Judensau am Regensburger Dom
Nicht die einzige „Sauerei“: Auch den Regensburger Dom ziert bis heute eine „Judensau“. Doch das Relief an der Stadtkirche in Wittenberg hat eine unvergleichliche historische Dimension / dpa

Identitätspolitik und Rechtssprechung - „Judensau“-Urteil: Unser ungleicher Umgang mit Minderheiten

Der Bundesgerichtshof (BGH) genießt hohes Ansehen in Deutschland – obwohl oder gerade weil er da und dort auch in Debatten, die die Gesellschaft spalten, einer Seite recht geben muss. Nun aber hat er ein Urteil gefällt, dass wegweisend sein dürfte. Vielleicht nicht in juristischer Hinsicht, sondern in der Kunst, sich zwischen alle Stühle zu setzen. Denn der Zeitgeist scheint auch vor den Toren höchster Rechtsgelehrtheit nicht haltmachen zu wollen.

Autoreninfo

Julien Reitzenstein befasst sich als Historiker in Forschung und Lehre mit NS-Verbrechen und Ideologiegeschichte. Als Autor betrachtet er aktuelle politische und gesellschaftliche Entwicklungen.

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Worum geht es? Auf einer Ebene geht es um einen konkreten Fall, der entschieden wurde. Auf einer anderen um die ungleichen Reaktionen der Gesellschaft in Bezug auf Minderheiten – sie sind eine Gefahr für jene Demokratie, deren Schutz auch Auftrag des BGH ist.

Wittenberg ist ein besonderer Ort für den evangelischen Glauben. Hier soll der katholische Mönch und Theologieprofessor Martin Luther (1483-1546) am 31. Oktober 1517 seine 95 Thesen an das Portal der Schlosskirche geheftet haben, um zur Disputation über den von ihm kritisierten Ablasshandel der Kirche aufzufordern. Das war an sich nichts Ungewöhnliches. Niemand, auch nicht Luther selbst dürfte im Herbst 1517 geahnt haben, dass sein Anliegen eine Spaltung der Kirche zur Folge haben würde – und eine der ersten gezielten, großflächigen Zerstörungen von Kunstwerken, die nicht mehr (religions-)politisch korrekt erschienen.

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Romuald Veselic | Mi., 15. Juni 2022 - 17:24

man dies zum Dogma erhebt.
Womöglich auch Schweine können sich beleidigt fühlen, wenn man sie als unreine Tiere betitelt.
Wo sind wir gelandet?

Für mich sind Mohammeds Karikaturen kein Problem. Sie werden erst zum Problem, wenn die Karikaturisten/Autoren ermordet werden u. es halt, fast mit schulterzucken abgetan wird.
Was ich besonders eklatant finde, dass die lutherisch-evangelische Kirche m. ihrem Bischofstrupp nicht v. Synagoge zu Synagoge pilgert u. sich für ihre Judensau entschuldigt, die erst 300 Jahre nach den Kreuzzügen gemeißelt wurde. Für mich ist Luther nur einer der unzähligen, eifernder Kuttenträgern der letzten 2000 Jahren. Wogegen Luther war, daraus sind heute Attraktionen Weltkulturerbes.

Was ich besonders schlimm finde, dass abschlachten u. morden v. Nichtmoslems in Afrika, zuletzt in Nigeria, am Pfingsten, kaum hier erwähnt wird. Sind die afrikanischen Christen weniger Wert, als die Nichtafrikanischen Christen?
Das ist ein echter Skandal!

"Sind die afrikanischen Christen weniger Wert, als die nichtafrikanischen Christen?
Das ist ein echter Skandal!"

Auch wenn diese Einlassung wirklich vom Thema wegführt, in der Sache muss ich das unterstreichen und unterschreiben. Es ist ein großer Mosaikstein in der Debatte um die Relevanzkriterien in unseren Medien. Man sollte da alle unsere Zeitungen und Rundfunk- / Fernsehanstalten doch noch einmal befragen.

Wolfgang Borchardt | Mi., 15. Juni 2022 - 19:21

Die "Judensau" ist ein seltenes zeitgeschichtliches Dokument dar, von denen schon zu viele verlorengegangen sind. Die Erläuterung stellt den wichtigen historischen Kontext her. Bilderstürmerei sollte nicht zu einer aufgeklärten Gesellschaft gehören. Geschichte wird nicht ausgelöscht, indem man Schilder auswechselt. Gerade die nötigen Diskussionen finden en dadurch nicht mehr statt, das mag bequemer sein. Denn was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß. Ein anderes Urteil, wäre der DDR würdig gewesen, in der man versuchte, Bürger vor dem vermeintlich Schädlichen "schützen" zu müssen. Ist natürlich inzwischen auch wieder da (Framing, cancel culture)

Bernhard Homa | Mi., 15. Juni 2022 - 23:39

Es ist völlig belanglos wofür das infrage stehende Relief früher stand, ob die Nazis sich darauf bezogen oder sonst wer: Inzwischen ist es nur noch historisches Monument, und auch die Eigentümerin (= Kirche) nutzt es eben nur noch so.

Mit dem Kläger, dem Judentum im allgemeinen, oder dem modernen Antisemitismus hat das Relief nun mal schlicht nichts (mehr) zu tun. Daran ändern auch die recht wahllos zusammengeklaubten Argumente des Autors nichts. Für den Kampf gegen antisemitische Tendenzen heute sind ganz andere Punkte relevant – vielleicht wäre es doch schlauer, sich darauf anstatt auf hunderte Jahre alte Steinplatten zu konzentrieren ...

gabriele bondzio | Do., 16. Juni 2022 - 08:13

ist schon ein Kapitel für sich".

zum Thema habe ich meine Meinung gesagt.
Allerdings, werter Herr Reitzenstein, habe ich in den 35 Jahren meines Lebens in der DDR nichts von Antisemitismus mitbekommen.

Im Gegenteil, in der Schule (Fach Geschichte) wurden die Verbrechen der NS-Zeit sehr ausführlich behandelt und auch die früheren Verfolgungen. Pflichtliteratur war u.a. Nackt unter Wölfen. Alle Teilnehmer an der Jugenweihe fuhren davor nach Buchenwald.

Man kann dem System DDR viel vorwerfen, was ich unterschreibe...aber das nicht.
Daraus ist mein Verhältnis zu Juden sehr entspannt-positiv, wie zu anderen Menschen auch.

Ernst-Günther Konrad | Do., 16. Juni 2022 - 10:26

.. muss man aber nicht so sehen. Eine Aussage im Text ist widersprüchlich: " Das BGH-Urteil bedeutet auch, dass Juden sich heute in diesen Fällen nicht wehren können....." Der Kläger konnte sich doch juristisch wehren. Bis zur höchsten zivilgerichtlichen Instanz und der Weg zum BVerfG steht ihm ja auch noch offen, den er lt. Msm auch gehen will, wenn der Urteilstext komplett vorliegt. Er kann und konnte doch dagegen klagen, wieso bedeutet das Urteil, man könne sich nicht wehren. Passt also das Ergebnis nicht, wird die Wehrhaftigkeit in Frage gestellt? Eine sehr seltsame Sichtweise. Tagtäglich müssen Gerichte über Beleidigungen jedweder Art entscheiden und das immer aus neutraler Position und eben nicht aus persönlichem Empfinden heraus. Das mussten selbst prominente Zeitgenossen schon erfahren als ihre Klagen abgewiesen oder die Strafverfolgung abgelehnt wurde. Warum hat nur dieser eine Jude geklagt und warum erst jetzt? Bekanntlich ist das Relief ja schon älter.

Alexander Brand | Do., 16. Juni 2022 - 11:32

"Denn der Zeitgeist scheint auch vor den Toren höchster Rechtsgelehrtheit nicht haltmachen zu wollen."

Genau das ist bei DIESEM Urteil NICHT der Fall!

Der aktuell herrschende linke „Zeitgeist“ gebietet zwingend den christlich-heterosexuellen Deutschen, seine Kultur, Religion und seine Geschichte hinter jeden und alles andere zu stellen – möge er an aller letzter Stelle kommen!

Dieses Urteil entspricht gerade nicht dem Zeitgeist, denn es setzt Verstand und Logik hinter falschverstandene „Haltung“. Es ist ein gutes und weises Urteil.

Ohne das mediale Theater um die „Judensau“ wüßten vermutlich nicht einmal 0,5% der deutschen Bevölkerung um die Existenz und schon gar nicht die Bedeutung dieses Werks.

Wir haben in diesem Land existenzbedrohende Probleme um die wir uns dringend kümmern sollten, Plastiken aus dem 13/15 Jh. deren Existenz/Bedeutung nur eine Handvoll Menschen kennt gehören nicht dazu! Die Klage entspricht dafür dem linken „Zeitgeist“, denn sie lenkt vom Wesentlichen ab.

Gunther Freiherr von Künsberg | Do., 16. Juni 2022 - 15:32

Dass der BGH die Klage nicht aus formellen, sondern aus materiellrechtlichen Erwägungen abgewiesen hat ist ihm hoch anzurechnen.
Bedauerlich ist nur, dass diese BGH-Entscheidung erforderlich war. Wenn Kunstwerke wie Reliefs, Plastiken oder Denkmäler die Prioritäten einer (vergangenen) Zeit darstellen sind diese entsprechend dem damaligen Zeitgeist und nicht entsprechend dem heutigen zu beurteilen. Eine Erläuterung wie der BGH sie als Mahnung verstanden hat ist durchaus sinnvoll, aber m.E. nicht erforderlich, weil die Plastik den damaligen Zeitgeist und nicht den heutigen darstellt. Wenn alle Denkmäler dem heutigen Zeitgeist entsprechenden Erwägungen verschrottet werden müssten die auf Menschen hinweisen deren Handeln oder deren Theorien zu Tötungsdelikten bis hin zu Massenmord geführt haben müssten zuallererst Denkmäler von Marx, Stalin, Lenin &Co eingeschmolzen werden, und geschieht dies nicht wäre es die scheußliche aber logische Konsequenz ein Denkmal von Adolf Hitler hinzuzufügen.