Demonstranten bei einer Kundgebung in Frankfurt
Demo für die Meinungsfreiheit / dpa

Identitätspolitik - Höchste Zeit für die freie Debatte

Meinungs- und Wissenschaftsfreiheit sind das Lebenselixier unserer liberalen Demokratie. Die Politikwissenschaftlerin Ulrike Ackermann sieht diese Errungenschaften durch Identitätspolitik, Cancel Culture und einen bis dato nicht gekannten Moralismus gefährdet. In Ihrem gerade erschienenem Buch „Die neue Schweigespirale“ hält Ackermann ein flammendes Plädoyer für die offene Gesellschaft und die freie Debatte. Cicero dokumentiert Auszüge.

Autoreninfo

Prof. Ulrike Ackermann ist Politikwissenschaftlerin und Publizistin. Sie ist Direktorin des John Stuart Mill Instituts für Freiheitsforschung e.V. in Heidelberg. Foto: Jürgen Englert

So erreichen Sie Ulrike Ackermann:

Es gärt im Wissenschaftsbetrieb. Die Trends der Identitätspolitik sind längst an den deutschen Hochschulen angekommen. Schon zeichnet sich eine Entwicklung ab, die den Spaltungsprozessen der Gesellschaft Vorschub leistet. Neue kollektive Identitäten, die sich aus Geschlecht, Ethnie oder Religion ableiten, verhängen lautstark Redeverbote und stellen den Universalismus der Aufklärung in Frage. Die Heidelberger Politikwissenschaftlerin Ulrike Ackermann plädiert in ihrem gerade erschienenen Buch „Die neue Schweigespirale“ (Verlag WBG/Theiss) für eine breite gesellschaftliche Debatte ohne Denkverbote und ideologische Scheuklappen. Cicero publiziert im Folgenden einen Auszug aus Ackermanns neuem Buch.

Die Schweigespirale

Wir können seit über 20 Jahren beobachten, was die anfangs gut gemeinte Anti-Diskriminierungspolitik, die aktiv ethnische, sexuelle und religiöse Minderheiten förderte, um realexistierende oder vermeintliche Diskriminierung zu beenden, an den Hochschulen im angelsächsischen Raum angerichtet hat: Sie hat ein Regime entstehen lassen, das in rigider Manier die Freiheit der Wissenschaft aushöhlt. 

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Jens Böhme | Fr., 3. Juni 2022 - 09:41

Keineswegs ist es nur eine radikale Minderheit. Mit dem politischen "alternativlos" wurden die Tore für Absolutismus, Autoritarismus und Diktatur von innen geöffnet. Es bemerken nur die wenigsten, dass die Mitte der Gesellschaft selbst an diesem Rad dreht und sich den Boden weggräbt.

Die Substanz, von der wir leben, wurde angegriffen. Es ist schon kritisch geworden s. 2015, ergänzt durch Covid und den UA-Krieg, wird es zunehmend ungemütlicher. Der Beweis für den Spruch: Je schlimmer, desto besser, paßt dazu fast prophetisch.

Albert Einstein sagte irgendwann im 20.Jh, daß der letzte Krieg auf dem Planeten, wird mit Steinäxten ausgetragen.
Zusätzlich, die hiesige Society wird immer dümmer u. die angelernte Fertigkeiten, gehen verloren. Ich freue mich, wenn in den Wolkenkratzern die ersten Aufzüge kaputtgehen werden u. der Techniker erst in zwei Wochen kommt. ?

Ernst-Günther Konrad | Fr., 3. Juni 2022 - 09:48

Man bedenke einmal die Corona Maßnahmen mit den Lockdowns und den vielen Einschränkungen in Hinblick auf das zusammen kommen von Menschen. Es wurde unter dem Deckmantel der Pandemie und des sog. Gesundheitsschutzes für alle jede erdenkliche, perfide Idee umgesetzt bis in die Familien hinein den Austausch von Meinungen und die Diskussion zu Standpunkten zu verhindern. Keine Veranstaltungen, keine Schule, keine Zusammenkünfte in Gaststätten, Kitas, Krabbelstuben, Kulturveranstaltungen usw. Demos wurden verboten, die sich mit Kritik zu den Maßnahmen beschäftigten. Alt gegen Jung wegen Ansteckungsgefahr, Ungeimpfte gegen Geimpfte, Diffamierung jedes kritischen Ansatzes einer offenen Diskussion, Erpressungen mit Existenzvernichtung, sogar einsperren und Zwangsimpfung. Zwei Jahre wurden die Menschen geknechtet und viele haben sich bis heute in ihr Schicksal ergeben. Wer kritisiert wird gesellschaftlich ausgegrenzt. So richtig ihre Aussagen sind Frau Prof. Ackermann. Sie sind nicht woke.

Frau Professor Ackermann wird es - wie ähnlich Denkende in Forschung u. Lehre - schwer haben, mit ihrem Aufruf zur Wiederherstellung einer freien Debattenkultur in D auf offene Ohren zu stoßen.
Die Gegner einer solchen sind zur Zeit einfach zu stark! Sie haben sich überall eingenistet und verteidigen mit Zähnen und Klauen ihren Anspruch auf Meinungshoheit. Die allermeisten Deutschen sind ihrer Indoktrination bereits auf den Leim gegangen und daher nicht mehr bereit, offen u. sachlich (wenigstens ab u. zu) a n d e r s zu denken u. zu argumentieren.

"Sich in ihr Schicksal ergeben" - ja, lieber Herr Konrad, das haben viel zu viele unserer Mitmenschen getan, und wir werden es nicht schaffen, an diesem Zustand durch Reden etwas zu verändern.
Nur gravierende Verschlechterungen ihrer Lebenssituation können dazu führen, daß sich die Millionen angepaßter Mitläufer in D auf ihren eigenen Verstand besinnen. Dann allerdings wird der Handlungsrahmen für jede Regierung nur noch sehr verengt sein.

Die Einschränkung der Meinungsfreiheit begann nicht erst mit Corona, lieber Herr Konrad. Sie begann bereits mit der Finanzkrise 2008/9 (oder früher?) und war Auslöser für die Gründung der AfD, die bereits damals für ihre abweichende Meinung diffamiert wurde. Das setzte sich mit jeder neuen Krise fort und weitete die Spaltung der Gesellschaft aus.
Die Zivilgesellschaften, zu denen ich hier auch die Medien zählen will, weiteten ihre Macht durch Einschränkung des Meinungspluralismus aus, deren „Mehrheitsmeinung“ wurde zum Diktat, auch für die Politik. Man manipulierte den Bürger durch gezielte Informationen wie man wollte. Corona war nur das bisher letzte Highlight, als die von den Medien aufgeheizte „Mehrheit“ meinte, über Impfung und Gesundheit einer Minderheit bestimmen zu können. Nach dem Qui bono wird nicht gefragt, es ist ohnehin undurchschaubar. Netzwerke und Netzwerker werden hochgelobt und zu angeblichen Lichtgestalten befördert, auch wenn sie nur gesteuerte Marionetten sind.

Maria Arenz | Fr., 3. Juni 2022 - 09:59

Oder wer auch immer dafür zuständig ist, daß dieser Kappes aufhört. Angesichts der inzwischen beachtlichen Anzahl und höchster gesellschaftlichen Positionierung derer, die als anerkannte "ismus-Opfer" bzw. deren Lautsprecher ein weitgehend leistungsloses Einkommen beziehen, wird der Widerstand genauso hart und häßlich werden, wie immer, wenn privilegierten Klassen ihre Pfründe entzogen wurden. Wo sollen denn z.B. die ca. 250 "Professorinnen" samt ihrem akademischem Unterbau hin, die ihren Lebensunterhalt mit dem Verhunzen unserer Sprache und dem Entdecken immer neuer Beispiele für die "Unterdrückung weiblicher Kreativität" finanziert bekommen? Die Damen sind doch nirgends sonst zu gebrauchen. Den Nebeneffekt der seit Jahrzehnten anhaltenden Fehlallokation der Resource Bildung- Facharbeitermangel- bekämpfen wir sodann mit ungeregelter Immigration, die wieder jede Menge dankbare Opfer schafft, deren systemische Diskriminierung an immer neuen Lehrstühlen erforscht werden muss..

Markus Michaelis | Fr., 3. Juni 2022 - 12:31

Was ich anders sehe: der Artikel betont die Universalität "unserer" Werte (Aufklärung) - das machen aber viele Gruppen, es ist ein menschliches Grundanliegen an Absolutes zu glauben. Darin scheint mir aber zur Zeit der Islam global die größte Überzeugungskraft zu haben - aber auch der ist Lichtjahre davon entfernt auch nur größte Teile der Menschheit zu vereinen.

Wir sollten mehr frontale Debatten generell gegen Worthülsen- Wohlfühldogmen führen. Was ist z.B. an einer offenen Gesellschaft gut und verträgt sich das mit Vielfalt? Beides wird als synonym und superpositiv gesehen. Ich sehe einen Gegensatz: die Welt ist voller sich widersprechender Vielfalt, wie kann da eine (ganz) offene Gesellschaft existieren? Ich würde Vielfalt die Prio geben, daher Gesellschaften mehr abgrenzen.

Identitätspolitik führt bisher auch nicht zu einer offenen Gesellschaft, sondern zum Durchhämmern eng-dogmatischer Sichtweisen mit noch unklarem Gewinner. ABER: ja, auch das könnte andere Wendungen nehmen.

René Maçon | Fr., 3. Juni 2022 - 14:45

...sondern der Umbau des deutschen Bildungssystems zu einem Werbekanal der Partei Bündnis90/Die Grünen. Nachdem der Öffentlich Rechtliche Rundfunk schon vor längerer Zeit eingespannt wurde, wird nun ein immenser Druck insbesondere im Hochschulbereich ausgeübt. Unter dem Schlagwort "Nachhaltige Entwicklung" wird derzeit - 50 Jahre nach dem VIII. Parteitag der SED - die neue Einheit von Wirtschafts-, Sozial-, um Umweltpolitik propagiert.

Tenor: Die Welt kann nur noch gerettet werden, wenn wir jetzt überflüssige Debatten beiseitelassen und das Notwendige, das ja objektiv feststeht und alternativlos ist, endlich tun. Studenten müssen das lernen, damit sie als "Multiplikatoren" in der Gesellschaft die Weichen für die "große Transformation" (Wissenschaftlicher Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen) stellen.

Identitätspolitik ist zweifelsfrei eine Plage, aber die Gefahr für die freie Gesellschaft geht vom Ökologismus aus.

"Wokeness, the scourge of contemporary American souls, is only a pale imitation of the existential dread contained in one of John Updike's 1970s suburban novels, which themselves contained only the thinnest echo of the heavy existential bass lines that Jonathan Edwards was laying down."

- schreibt David Samuels (in Tablet Mag., Juli 2020) unter dem Titel: "Happiest Place on Earth - A visit to Switzerland / the coming age of techno-Calvinism / the merger of iPhones and the new Puritan America"

Darin fragt BEAR MAN, sein Kumpel: "Why do Americans hate freedom so much? We longed for freedom in the Soviet Union even more than we yearned for bread. Who wants a thousand little Hitlers telling you what you can say, who you can talk to, what books you can read, what movies you are allowed to watch? What people on Earth would choose to live that way voluntarily?"

Ihre Feststellung (Bildung vs. Greenism) bestätigt Samuels' Mäandrieren durch die Luftbunker in post-Fukushima Schweiz. Enjoy:)

Thorwald Franke | Fr., 3. Juni 2022 - 20:41

Es ist natürlich richtig, dass man rational dagegen halten muss, aber das allein wird den Sieg nicht bringen: Narrative, die sich wie eine Mode verbreiten, lassen sich nur durch andere Narrative besiegen, die sich ebenfalls eher emotional als rational verbreiten.

Es muss also ein Narrativ gefunden werden, das zündet. Die Kernbotschaften sind hier genannt, z.B. Vernunft und Freiheit. Die Erfolgsstory des Westens. Das wahre Wesen des Menschen. Und ja, auch Gerechtigkeit. Das alles muss rein.

Die Etablierung von Debattenräumen ist auch richtig gedacht, aber ... genau das sollte doch eigentlich die Aufgabe unserer öffentlich-rechtlichen Medien sein: Dass sie nämlich die Milieus miteinander ins Gespräch bringen, von denen jedes natürlich eigene Sub-Medien hat. Mit bürgerlichen Salons allein wird es nicht gehen, hier müssen die Medien ran.

Und wie das? Die Politik muss den ÖRR den Weg weisen. Nur so wird es gehen. Noch tut sich da natürlich nichts. Aber nur so wird es gehen.

Karl-Heinz Weiß | Sa., 4. Juni 2022 - 13:59

Leider-das zeigt die Entwicklung der vergangenen Jahre-ist die Debattenkultur in den angeblichen Mutterländern der Demokratie wenig ausgeprägt. Trotz aller Probleme: Politiker wie Johnson oder Trump sind in Deutschland zumindest derzeit nicht denkbar. Bei uns wurde die Grenze mit der alternativlosen Kanzlerin definiert. Und die daraufhin erstarkende AfD ist bereits wieder im Abwind.

Frank Klaus | So., 5. Juni 2022 - 15:05

Die Gleichsetzung von rechter und linker Identitätspolitik, die Frau Ackermann vornimmt, teile ich nicht. Ich finde linke Identitätspolitik viel gefährlicher. Die rechte Identitätspolitik ist nur eine natürliche Reaktion auf den radikalen, illiberalen Gesellschaftsumbau durch die linken Identitätspolitiker.
Der Liberalismus hat sich meiner Meinung nach selbst verraten, der Konservatismus sowieso. Der Ausspruch Angela Merkels: "Mal bin ich konservativ, mal bin ich christlich-sozial, mal bin ich liberal" war immer nur Augenwischerei: In Wahrheit war Angela Merkel (abgesehen von ihren neoliberalen Anfängen) immer nur linksliberal bis links, und sie zog die ganze CDU mit auf diese Seite.
Was Frau Ackermann nicht berücksichtigt: Das Konservative ist als Korrektiv völlig verschwunden. Es ist wird als "rechts" diffamiert und kriminalisiert, und Frau Ackermann beteiligt sich an dieser Diffamierung, wenn sie linke und rechte Identitätspolitik auf die gleiche Stufe hebt.