
- Die neue „Flüchtlingskrise“
Nach sieben Jahren sind wir erneut Zeugen einer „Flüchtlingskrise“. Es ist zunächst die Krise der Flüchtlinge selbst, die sich gezwungen sehen, Hals über Kopf alles hinter sich zu lassen. Die Ursache ist die Krise ihres Heimatlandes durch den Angriff russischer Truppen. Dass die Zielländer ihre Situation auch als krisenhaft wahrnehmen, ist nur eine Frage der Zeit und der Größenordnung und Geschwindigkeit des Zuzugs.
Zahlreiche und grundlegende Unterschiede zur „Flüchtlingskrise“ 2015/2016 fallen ins Auge: So ist das Herkunftsland der Flüchtlinge diesmal ein Anrainerstaat der Europäischen Union. Anrainerstaaten haben eine besondere Verantwortung – die Flüchtlinge können und wollen häufig nicht weiterziehen, weil ihnen die Mittel dazu fehlen oder weil sie hoffen, möglichst rasch wieder in ihr Heimatland zurückkehren zu können. Libanon, Jordanien und die Türkei gehörten zu jenen Nachbarstaaten Syriens, die 2015 die meisten Flüchtlinge im Verhältnis zur eigenen Bevölkerung aufnahmen.
In ihrer Rolle als Anrainer und vor dem Hintergrund der Erfahrungen der Jahre 2015/16 aktivierte die EU zum ersten Mal die „Massenzustromrichtlinie“ aus dem Jahr 2001. Es gelten somit nicht die Kriterien des umstrittenen und in weiten Teilen dysfunktionalen Dublin-Systems, wonach das Land des Erstzutritts verantwortlich für Verfahren und Aufenthalt ist – also jene Mitgliedsländer, über deren Territorium der Schengenraum als erster betreten wird. Im Gegensatz dazu haben die Flüchtlinge aus der Ukraine die freie Wahl des Mitgliedsstaats, in dem sie Schutz suchen wollen. Auch die Möglichkeit der Weiterwanderung steht ihnen für 90 Tage offen.