
- „Ich halte es für abwegig, von Sieg oder Niederlage zu sprechen“
Für den früheren deutschen General Harald Kujat muss es in der Ukraine dringend einen „Verhandlungsfrieden“ geben, um Leid und Zerstörung zu beenden. Auch die ukrainische Führung habe dies inzwischen erkannt. Gefährlich sei aber ein Strategiewechsel der USA, der auf einen großen Konflikt mit Russland hinauslaufen könnte.
Harald Kujat war von 2000 bis 2002 Generalinspekteur der Bundeswehr und von 2002 bis 2005 Vorsitzender des Nato-Militärausschusses.
Herr Kujat, in einem Memorandum, das Sie zusammen mit Justus Frantz, Bruno Redeker und Horst Teltschik veröffentlicht haben, fordern Sie die Politik auf, alle Möglichkeiten zu nutzen, um einen dritten „Großen Krieg“ zu verhindern. Was konkret sollte die Bundesregierung tun – und was unterlassen?
Wir appellieren an die Vernunft, das Leiden der Ukrainer und die Zerstörung des Landes zu beenden und die Ausweitung des Krieges in der Ukraine zu einem europäischen Krieg zu verhindern. Die Hauptakteure in diesem Krieg sind nicht die Ukraine und Russland, sondern Russland und die Vereinigten Staaten. Die Vereinigten Staaten haben den Schwerpunkt ihrer Strategie geändert: Center of Gravity ist nicht mehr Schutz und Beistand der Ukraine in ihrem Abwehrkampf gegen den völkerrechtswidrigen Angriff Russlands, sondern Russland als geopolitischen Rivalen nachhaltig zu schwächen. Der amerikanische Verteidigungsminister Lloyd Austin hat Ende April bei einem Besuch in Kiew erklärt, dass die Vereinigten Staaten „Russland so weit geschwächt sehen wollen, dass es die Dinge, die es beim Einmarsch in die Ukraine getan hat, nicht mehr tun kann“. Dieses strategische Umdenken – wenn es denn überhaupt ein solches ist – macht eine Verhandlungslösung noch dringender.
Wie aber bewerten Sie das Handeln der Bundesregierung? Besonders Kanzler Olaf Scholz steht in der Kritik.
Bundeskanzler Scholz hat bisher unter sorgfältiger Berücksichtigung der deutschen Sicherheitsinteressen verantwortungsbewusst gehandelt. Besonnenheit und Verantwortungsbewusstsein als Unentschlossenheit und Führungsschwäche zu bezeichnen, ist ganz und gar unredlich. Der Bundeskanzler hat das Format, die amerikanische Regierung gemeinsam mit Präsident Macron zu einer Verhandlungslösung zu bewegen. So wie Helmut Schmidt gemeinsam mit dem französischen Präsidenten Giscard d’Estaing und dem britischen Premier James Callaghan Anfang Januar 1979 Präsident Jimmy Carter überzeugte, die europäischen Sicherheitsinteressen bei der Rüstungskontrolle nuklearer Waffensysteme zu respektieren. Was die Bundesregierung in jedem Fall unterlassen sollte, ist jede Form verbaler Aufrüstung! Sie sollte das auch nicht dulden.
Sie fordern, es müsse Gespräche geben und „existenzielles Vertrauen“, aber lässt sich wirklich mit dem russischen Präsidenten noch ernsthaft verhandeln, wo er alle Vereinbarungen gebrochen hat? Und wer sollte Vermittler sein?
Nach dem Ende der Sowjetunion und der Auflösung des Warschauer Paktes gab es mehr als ein Jahrzehnt lang eine Phase der politischen Abstimmung und militärischen Zusammenarbeit zwischen Russland und der Nato. Die Schaffung militärischer Transparenz und politischer Berechenbarkeit haben in der Tat zu einem existenziellen Grundvertrauen beigetragen. Es ist hier nicht der Ort, zu erklären, wie und warum dieses beiderseitige Vertrauen verspielt wurde. Jedenfalls lässt es sich nicht ohne weiteres wieder herstellen. Aber es gibt offensichtlich ein Interesse der Vereinigten Staaten und Russlands, zu vermeiden, dass der Ukrainekrieg zum Katalysator einer direkten militärischen Konfrontation der beiden nuklearstrategischen Großmächte wird. Daraus müsste eigentlich die Einsicht erwachsen, dass dies in erster Linie durch Verhandlungen vermieden werden kann.
Wie kann es denn zu dieser von Ihnen favorisierten Verhandlungslösung kommen?