Scharping gibt sich hier als China-Kenner. Er war ja sechs Jahre dort. Niemand hat ihn vermißt, Er schreibt zu diesem und jenem, zitiert Sun Tzu mit einem mehr oder weniger sinnlosen Satz und erinnert an eine Flottenverbrennung Anfang des 15. Jahrhunderts, die sich wohl nicht wiederholen wird.

Ein Weckruf? Ich bin plötzlich sooo müde.

Ernst-Günther Konrad | Fr., 4. November 2022 - 09:26

Natürlich kann man mit jedem Land der Erde Handel betreiben und sollte es auch je nach eigenem Nutzen auch moderat und mit Distanz tun. Auch mit China und anderen kann man Handel treiben, wenn man nicht danach sortiert, wer gerade aktuell der eigenen Moralvorstellung entspricht und welches Land zur eigenen Ideologie passt. Die Frage ist doch nur, wie abhängig macht man sich im Einzelfall von einigen Ländern und wie sinnvoll ist es, eigene Fähigkeiten und Wissen dem Ausland preiszugeben, nur weil man dort billiger produzieren kann. Wohin Abhängigkeit führt sehen wir gerade bei der Energiepolitik. Aber auch geopolitisch und verteidigungspolitisch haben wir uns in eine Abhängigkeit begeben, sind selber nicht mehr in der Lage uns ausreichend zur Wehr zu setzen. Bündnisse natürlich, aber immer nur soweit, wie wir selbst in der Lage sind zu bestehen. Und genau da liegt das Problem. Wir haben nichts mehr und wir können fast nichts mehr ohne andere, wollen die aber alle moralisch erziehen.

Dorothee Sehrt-Irrek | Fr., 4. November 2022 - 09:52

nicht einmal auf z.B. die USA reduzieren, denn wie kommen die USA in manchen Ländern zum Zuge?
Träumt da etwa ein Großteil der Welt von der angeblich möglichen Weltherrschaft oder wenigstens ein paar Krumen, die dann für das eigene Land abfallen?
Ich nicht und deshalb schaue ich zuerst auf die Stabilisierung der EU bzw. Europas, bevor einige europäische Länder "Stosstrupps" bilden sollen.
Das wird problematisch, wenn man es hinterher nicht mehr zusammenbekommt.
Aber natürlich soll sich jedes europäische Land auf seine Weise einbringen können.
Ich bezweifle nur, dass z.B. die eventuelle Zusammenarbeit Polens mit der Ukraine und den USA, Europa nach vorne gebracht hätte.
Das Deutsche Reich war schon evtl. verblendet, will da wirklich jemand weitermachen?
Kurz, m.E. herrscht ein riesiges weltweites Kuddelmuddel.
Davor sollte man keine Angst haben, vielleicht beruhigt es sich irgendwann.
Deutschland sollte sich jedenfalls nicht übernehmen, wenn es sich nicht schwächen will.

Das Deutsche Reich und die Russen waren immer übermächtige Gegner?
Wie sind denn die Deutschen überhaupt nach Ostpreussen gekommen?
Gegen wen hat Polen sie denn geholt, wenn nicht gegen Ostpreussen?
Keine Frage, das Deutsche Reich sah irgendwann wohl auch in Russland die schlimmsten Feinde.
Ich kann vielleicht noch nachvollziehen, dass Deutsche vor den Russen bibberten, aber Polen?
Die bräuchten im Ernst die USA, um Russland zu schwächen?
Vielleicht bin ich noch relativ gefasst und nur sehr traurig, weil ich keine Sekunde lang angenommen habe, dass Russland Skandinavien, Polen oder das Baltikum angreift.
Sie haben es klar gesagt, dass sie meinen, mit diesem Überfall auf die Ukraine einen Verteidigungskrieg zu führen.
Mit dem Putsch in der Ukraine standen die Zeichen wahrscheinlich auf Krieg.
China kann sicher auch mit einem nicht einverleibten Taiwan leben, nicht aber mit der militärischen Großmacht USA in Taiwan.
Aber noch einmal gefragt, wie können Polen anders, als Russen verstehen?