
- Risse im Fundament
In China droht das Platzen der Immobilienblase – und damit eine massive Wirtschaftskrise, die soziale Unruhen im Land auslösen könnte. Der dramatische Fall von Evergrande dürfte erst der Anfang gewesen sein. Das größere Problem für die chinesische Regierung besteht denn auch darin, dass die Schuldenkrise keineswegs auf diesen einen Immobilienkonzern beschränkt ist.
Der chinesische Immobiliensektor ist einer der wichtigsten Aktivposten der chinesischen Wirtschaft. Immobilien haben wesentlich zu Chinas Übergang zu einer sozialistischen Marktwirtschaft und zu seinem starken Wirtschaftswachstum in den zurückliegenden Jahrzehnten beigetragen. Jetzt droht jedoch das, was die chinesische Wirtschaft einst vorantrieb, diese zu bremsen. Strukturelle wirtschaftliche Probleme zeichnen sich ab, und der Immobiliensektor gehört zu den ersten Sektoren, die Anzeichen von Schwierigkeiten zeigen. Angesichts der Bedeutung des Immobiliensektors für das chinesische Wachstumsmodell würde ein Scheitern bei der Bewältigung dieser Probleme wahrscheinlich zu einem Absturz führen, der die chinesische Wirtschaft in den Ruin treiben und das globale Wirtschaftssystem in Mitleidenschaft ziehen würde.
Auf dem Papier gibt es mehrere Lösungen für die Krise, aber sie stehen im Widerspruch zu einer anderen Priorität Pekings: der Verringerung der wirtschaftlichen Ungleichheit. Die Initiative zur Bekämpfung der Ungleichheit, bekannt als „gemeinsamer Wohlstand“, ist seit vorigem Jahr ein wichtiger Schwerpunkt der Partei und im aktuellen Fünfjahresplan der Kommunistischen Partei Chinas verankert. China wird sich entscheiden müssen, ob es seine Immobilienkrise lösen oder den Kurs auf gemeinsamen Wohlstand beibehalten will. Obwohl es beides versuchen wird, dürfte Peking letztendlich dem allgemeinen Wohlstand den Vorrang geben und die Lösung des Immobilienproblems auf einen späteren Zeitpunkt verschieben.
Chinas – nach westlichen Maßstäben fragwürdiges – Wachstumskonzept ergibt sich aus der ständigen Notwendigkeit, eine Wirtschaft aufrechtzuerhalten, die sowohl eine große Bevölkerung ernähren kann als auch verhindert, dass sich die Wohlstandskluft zwischen den reichen Küstenstädten und dem weiten Landesinneren noch mehr vergrößert. Die rasche Urbanisierung des Landes, der sich entwickelnde Finanzsektor und, was ebenso wichtig ist, der Appetit in- und ausländischer Investoren haben in China einen Immobilienboom ausgelöst, der in den 1990er-Jahren begann und seither anhält.
Geringe Kontrolle über die Märkte
Die Abhängigkeit von Immobilien für ein starkes und stetiges Wachstum hatte jedoch ihren Preis: eine geringere Kontrolle Pekings über die Marktkräfte. Ab Anfang der 2000er-Jahre begann der Immobilienmarkt rasch zu expandieren, da Investoren und Bauunternehmer davon ausgingen, dass die Regierung aufgrund seiner Bedeutung notfalls für ihn einspringen würde. China war auf die Expansion des Sektors angewiesen, um das hohe Wirtschaftswachstum und das Nettoeinkommen der Haushalte aufrechtzuerhalten, sodass jeder Marktabschwung nur von kurzer Dauer sein durfte. Diese optimistische Annahme hielt jedoch nur eine Zeit lang. Schon bald versuchte Peking, die Spekulationswut und die rapide steigenden Preise einzudämmen – Probleme, die das außergewöhnliche Wirtschaftswachstum Chinas zu untergraben drohten.
Aus Angst vor einem Platzen der Immobilienblase erließ die People’s Bank of China die Politik der „drei roten Linien“: ein ehrgeiziges Reformpaket, das die finanzielle Stabilität des Sektors verbessern sollte, indem es die Verschuldung der Bauträger reduzierte, die Schuldendeckung verbesserte und die Liquidität erhöhte. Im Jahr 2020, dem ersten Jahr der Reformen, konnten die meisten Unternehmen eine Verbesserung ihres Verhältnisses zwischen Aktiva und Passiva sowie ihrer Verschuldung verzeichnen.
Wie bei neuen Maßnahmen zu erwarten, gab es jedoch auch einige Nebeneffekte. So nutzten einige Unternehmen verstärkt Minderheitsbeteiligungen und Joint Ventures, wodurch sie die Verschuldung über eine Tochtergesellschaft erhöhen und den Eigenkapitalwert in ihren Bilanzen saldieren konnten. Dadurch wurde die Transparenz der Jahresabschlüsse verringert, nicht aber die Verschuldung. Da die Unternehmen nur begrenzt Fremdkapital aufnehmen konnten, sanken auch ihre frei verfügbaren Barmittel und ihre Liquiditätsquellen insgesamt, was die Fähigkeit eines Unternehmens, kurzfristige Krisen zu überstehen, schwächen konnte.
Der Hauptgrund dafür, dass die Politik der drei roten Linien nicht wie erhofft funktioniert hat, ist, dass sie zu wenig umfasste und zu spät kam. Da China stets darauf bedacht war, die Wachstumsraten der vergangenen Jahre aufrechtzuerhalten, riskierte das Land, Reformen erst dann einzuleiten, wenn es kritisch erschien. Zum Leidwesen Pekings waren es die drei roten Linien, die die derzeitige Krise auf dem Immobilienmarkt auslösten.
Evergrande zahlungsunfähig
Sie geriet im Dezember 2021 in die Schlagzeilen: Die China Evergrande Group, einer der größten Immobilienentwickler des Landes, wurde formell für zahlungsunfähig erklärt. Trotz der anfänglichen Zusicherungen der Regierung, dass Evergrande isoliert und korrigierbar sei, zeigten sich bald weitere Risse im Fundament. Anfang März 2022 wurde der Handel mit Aktien von Evergrande und zwei seiner Einheiten an der Hongkonger Börse abrupt eingestellt. Das Unternehmen teilte mit, dass es seine Jahresergebnisse aufgrund einer umfassenden Umstrukturierung nicht vor Ablauf der Frist Ende März veröffentlichen würde. Die Ergebnisse wurden noch immer nicht veröffentlicht, und obwohl Evergrande erklärt hat, die Umstrukturierung verlaufe planmäßig, hat dies natürlich weitere Fragen und Bedenken hinsichtlich des wahren Umfangs der Schulden des Unternehmens aufgeworfen.
Das größere Problem für die chinesische Regierung ist, dass die Schuldenkrise keineswegs auf Evergrande beschränkt ist. Seit Ende November 2021 haben mehrere andere Immobilienentwickler Anzeichen von Schwierigkeiten gezeigt oder sind, wie Evergrande, sogar in Verzug geraten. Internationale Wirtschaftsprüfer nehmen von Chinas hoch verschuldeten Bauträgern Abstand, da die Unsicherheit über das Ausmaß der Krise wächst. Die Furcht vor versteckten Schulden hat die Anleihen einiger Bauträger auf Talfahrt geschickt, selbst jene, die zuvor als sicher galten.
Dies bedeutete einen schweren Verlust für China: Im vergangenen Jahr erreichten die Zahlungsausfälle bei Offshore-Anleihen chinesischer Schuldner einen Jahresrekord, wobei der Immobiliensektor etwa ein Drittel der ausbleibenden Zahlungen ausmachte. Jedes Ereignis, das sich jetzt im chinesischen Immobiliensektor abspielt, verschärft die Krise und macht ihre Lösung immer schwieriger.
Trotz der schrillenden Alarmglocken im Immobiliensektor hat die chinesische Regierung bisher den Schwerpunkt auf Stabilität und kurzfristiges Wachstum gelegt und keine weitergehenden Reformen im Immobiliensektor durchgeführt. Der Hauptgrund dafür ist, dass die kurzfristige Lösung der Immobilienprobleme das große Risiko einer Destabilisierung der Wirtschaft birgt, die die Autorität der Kommunistischen Partei gefährden könnte. Theoretisch würde eine Reform der Grundsteuer die Marktverzerrung korrigieren, indem sie Anreize für Immobilienspekulationen schafft und die Einnahmen der lokalen Regierungen erhöht.
Auf dem Nationalen Volkskongress am 5. März wurde in der Tat ein umfassender Plan für die Grundsteuer als eines der Hauptziele des gemeinsamen Wohlstandsprogramms vorgestellt, das mit dem Slogan „Häuser sind zum Wohnen da, nicht zur Spekulation“ gekrönt wurde. Die Parteielite kritisierte den Plan jedoch mit dem Argument, dass die Steuer viele Parteimitglieder, die mehr als eine Immobilie besitzen, unverhältnismäßig stark belasten und die soziale Stabilität beeinträchtigen würde.
Die Immobilienmarktreformen des chinesischen Präsidenten Xi Jinping entsprachen auch nicht den Interessen hochrangiger lokaler Beamter, deren Prioritäten darin bestehen, das Wirtschaftswachstum anzukurbeln, den Staatshaushalt zu sichern sowie soziales Chaos in ihren Regionen zu verhindern.
Schwerwiegende Folgen für die Weltwirtschaft
Obwohl Finanzminister Liu Kun zu Beginn des Jahres die Umsetzung und Vertiefung des Reformpakets forderte, gab das chinesische Finanzministerium kürzlich bekannt, dass die versuchsweise durchgeführten Grundsteuerreformen, die derzeit in zehn Städten in Kraft sind, nicht auf weitere Städte ausgedehnt werden. Die Aufrechterhaltung eines hohen Beschäftigungsniveaus und der sozialen Stabilität sowie die Begrenzung des Schadens für treue Investoren sind für Peking zu wichtig, um ein Risiko einzugehen.
Das Baugewerbe macht etwa 16 Prozent der städtischen Beschäftigung in China aus. Ein Zusammenbruch der Branche würde dazu führen, dass etwa 5,5 Prozent der chinesischen Bevölkerung ihre Arbeit verlören. Schon jetzt ist wegen eines plötzlichen Anstieg der Arbeitslosigkeit – von 4,9 Prozent im Oktober auf 5,5 Prozent im Februar – so gut wie sicher, dass die soziale Stabilität ernsthaft Schaden nehmen wird. Dies wird auch nicht dazu beitragen, das Wohlstandsgefälle zu verringern. Außerdem fließen 30 Prozent der chinesischen Bankkredite in den Wohnungsbau, und mindestens 60 Prozent der Bankkredite sind durch Immobilien als Sicherheiten unterlegt. Wenn der Immobilienmarkt zusammenbricht, wird China daher eine ausgewachsene Finanzkrise erleben, die die Stabilität des Systems untergraben und schwerwiegende Folgen für die Weltwirtschaft haben könnte.
China hat immer noch Möglichkeiten, das Problem zu regulieren, selbst in seinem derzeitigen Zustand. Einige positive Veränderungen sind bereits im Gange: Die chinesischen Banken sind endlich bereit, die Politik der drei roten Linien aufzuweichen, um den zahlreichen Immobiliengesellschaften, die in Schwierigkeiten oder bereits in Verzug geraten sind, eine sichere Landung zu ermöglichen. Außerdem fördert die Regierung Fusionen und Übernahmen im Immobilienentwicklungssektor, wobei größere, in der Regel staatliche Bauträger finanziell schwächere Unternehmen übernehmen dürften, die ihre Verbindungen zu lokalen Regierungen ausgenutzt haben, um sich zu verschulden. Doch statt einiger kleinerer Maßnahmen hier und da wird das Ausmaß des Problems wahrscheinlich eine gut getimte, gut koordinierte Kette von Schockreformen erfordern – was derzeit nicht in Sicht ist.
Trotz vieler Warnsignale, die auf eine umfassende Wirtschaftskrise hindeuten, hält China an seiner Initiative für gemeinsamen Wohlstand fest und führt nur Maßnahmen durch, die mit den Wachstumszielen des aktuellen Fünfjahresplans übereinstimmen. Diese Ziele sollen dazu beitragen, die innere Ordnung und politische Stabilität aufrechtzuerhalten. Nach dem aktuellen Plan und dem Projekt „China Vision 2035“ hofft China, bis 2035 eine „mäßig entwickelte Wirtschaft“ zu werden – definiert als Anstieg des Bruttoinlandsprodukts pro Kopf auf 30.000 US-Dollar. Selbst wenn harte Reformen die Wachstumsraten für einige Jahre deutlich senken würden, wäre dies immer noch ein vernünftiges Ziel, während es Jahrzehnte dauern könnte, bis sich das Land von einer totalen Wirtschaftskrise erholt.
Für China wird es wahrscheinlich keinen besseren Zeitpunkt als jetzt geben, um seine Prioritäten zu überdenken.
In Kooperation mit