
- Putins Annexion und Selenskijs Antwort
Wladimir Putin annektiert nach den Scheinreferenden das von seinen Soldaten besetzte Territorium in der Ukraine. An der für Russland wenig erfreulichen Wirklichkeit auf dem Schlachtfeld ändert das wenig.
Für alle mit gutem Gedächtnis ist es ein Déjà-Vu: Der gleiche Saal, fast der gleiche Putin, im Großen und Ganzen dieselben Zuschauer, derselbe pseudojuristische Akt. Sogar die Aftershow-Party auf dem Roten Platz ist dieselbe wie damals. Wladimir Putin hat gestern versucht, das zu wiederholen, was er im März 2014 mit der Annexion der Krim getan hat: mit einem handstreichartigen Anschluss neuer Territorien die Macht seines Landes unter Beweis zu stellen und der Liebe seines Volks zum großen Führer wieder Nahrung zu geben.
Putin hat viel und lang geredet: über die andauernde Besatzung Deutschlands und Südkoreas, über historische Ungerechtigkeiten, darüber, dass die Russen nicht in einem Land leben wollten, in dem Vater und Mutter nur noch Elternteil 1 und Elternteil 2 heißen sollten. Über die Gründe, warum Russland nun neue Territorien annektieren muss, hat er praktisch nicht geredet.
Sehr viel unterscheidet den gestrigen Tag vom 18. März 2014. Damals war die Annexion der Krim praktisch ohne einen abgegebenen Schuss über die Bühne gegangen, der noch orientierungslose ukrainische Staat musste hilflos zusehen. Und selbst Menschen in Russland, die Putin eher kritisch gegenüberstanden, hießen die Annexion gut. Der Westen reagierte mit kaum spürbaren Sanktionen auf den Rechtsbruch.
Angst und Verunsicherung
Heute dagegen ist die russische Gesellschaft nach sieben Monaten Krieg verunsichert: Aus einer im Februar begonnenen „Spezialoperation“ ist ein Krieg mit Zehntausenden Toten allein auf russischer Seite geworden, wie ihn das Land seit dem Zweiten Weltkrieg nicht gesehen hat. Hunderttausende Männer fliehen vor der „Teilmobilisierung“ aus dem Land, mit der Putin den wichtigsten (inoffiziellen) Eid seiner Regierungszeit gebrochen hat: Ihr beschäftigt euch mit eurem Privatleben und überlasst uns die Politik, dann lassen wir euch in Ruhe. Und plötzlich kommen Einberufungsbescheide in ganz normalen russischen Familien an. Wozu das führt, hat das unabhängige Meinungsforschungsinstitut Lewada in einer Umfrage herausgefunden: Fast die Hälfte der Russen verspürten Angst oder Verunsicherung, als Putin die „Teilmobilmachung“ verkündete, ein weiteres Viertel verspürte einen „Schock“, 13 Prozent Empörung, ähnlich viele Niedergeschlagenheit. Nur 23 Prozent antworteten: Stolz auf Russland.
Der Westen hat als Reaktion auf Russlands Aggression Sanktionen beschlossen, die die russische Wirtschaft um Jahre zurückwerfen, auch wenn ihre Wirkung für den normalen russischen Rentner noch nicht zu spüren ist. Russland ist zum internationalen Paria geworden, China und Indien, selbst der lange Zeit enge Verbündete Kasachstan, halten kritische Distanz zu Putin, um nicht mit in den Strudel gezogen zu werden.