Michail Gorbatschow
Michail Gorbatschow im Jahr 1990 / picture alliance

Zum Tod von Michail Gorbatschow - Warum die deutsche Gorbimanie ein Irrtum ist

Einzig in Deutschland wird Michail Gorbatschow zur Lichtgestalt verklärt, auch die Nachrufe ähneln Heiligenerzählungen. Doch das geht meilenweit an der politischen Realität vorbei. Die Wiedervereinigung wollte er eigentlich verhindern, seine Wirtschaftsreformen waren eine Katastrophe – und in Riga, Vilnius, Tiflis und Baku zeigte sich der Friedensnobelpreisträger als brutaler Imperialist.

Autoreninfo

Thomas Urban ist Journalist und Sachbuchautor. Er war Korrespondent in Warschau, Moskau und Kiew. Zuletzt von ihm erschienen: „Lexikon für Putin-Versteher“.

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Kaum ein Nachruf in den deutschen Medien, in dem Gorbatschow nicht überschwänglich für das „Geschenk der deutschen Einheit“ gedankt wird; der Visionär habe Mauern eingerissen und Raketen verschrottet, somit den Weltfrieden sicherer gemacht und deshalb zu Recht den Friedensnobelpreis erhalten. All diese Lobpreisungen lesen sich wie ein neues Kapitel der deutschen Gorbimanie, die in der zweiten Hälfte der achtziger Jahre die Nachbarn in West und Ost allerdings stark befremdet hat. Auch heute stehen die Deutschen ziemlich allein mit dem Glorienschein, mit dem sie den einstigen Kremlchef zeichnen. 

Die internationale Presse hingegen hob in ihren Nekrologen seine Widersprüchlichkeit hervor, bei der New York Times, dem Guardian, Le Monde, El País oder der Gazeta Wyborcza war man sich darin einig, dass Gorbatschow zwar viele gute Absichten, aber keine Konzepte zu ihrer konsequenten Realisierung gehabt habe, somit politisch letztlich gescheitert sei. Präzise wird nachgezeichnet, dass er sich in seinen sechseinhalb Jahren an der Macht gewandelt habe, vom Kommunikator, der auch die Begegnung mit dem Volk sucht, zum zunehmend einsamen Kremlherrn, der sich abgeschottet und gereizt auf jede Kritik reagiert habe. So ließ er dem Menschenrechtler Andrej Sacharow unwirsch das Mikrofon abschalten, als dieser bei einer Anhörung im Obersten Sowjet schwere Übergriffe der Sicherheitsorgane beklagte.

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Tomas Poth | Do., 1. September 2022 - 12:06

Eine andere Sichtweise, eine von vielen die natürlich auch von der eigenen Position, Sichtwarte beeinflußt ist.
Es ist gut die verschiedensten Auffassungen zu kennen, um das eigene Bild zu vervollständigen.
Der wichtigste Grund für den Zusammenbruch der SU und der mit ihr verbundenen sozial-faschistischen totalitären Welt war die Unterdrückung der Freiheit und das marode Plan-Wirtschaftssystem. Alles andere sind Beigaben. Soweit meine Einschätzung.

Alexander Brand | Do., 1. September 2022 - 12:08

fehl am Platz, er hat ja primär nicht aus Menschenliebe so gehandelt, wie er gehandelt hat, sondern weil das kommunistische Imperium das er führte, ob seines nicht funktionsfähigen Systems, finanziell kollabiert ist (ähnliches steht uns auch bevor). Dennoch muß man ihm anrechnen, daß er den Übergang recht gut hinbekommen hat, zumindest für viele der damalig unter der Regie der Sowjetunion stehende Staaten. Es hätte auch anders kommen können.

Die Deutschen haben einen Hang dazu Menschen zu verehren, die es ganz und gar nicht verdient haben verehrt zu werden. So z.B. den kommunistischen Diktator Fidel Castro, er nahm seinem Volk alle Freiheiten und den Wohlstand und wird in Deutschland als Held vergöttert!

Che Guevara ist noch so ein Fall, Lenin, Marx und selbst die schlimmsten Massenmörder aller Zeiten Mao und Stalin werden in diesem Land ganz offen und ohne jegliche Konsequenz als Helden verklärt, ihr Konterfei auf Kleidung zur Schau getragen.

Menzel Matthias | Do., 1. September 2022 - 12:54

diese Einschätzung und die vom Autor bemängelten Artikel und mische es gründlich durch. Dann kommt man der Realität sehr nahe. Keine heiligen Figur, getrieben durch die Realität hat er aber für Deutschland die Wiedervereinigung ermöglicht.
Ohne ihn wäre es nicht passiert. Da haben noch andere geholfen, dessen bin ich mir bewusst. Trotzdem bin ich an dieser Stelle ihm dankbar, wie auch weiteren Personen.
Dass die Chancen danach hier in Deutschland von den nächsten Regierungen mehr als vertan worden, steht auf einem anderen Blatt.

Karl-Heinz Weiß | Do., 1. September 2022 - 13:36

Der Beitrag zeichnet ein realistischeres Bild des Verstorbenen als die deutschen Medien. Die brutale Unterdrückung der DDR-Opposition war aber durchaus eine Option. Ein größeres wirtschaftliches Chaos als beim Zerfall der UdSSR wäre dadurch nicht zu erwarten gewesen. Und Frankreich und GB hätten Sanktionen allenfalls halbherzig unterstützt. Die Rolle des früheren Papstes wird sehr eindrucksvoll dargestellt.

Ernst-Günther Konrad | Do., 1. September 2022 - 15:48

Ähnliche Hintergrundanalysen las ich auch in anderen Artikeln Herr Urban. Ich will dem nicht widersprechen. Dass die Russen ihre großes Reich durch Gorbatschows Politik letztlich zerbröselt bekommen haben, weil er dachte, er können mit "Leine los" , die zuvor erzwungene Gemeinschaft durch Unterwerfung und Besetzung des gesamten Ostblocks, nunmehr durch freiwilligen Zusammenschluss erreichen und das gewaltfrei, ist aus der Sicht der Hardcore Kommunisten natürlich der Fehler gewesen, der den Zusammenbruch der UdSSR einleitete. Und dennoch kann für uns Deutsche, die angeprangerte "Schwäche" oder "Fehleinschätzung" Gorbatschows, auf diese Weise das Riesenreich zu sichern, in Hinblick auf die Möglichkeit, ohne einen Schuss zur Wiedervereinigung zu gelangen, unsere Haltung ihm gegenüber allenfalls etwas eintrüben. Fragen Sie die Menschen, die ganz persönlich durch die Teilung des Landes betroffen und der anschließend Unterdrückung in der DDR am Körper leid ertragen haben, was für sie zählt

Natürlich gibt es Menschen, die Glasnost und Perestroika in der Sowjetunion als Zündschnur des Mauerfalls deuten und persönlich Gorbatschow danken. Das war aber nicht der Hintergrund von Glasnost und Perestroika. Als 1986 Gorbatschow dies verkündete, hatte er nicht die Auflösung des Ostblocks sondern das Überleben der Sowjetunion im Sinn. Die Geister, die er damit rief, konnte er nicht mehr aufhalten und änderte die Strategie, dass jeder Ostblockstaat selbst zusehen soll, wie diese über die Runden kommen. Dass dabei die Sowjetunion zerfällt, stand auch nicht für ihn zur Disposition (Blutige Auseinandersetzungen in den baltischen Sowjetrepubliken). Immerhin überließ Gorbatschow seinem Nachfolger einige Milliarden Devisen durch den Verkauf der DDR an die Bundesrepublik (Ja zur deutschen Wiedervereinigung).

Gleiches las ich auch in verschiedenen Abwandlungen in anderen Artikeln. Wenn es so war und dafür spricht letztlich auch die Geschichte Herr Böhme, dann ist das die eine Seite der Medaille. Die andere Seite ist aber die Wiedervereinigung, ob Gorbatschow im russischen Sinne "falsch" gehandelt hat oder nicht. Ob es von ihm Absicht war oder nur ein Denkfehler, der das Gegenteil von dem erzeugte, was er wirklich für sich vielleicht erhoffte. Für uns Deutschen brachte es das Ende der Teilung, was wir beide ja auch ausdrücklich gut heißen.
Und ja, auch dieser von Ihnen geschilderte Hintergrund gehört zur geschichtlichen Wahrheit und wurde von Ihnen, wie von einigen anderen Foristen völlig zurecht hier niedergeschrieben.
Deshalb weist auch der Ukraine Krieg verschiedene Facetten auf, die es gilt, emotionsfrei darzustellen, um Abläufe besser zu verstehen und einordnen zu können. Das macht diesen russ. Überfall an keiner Stelle besser. Denn wer Lösungen finden will, muss die Historie kennen.

Gabriele Bondzio | Do., 1. September 2022 - 17:05

mit Säbelrasseln und finanzieller Erpressung erzwungen..."...

Die Sicht auf Gorbatschow mag verschieden sein, aber meine Sicht auf ihn sehe ich nicht wanken.
Insbesondere nicht, weil gerade jetzt so gegen Russen(und nicht nur die Elite) ausgeteilt wird.

"So mancher, der draußen in der Welt durch große Talente bekannt, angesehen und allgemein beliebt ist, hat seinen Angehörigen keine Achtung abnötigen können und gilt als ein unbedeutender Mensch im eigenen Haus."
-Jean de La Bruyère

Achim Koester | Do., 1. September 2022 - 18:04

Diese Frage mag als Leitlinie der Beurteilung Gorbatschows in den deutschen Medien gelten, wir als Deutsche hatten nun einmal den größten Nutzen von "Gorbis" Entscheidungen. Und wie das so ist auf der Welt, gab es auf der anderen Seite der Waage die Verlierer, deren politische und wirtschaftliche Lage sich deutlich verschlechtert hat. "Gut gemeint ist schlecht gemacht" könnte als Fazit über sein Lebenswerk geurteilt werden. Freuen wir uns einfach, dass es dieses Mal zu unseren Gunsten ausgegangen ist.

Brigitte Simon | Do., 1. September 2022 - 18:37

Die aktuelle Gorbimanie erstaunt mich auch. Seit einiger Zeit verlor Gorbatschows politischer Nim-
bus, dieser erhält nunmehr weniger Strahlkraft.
Danke Herr Urban für Ihren ausgezeichneten Artikel.

Eine Frage beschäftigt mich. Hat der Westen die Russen getäuscht? Auch der Schweizer Historiker Christian Nünlist kommt nach der Auswertung aller wesentlichen Studien zu folgendem Ergebnis:

Konkrete westliche Garantien bezogen sich 1990
nur auf die DDR. Aber der Westen täuschte die Sowjetunion gleichzeitig mit vagen Versprechen einer kooperativen, inklusiven europäischen Sicherheitsordnung, während die Bush-Reg-ierung bewußt die Nato(ohne die UdSSR) ins Zentrum der neuen Sicherheitsstruktur rückte.

Es stimmt, Kohl , Genscher, Baker liebäugelten mit diesem Deal. Es gab nichts schriftliches. Das gab es auch nie. Denn Bush ließ Genschers Überlegung eines Ausgleich bedachten Außenminister unter den Tisch falle. Stattdessen eine andersarige Partnerschaft versprochen. Zu der es niemals kam.

Lubjuhn, Klaus D. | Do., 1. September 2022 - 19:12

"Lichtgestalt" - der Gebrauch des Wortes als Zuschreibung für Politiker - und dann noch für den ersten Mann eines Riesenreiches kann nicht unironisch sein. Wer gar - geprägt durch die Sozialisation seines polnischen Lebens -raumes, über den Generalsekretär der UdSSR urteilt, hat ganz andere Kriterien
zur Hand als bundesdeutsche Autoren. Wie anders?
Ob sie aber das positive deutsche Urteil in Deutschland - z.B. des Bundeskanzlers über Gorbatschows Leistung als mutigen Weltpolitiker - überlagern, gar zunichte machen können?
Statt vieler Sätze des Autors: "...doch das Machtmonopol der KP blieb tabu".
Kritik des Autors, die in Richtung auf unbegrenzte Machbarkeit und Umgestaltung des Riesenreiches hinausläuft, ist schlichtweg unrealistisch.
Und was ist mit dem Zeitkontingent, das Gorbatschow für Reformen blieb?
Was wäre nicht alles wünschbar gewesen - aus polnischer Perspektive?
Für die meisten Deutschen war Gorbatschow ein Glücksfall.

Dr.Andreas Oltmann | Do., 1. September 2022 - 20:44

Ihrem Artikel, Herr Urban, entnehme ich, dass Gorbatschow nur auf finanziellen und militärischen Druck der USA so gehandelt hat, wie er gehandelt hat. Den Friedensnobelpreis hat vermutlich nur bekommen, weil er in Deutschland so gerne gesehen war, alle anderen ihn aber durchschaut haben. Auch eine Sicht der politischen Entwicklung, nahe am Besserwissertum. Dass er in der Lage war, mit Kohl ein Vertrauensverhältnis aufzubauen, ist vermutlich nur seiner Unfähigkeit zu verdanken. Dass die beiden, zusammen mit anderen, dann soviel bewegt haben, könnte man ruhig mal anerkennen. Ich sehe keinen Politiker bei uns, der nur annähernd ein Verständnis für globale Zusammenhänge erkennen lässt.
Respekt und Empathie geht jedenfalls anders, als Sie es beschreiben.

Jörg Karstens | Do., 1. September 2022 - 23:45

"sein starker südrussischer Akzent wurde von den Moskowitern bespöttelt" - aha. Und jetzt? Ein Artikel der von "hätte, wäre, wenn strotzt" und als Conclusio den Kapitalismus als Ende der Geschichte verklärt. Tatsache ist: Gorbatschow hatte die Wahl, er hat sich entschieden. Für Frieden, für - bei allen Grautönen - Menschenrechte, für das Selbstbestimmungsrecht der Völker. Was für ein Kontrast zum Kremlzwerg heute. Danke Gorbi!

Bernhard Homa | Fr., 2. September 2022 - 00:23

garniert mit teleologischem Reduktionismus, bei dem sich der Autor dann "Akten und Fakten" so zusammenbastelt, wie es seiner Weltsicht entspricht (die, NB, bereits an den Gegenbeispielen Nordkorea oder Iran scheitert). Eine fachlich fundiertere Einschätzung vom Zerfall der SU und Gorbatschows Rolle darin findet sich auf Zeitgeschichte digital oder dem dekoder, wen es interessiert.

Aber Urban kann sich ja mal überlegen, welcher Erfolg der Solidarnosc oder der DDR-Bürgerrechtsbewegung beschieden gewesen wäre, wenn statt "Gorbi" ein Putin, Chruschtschow oder gar Stalin 1989 das Sagen gehabt hätte.

Und selbstverständlich anerkennt auch die ausländische Presse, unabhängig von der ambivalenten Bewertung seines politischen Handelns, Gorbatschows überragende staatsmännische Bedeutung für die Welt. Niemand anderes als US-Präsident Biden hat das in seinem Statement zu Gorbatschows Tod zum Ausdruck gebracht.

Norbert Heyer | Fr., 2. September 2022 - 07:30

Für die Deutschen war und ist Gorbatschow ein Held - und wird es auch immer bleiben. Er ermöglichte etwas, womit keiner gerechnet hat: Die deutsche Wiedervereinigung. Das ihn ausschließlich geopolitische und wirtschaftliche Gründe dazu gezwungen haben, wird hier gerne verdrängt. Auch das lediglich der US-Präsident ein Befürworter war und sämtliche westlichen „Freunde“ die Wiedervereinigung ablehnten, entspricht den Tatsachen. Der Übergang gelang friedlich, ohne Blutvergiessen und entzauberte die kommunistische Führung in der DDR und offenbarten ihre ganze Erbärmlichkeit. Die Russen zogen sich zurück, sie bekamen sehr viel Geld von Deutschland und verloren ziemlich schnell ihre Bedeutung als Weltmacht. Es kam zu einem historischen Niedergang, der gesamte Ostblock zerfiel und die nicht gelösten Probleme führten im Endeffekt zum heutigen Ukraine-Krieg. Der Westen wollte keinen ehrlichen Frieden und eroberten einen Staat nach dem anderen, bis eben jetzt Putin deshalb den Krieg anzettelte.