„Für dich immer noch Monsieur le Président de la République“: Emmanuel Macron verbittet sich Vertraulichkeiten / dpa

Der Flaneur - Herr Scholz und Sir Elton John

Olaf Scholz ist nur noch Herr Scholz und nicht mehr Herr Bundeskanzler. Unser Kolumnist Stefan aus dem Siepen hat die Bedeutung von Titeln in unserer modernen Welt beobachtet.

Stefan aus dem Siepen

Autoreninfo

Stefan aus dem Siepen ist Diplomat und Schriftsteller. Von ihm erschien zuletzt im Verlag zu Klampen „Wie man schlecht schreibt. Die Kunst des stilistischen Missgriffs“. (Foto: © Susanne Schleyer / autorenarchiv.de)

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Wenn ein Journalist im Fernsehen den Bundeskanzler interviewt, spricht er ihn in schöner Einfachheit mit „Herr Scholz“ an. Die gleiche Anrede verwendet er auch gegenüber einem Sparkassenleiter oder Fußballspieler – es sei denn, hier entscheidet er sich für „Olaf Scholz“. Wir leben nun einmal in unzeremoniösen, bis auf die Knochen egalitären Zeiten, und Formeln wie „Herr Bundeskanzler“ sind außer Gebrauch geraten. Das Muster für solche Nivellierungen hat bereits die Französische Revolution geliefert: Ludwig XVI. wurde, nachdem man ihn abgesetzt und inhaftiert hatte, mit „Bürger Capet“ angeredet. Damals handelte es sich um eine Provokation, die in pointierter Form zusammenfasste, was die historische Stunde geschlagen hatte; heute bringt „Herr Scholz“ nur noch die ganz normale Wurstigkeit zum Ausdruck.

Präsident Macron wurde bei einer Wahlkampfveranstaltung von einem Jugendlichen mit „Wie geht’s, Manu?“ (Koseform von Emmanuel) angesprochen. Statt erfreut zu sein, dass die junge Generation ein so unverkrampftes Verhältnis zu Politikern pflegt, sagte er, 230 Jahre nach der Französischen Revolution: „Für dich bin ich immer noch Herr Präsident (Monsieur le Président de la République).“ Leider durfte ich ihn nicht wählen, sonst hätte ich es wegen dieses Satzes getan.

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Markus Michaelis | Mo., 17. Oktober 2022 - 17:34

Den Doktortitel außerhalb des akademischen Fachgebiets zu nennen, halte ich eher für überholt. Früher hatte man als Doktor vielleicht eine allgemein Führungs/Vorbildfunktion, aber das scheint mir heute nicht mehr sinnvoll.

"Herr Bundeskanzler" kann je nach Situation sinnvoll sein, da hier eine gesellschaftliche Funktion repräsentiert wird. Jede Gesellschaft lebt auch davon, dass gewisse Normen eingehalten werden. Es ist heute Mode nachzuweisen, dass die Normen willkürlich sind, aber das scheint mir kein Argument dagegen. Man kann Normen nur durch andere ersetzen, man kann eine andere Balance zu individuellen Freiheiten finden, aber abschaffen kann man Normen glaube ich nicht. Ein wohldosiertes "Herr Bundeskanzler" kann dies unterstützen: es macht einerseits dem Bundeskanzler klar, dass er nicht irgendwer ist, sondern besondere Verantwortung hat und Vorbild ist, es macht andererseits "Hinz+Kunz" klar, dass nicht immer jede Meinung jederzeit und jederorts gleich viel zählt.

Gabriele Bondzio | Mo., 17. Oktober 2022 - 18:05

Herr Präsident...

Meine Güte, ich wusste ja das der Bürger Macron (der zeitweilig Präsident geworden) ein recht eitler Zeitgenosse ist.
Jetzt weis ich, das er auch keinen Humor und recht eingebildet ist.

Hochadel, Dienstadel, Schwertadel...gut und schön. Wichtiger ist der Adel des Geistes, wenn er zufällig mit den drei Adelsformen zusammenfällt ist es ok.

"Ich bin, Gottlob! altadelig, / jedoch mein Sohn, das ärgert mich, / zählt einen Ahnen mehr als ich."
-Johann Christoph Friedrich Haug

Manfred Westphal | Mo., 17. Oktober 2022 - 19:06

Da in diesen Zeiten kritische Bürger von Politikern beschimpft werde, als Covidioten, Nazis, Queerdenker, Rechte und dergleichen mehr, ist es doch höflich, diese mit Herr/Frau und Namen anzureden und nicht mit Schwätzer, Dummbacke, Blödfrau usw.

Walter Bühler | Mo., 17. Oktober 2022 - 19:29

Sie haben einen schönen Artikel geschrieben!

Ihr Geschichten aus der Französischen Revolution sind aber doch ein wenig zu schön geraten. 1789 (und auch 1917) spielte doch wohl die nackte Gewalt, die Guillotine und der Blutrausch von Revolutionären und Gegenrevolutionären die entscheidende Rolle.
Mit der egalité war es unter Napoleon und Stalin auch nicht besonders gut bestellt.

Aber sonst: Wunderbar ist die Charakterisierung der heutigen deutschen Gesellschaft:
"Auch passen Rangunterschiede und sprachliche Distinktionen nicht in ein Land, in dem alle ein großes Team bilden."

Ich würde halt nur ergänzen: " ... und in dem alle damit beschäftigt sind, ihren Teamkollegen die Verantwortung und die Arbeit zuzuschieben."

Werter Herr aus dem Siepen, verzeihen Sie einem alten Mann, dass eine so angenehme Lektüre immer wieder so misanthropisch unterbrochen wird! Ich weiß, das gehört sich eigentlich nicht!

Sabine Lehmann | Mo., 17. Oktober 2022 - 20:44

Schlechtes Benehmen, unangemessene Kleidung und unterirdische Rhetorik, das wird doch von der deutschen "Belle Etage" vorgelebt. Ein Vizekanzler mit "Ey, Alter" bis hin zur Infantilität des "Wumms" oder "Doppel-Wumms" scheint man sich dort dem Niveau von RTL-Minus angepasst zu haben, weil wohl davon ausgegangen wird, die Einwohner von Deutschland seien verblödet, begriffsstutzig und unzivilisiert. Für einen Teil mag das sogar durchaus zutreffend sein. Seit Corona und GehAmpel scheint dieser Anteil sogar exponentiell zugenommen zu haben;-)

Marcel Moning | Mo., 17. Oktober 2022 - 20:58

Sehr geehrter Herr aus dem Siepen,

haben Sie vielen Dank für den ebenso launig wie unterhaltsam geschriebenen Artikel; aus meiner Sicht (der eines Historikers und Germanisten) könnte dieses Nachdenken über den Gebrauch von Titeln in einem demokratisch verfassten Herrschaftssystem auch eventuell der Anstoß für eine eingehendere Beschäftigung und einem (sich daraus ergebenden) längeren Artikel zu Titeln und deren legitimierender Funktion sein. In aller Kürze lautet meine Vermutung hierzu, dass aus vornehmlich zwei Gründen Titel nicht mehr "getragen" werden. Der eine Grund ist der (falsch verstandene) Einfluss einer aus den USA nach Europa transferierten Kumpanei-Mentalität (in dem auch das ständige Duzen seinen Ursprung findet; vor allem auf dem Missverständnis beruhend, im Englischen gebe es keine Höflichkeitsform) und der andere der Einfluss der 68-er - Revolte, deren Akteure mit Titeln (auch hier fälschlich) bei ihren Trägern einen erstarrten Autoritarismus vermuten.

Ernst-Günther Konrad | Di., 18. Oktober 2022 - 08:11

Kein Respekt mehr vor dem Amt und vor den Akademikern. Es ist doch eigentlich folgerichtig aus der linksidentitären Sicht. Wenn es unzählige Geschlechter gibt, böse Namen und Begriffe gestrichen werden, Gendersprache eingeführt wird in einigen Bereichen, dann ist der Bruch mit Titeln und akademischen Graden aus deren Sicht zwingend. Wer selbst keine ausreichende Schul-Berufs- und Lebensbildung aufweist, jede Form von Tugend ablehnt und auf dem Weg zur politischen Macht mit gefakten Lebensläufen und Doktorarbeiten, fragwürdigen Professuren Eindruck erzeugen will, der spricht natürlich denen das alles ab, die noch in "alter" Manier und echter Arbeit sich ihre "Anrede" verdient haben. Ja, es gibt sie, die selbst darauf verzichten, ihren akademischen Grade wie eine Monstranz vor sich herzutragen. Herr Dr. Paul und Dr. Grau als Beispiele beim Cicero tun das. Es gibt andere, die führen ihren Titel berechtigt und wie selbstverständlich mit dem Namen. Und was ist da schon eine Amtsbezeichnung.

Ich sehe das wie Sie, Herr Konrad. Ich möchte noch ergänzen, dass man die kulturelle und mentale Entwicklung einer Gesellschaft auch sehr eindrucksvoll am Konsum geistiger Errungenschaften oder dem was man dafür hält, ablesen kann, als da wären: Bücher, Filme, Ehrungen, Preise und TV-Angebote. Wie sehr hier das Niveau abgewirtschaftet wird, zeigen aktuelle "Erscheinungen" wie zum Beispiel "Blutbuch" oder die "Kunstwerke" der Documenta in Kassel. Zum Gekritzel und sonstiger Performance in Kassel wurde schon genug getextet, die gestrige Buchpreisverleihung an Kim de L´Horizon(der Name ist Programm) zeigt, wie weit man kommen kann als Vertreter einer gesellschaftlichen Minderheit mit sexuellen Eigenheiten, dem Hang zu Voyeurismus, Darstellung grenzwertiger Sexpraktiken und schrillen Auftritten: Buchpreis 2022. Das Bemühen unserer woken Medien, diese Entscheidung zumindest als "sympathisch" zu kategorisieren, zeigt wo die Reise hingeht! Diese Pilcher-Glow-up-ey-Alter-Republik ist fertig.