Lech Walesa
Den Frieden in Europa gefährdet? Solidarność-Vorsitzender Lech Walesa im Jahr 1981 / dpa

Deutschland, Polen und der Ukraine-Krieg - Legenden um die Ostpolitik

Die Vorstellung, die deutsche Entspannungspolitik seit Willy Brandt und Egon Bahr habe zum Ende des Kommunismus beigetragen, gilt in Osteuropa als Geschichtsklitterung. Vor allem in Polen ist man der Meinung, vor allem der militärische und wirtschaftliche Druck der US-Regierung unter Ronald Reagan habe zu Gorbatschows Reformkurs geführt - nicht der Dialog mit der Sowjetunion.

Autoreninfo

Thomas Urban ist Journalist und Sachbuchautor. Er war Korrespondent in Warschau, Moskau und Kiew. Zuletzt von ihm erschienen: „Lexikon für Putin-Versteher“.

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Für Le Monde steht fest: Der russische Überfall auf die Ukraine bedeutet das Ende der deutschen Ostpolitik, die mit den Schlagwörtern „Sonderbeziehung zu Moskau“ und „Suche nach Sicherheit“ verbunden war. Die in Warschau erscheinende, ebenfalls linksliberale Gazeta Wyborcza ist in ihrer Wortwahl weniger zimperlich: „Wunschdenken“ und „wirtschaftspolitischer Egoismus“ hätten die Ostpolitik geprägt. Kommentatoren in den beiden Nachbarländern, sind sich einig darin, dass das Zaudern der SPD bei der Unterstützung der Ukraine durch Rüstungsgüter Folge der „Legenden“ um die Ostpolitik ist, wie sie die sozialdemokratischen Spitzenleute erneut jüngst formuliert haben:   

* Olaf Scholz: „Was die SPD auszeichnet, ist die klare Entspannungspolitik durch Brandt und Schmidt. Eine Politik, die möglich gemacht hat, dass der Eiserne Vorhang verschwindet, dass viele Länder Osteuropas die Demokratie gewinnen konnten und dass wir heute in der Europäischen Union vereint sind.“

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Tomas Poth | Do., 12. Mai 2022 - 11:20

Das unsere polnischen Nachbarn einen ganz anderen Blick auf die Geschichte haben als wir oder andere Staaten in Europa das ist ja wohl zu erwarten. Aber wir müssen uns deren Blick nicht zu eigen machen.
Wir müssen unsere Interessen genauso energisch formulieren/vertreten und da bleibt ein Interessenkonflikt leider nicht aus.
Die Konflikte müssen aber auf dem Wege der Diplomatie behandelt/verhandelt werden.
Das Wort Frieden scheint dann ja dann doch auch in Polen ein gewisses Gewicht zu haben. Also sollten alle sich auf den Frieden konzentrieren, auf Verhandlungen, anstatt uns gegenseitig in Kriege zu hetzen.

Urban Will | Do., 12. Mai 2022 - 12:03

und ich werde den Verdacht nicht los, dass hier ein wenig „Geschichtskorrektur“ aus ganz klaren Gründen betrieben wird.
Ich glaube aber, es wird hier ein wenig verwechselt, was Ursache und was Anlass war.
Sicherlich war es – und gerade hier wirkt das Baerbocksche Geschwafel von „für immer“ (sich v Russland lösen) so hohl und dumm – schon ein Wunder, dass die von D massakrierten Länder im Osten überhaupt bereit waren, wieder mit uns Politik zu machen.
Ohne Brands Ostpolitik mit all ihren Folgen wären die dortigen Freiheitsbestrebungen, die dann letztendlich zum Zusammenbruch führten vielleicht gar nicht entstanden, wäre vielleicht ein Gorbatschow gar nicht an die Macht gekommen.
Natürlich wäre all das ohne die Militär- und Wirtschaftsmacht d USA nicht möglich gewesen und die Erkenntnis der hoffnungslosen Unterlegenheit dann wohl der Anlass, völlig neu zu denken.
Aber: Putins Krieg hat seine Ursachen ganz woanders und bedeutet keineswegs ein „Ende“ d Ostpolitik.
Viell. ein neuer Anfang?

Romuald Veselic | Do., 12. Mai 2022 - 12:08

mitten durch Europa habe während der 37 Jahre seit dem Kriegsende 1945 den Frieden garantiert, sie werde auch die nächsten 37 Jahre bestehen bleiben" – das wäre dann das Jahr 2019 gewesen.

Die D-Politiker sind Meister der Fehleinschätzung, indem sie jedem Volk außerhalb Europa bis 1989, seine Selbstbestimmung als gerecht unterstützten, aber um die Ecke, den Sowjetkolonien dieses Recht absprachen. Man könnte sogar denken, dass SPD auf den Umwegen, mit SED liiert war, sowie sich dem KGB Paternalismus unterwarf. D war immer das Gegenteil von jeglicher Befreiung. Weltweit. Auch "Wir sind das Folk" Bewegung, hypnotisierte/lähmte die D-Westler u. nachhinein wurden sie selbst überrascht, wie die SED-Betonköpfe plötzlich weggefegt wurden.
Die nächste Fehleinschätzung steht schon im Haus, indem man denkt, das Nichtintegrierbare zu integrieren u. gewisse Religion, als folkloristische Fortsetzung der Klerikal-Hippies betrachten, die zum Non-Stop Straßenfest übergeht.

Gute Nacht SPD ? ?

In einem Fall hielt man Werte-, im anderen Fall, Interessenpolitik, für angebracht,
Nicht anders ist es heute.
Kriege sind Produkte der Machthaber, nicht die der Menschen. Die Machthaber verfolgen Interessen, die sie auf Biegen und Brechen durchsetzen wollen, „immer" zum Schaden der Menschen auf ALLEN Seiten, die populistisch aufgestachelt und instrumentalisiert werden. Aus den Hurra-Rufen dieser M. ziehen sie dann die Legitimation für ihr Handeln.
Wenn man die M. in der UK und RU fragen würde, bin ich mir sicher, dass sich über 90 % für Frieden aussprechen würden. Dem würde man aber nur folgen, wenn das Ergebnis mit den Interessen „auf ALLEN Seiten“, kompatibel wäre. Beispiel: Abstimmung über Abschaffung der SZ/WZ i.d. EU. Mehrheit dafür. Passiert ist: NIX!
Nicht aufzurüsten, die Beziehungen zwischen den M, in wirtschaftlicher, kultureller, sportlicher Hinsicht durch mehr persönliche Zusammenkünfte d.M.intensivieren. Das schafft Vertrauen! Vertrauen hilft Konflikte zu vermeiden.

Walter Bühler | Do., 12. Mai 2022 - 12:11

Jedes Land hat eine Legende ("Lesart") der eigenen Geschichte, die sich immer dann ändert, wenn sich die Grundausrichtung der Politik ändert.

Unsere Legende der "friedlichen Revolution" von 1989, die im Sinne der idealen UNO und der idealen EU sehr gut zur Utopie einer globalen und friedlichen Weltgemeinschaft passt, wird zunehmend in Frage gestellt. je mehr der Nationalismus wieder an Boden gewinnt, nicht zuletzt in den USA und in GB, aber auch in PL, in H, im Baltikum, in Russland , in der Ukraine, aber auch - noch als Minderheit- in F.

Die deutsche Legende wirkt vor dem veränderten Hintergrund nur noch romantisch, wie aus der Zeit gefallen. So sieht es auch Herr Urban. D gehört zu den weniger werdenden Staaten, in denen nationalistische Parteien noch kaum eine Rolle spielen.

Das bedeutet wohl Stress für die Politik- und Geschichtswissenschaft in Deutschland.

Ich bin gespannt, welche Antworten sie findet, und wie "patriotisch" sie sind.

Norbert Heyer | Do., 12. Mai 2022 - 13:10

Die Ostpolitik von Willy Brandt war der entscheidende Faktor der Wiedervereinigung. Das es dann derartig schnell über die Bühne ging, hat einen ganz profanen Hintergrund: Die Sowjetunion war pleite, völlig pleite. Reagan hat mit seiner militärischen Hochrüstung einen Wettbewerb gestartet, den die SU nicht gewinnen konnte. Sie ließen sich ihren Rückzug teuer bezahlen und auch musste Deutschland von seinen Verbündeten die vergiftete Kröte EURO schlucken. Der Wiederaufbau kostete viele Miilarden und dann begann die Entwicklung, die zum jetzigen Krieg führte. Nach mündlichen Zusagen wollte der Westen sich militärisch nicht zur neuen Ostgrenze verschieben. Doch nach und nach wurden immer mehr Staaten des ehemaligen Ostblocks Mitglied der EU. Zu diesem Zeitpunkt hätte man den Russen Zusagen machen müssen, dass der bisherige Standpunkt fester Bestandteil bleibt. Aber der Westen hat ja lieber ausgereizt, wie weit er gehen kann, jetzt hat er es erfahren, leider zu spät und zu aller Schaden.

Gerhard Lenz | Do., 12. Mai 2022 - 16:09

Dinge vermischt, die nicht zusammen gehören.

Die Entspannungspolitik unter Brandt &Co. hat entscheidend zu besseren Beziehungen mit den Staaten Osteuropas geführt. Das ist an sich schon absolut verdienstvoll, das hätte es unter der damals noch konservativeren Union nicht gegeben. Entsprechend gab es dort, am rechten Rand (und darüber hinaus) den Vorwurf, man habe deutsche Interessen verraten.

Das alles hat aber wohl kaum eine ursächliche Verbindung zum Kollaps des Kommunismus: Die sozialistischen Staaten hatten allesamt abgewirtschaftet, ein Reformer wie Gorbatschow versprach eine bessere Zukunft, gesellschaftspolitisch und wirtschaftlich. Gorbatschow wurde - ohne dass er es wollte - zum Totengräber des Kommunismus.

Alles, was nach ihm kam, musste Russland einfach auf jenen verhängnisvollen Weg führen, auf dem es heute ist. Jelzin ein Säufer, dessen Zeit begrenzt war. Dann kam der ewig misstrauische KGB-Agent Vladimir Putin, und aus war der Traum vom demokratischen Russland.

... stimme ich Ihnen diesmal gerne zu, Herr Lenz. Und sogar, dass Putins KGB-Ausbildung mitursächlich für sein Misstrauen ist, ist gut denkbar. Dennoch denke ich, dass ihn die sich vor seinen Augen abspielenden (und bestimmt im ein oder anderen Fall US-/CIA-unterstützten) Oppositionsbewegungen und Abspaltungen nicht gerade beruhigt haben. Von den nachfolgenden Eingliederungen der "Separatisten" in EU und Nato, ob entgegen oder ohne vorher anderweitige Versprechungen, ganz zu schweigen - sicher auch nicht sehr beruhigend.
Wie "misstrauisch" die USA selbst schnell wurden und werden, wenn global etwas gegen ihre elementaren Interessen lief oder läuft, war doch seit Weltkrieg ll-Ende wirklich schon mehrmals mitzuverfolgen, ansonsten wären sie ja auch schön blöd.
Also verstehe ich diesbezüglich Putin gut, gleichzeitig finde ich seinen Krieg völkerrechtswidrig und nicht tolerierbar. Mich nervt nur die westliche Heuchelei dabei genauso wie Putins hanebüchenen Geschichts- und Nazinarrative.

Dass ein Konfliktpartner böse, dumm oder verbrecherisch handelt, schließt leider niemals aus, dass auch der andere Konfliktpartner böse, dumm oder verbrecherisch agiert.

Konflikte, bei denen auf der einen Seite das strahlende Licht der Moral, Gerechtigkeit und Wahrheit leuchtet, auf der anderen Seite hingegen nur die undurchdringliche, abgrundtief böse Finsternis der Unmoral, der Gewalt und Lüge anzutreffen ist - solche klaren Konflikte gibt es auf der Erde in Wahrheit nur sehr selten.

Als Propoganda- oder als fiktive SF-Produkte sind sie dennoch nahezu omnipräsent.

Ingo Frank | Do., 12. Mai 2022 - 21:37

war eine Reaktion darauf, dass die wirtschaftliche Situation = Kaufkraft der Bevölkerung ab Mitte der 70iger Jahre von Jahr sank. Dies stellte ich persönlich fest bei Reisen in das „sozialistische Ausland“ UdSSR, Polen, CSSR, Dabei spielten die DDR und Ungarn eine Sonderrolle gegenüber den vorher genannten Staaten. Gravierend die Lage in Russland. Volle Läden, wenige Jahre später leere (in Fleischerläden nur Haken + Fliesen + 2 Verkäuferinnen und das ist kein Witz)richtig leere Regale. Das ganze System kollabierte. Die Bausubstanz zerfiel, Wohnungsnot, Korruption und eine galoppierende Mangelwirtschaft an allem. Das eigene Geld nichts wert. „Aluchips“ zur D-Mark = „blaue Fliesen“ . Und diese Misere brach der soz. Idee das Genick. Und, diese Misere wird auch der links grünen Anhängerschar das Genick brechen die uns schon auf den Verzicht = Mangel vorbereiten wollen.
Mit freundlichen Gruß aus der Erfurter Republik

Bernhard Homa | Fr., 13. Mai 2022 - 00:23

und mit den gleichen Mängeln, insbesondere: ich habe eine These und suche mir selektiv die passenden Belege. Die Zeitgeschichtsforschung analysiert die Ursachen zum Zusammenbruch der SU denn auch wesentlich kontroverser – auf einen simplen neokonservativen Mythos mit Reagan-Glorifizierung kann man dort getrost verzichten. U.a. in Lateinamerika hat man Reagan übrigens nicht unbedingt als Freiheits-Vorkämpfer in Erinnerung, gelinde gesagt.
Aber immerhin: auch Urban muss jetzt kleinlaut zugeben, dass selbst Reagan neben Konfrontation zugleich auf Verhandlungen setzte.

Zur "Entspannungspolitik" wäre nur zu bemerken, dass diese u.a. auch die faktische Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze implizierte – gegen die wird man in Polen wohl nichts einzuwenden haben. Davon abgesehen behauptet keiner zitierten SPD-Politiker, die "Detente" wäre die einzige Ursache für 1989/90 gewesen – die Kritik läuft schon von daher ins Leere

Die "faktische" Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze empörte damals große Teile der Union (die sich noch ganz stark als Interessenvertreter der Vertriebenen verstand), darüber hinaus natürlich die üblichen Rechtsextremisten und Neo-Nazis.

Wenn sich heute in diesem Forum AfDler*innen auf Willy Brandt oder Egon Bahr berufen, aber andererseits nach einer strunzkonservativen Union verlangen, könnte ich angesichts solcher Heuchelei nur laut loslachen.

Hätte es damals die AfD gegeben, hätte sie Brandt & Co verbal ans nächste Kreuz geschlagen...

Stefan Kreppel | Sa., 14. Mai 2022 - 16:57

Die SPD Ostpolitik hätte den eisernen Vorhang zerstört? Eine mir völlig neue Sichtweise, in der Tat. Die neue Ostpolitik Deutschlands hofierte die Dikatoren des Ostens. Lies sie schalten, walten und töten. Meine Sicht mag völlig falsch sein. Ich stimme den Polen, dem Volk, welches wie kein anderes unter dem deutschen Masaker leiden musste, zu.