
- Zwei extreme Fälle von Narzissmus
Wären David Cameron und Boris Johnson Patienten auf der Couch, wie würde die Diagnose lauten? Der Psychoanalytiker Hans-Jürgen Wirth sieht die Brexit-Kampagne von Narzissmus und das Wahlergebnis von Ressentiments getrieben
David Cameron wird in die Geschichte eingehen als der Premierminister Großbritanniens, der sein Land um eines kleinen partei- und machtpolitischen Vorteils willen in eine Fehlentscheidung historischen Ausmaßes geführt hat. Schon seit Jahrzehnten gefielen sich englische Politiker darin, Stimmung gegen die Europäische Union zu machen. Auch Cameron war ganz groß darin, Ressentiments gegen „die Eurokraten in Brüssel“ zu schüren, um sich selbst zum heldenhaften Kämpfer gegen die „Fremdherrschaft der EU“ zu stilisieren.
Zugleich nutzte er die auch von ihm selbst angefachte EU-Feindlichkeit, um bei eben dieser EU in erpresserischer Manier Sonderbedingungen für sein Land herauszuschlagen. Es war ein zynisches Spiel, weil Cameron selbst nicht an die boshaften Schmähungen glaubte, die unter einer wachsenden Zahl seiner Landsleute grassierten. Er gab sich der narzisstischen Illusion hin, seine Landsleute würden alle seine taktischen Winkelzüge mitmachen, ihm am Ende aber doch bei seinem Votum für den Verbleib in der EU folgen. Aber zu diesem Zeitpunkt war der giftige Geist des Ressentiments schon aus der Flasche und wurde von Camerons Rivalen um das Amt des Parteivorsitzenden und Premierministers, Boris Johnson, skrupellos befeuert.
Boris Johnson ist der Typus des schillernden Narzissten, dem jedes Mittel recht ist, wenn es nur seinen ehrgeizigen Zielen und seinem Machtstreben dient und sein Bedürfnis, im Scheinwerferlicht zu stehen, befriedigt. Chamäleonartig wandelte er sich vom leutseligen, wort- und weltgewandten Bürgermeister Londons zum manipulativen Demagogen, der ganz offen Ressentiments und Hass säht, gegen besseres Wissen Lügen verbreitet, Unsicherheit und paranoide Ängste schürt, die er dann mit illusionären Versprechungen beschwichtigt. Jedes Mittel der Demagogie und des Ressentiments ist ihm billig, um Aufmerksamkeit zu erregen und sich in Szene zu setzen.
Eine Kampagne aus Egoismus und Eitelkeit
In seiner Zeit als Korrespondent in Brüssel fiel er dadurch auf, dass er das EU-Bashing besonders virtuos beherrschte und dabei weder vor maßlosen Übertreibungen noch vor Unwahrheiten und reinen Erfindungen zurückschreckte. In privaten Gesprächen und in seiner Zeit als Bürgermeister Londons zeigte er sich jedoch keineswegs als fanatischer EU-Gegner. Im Grunde entsprang seine Kritik an der EU nicht tiefen politischen Überzeugungen, sondern seiner Lust, Krawall und Chaos zu veranstalten und sich damit in den Mittelpunkt zu stellen. Er spielt noch immer den Klassenclown, der scheinbar keine Angst davor hat, dass man auch über ihn lacht, dessen Ziel aber darin besteht, andere zum Opfer von Spott, Hohn und Häme zu machen. Johnson sprang erst auf den Brexit-Zug auf, als dieser Fahrt aufgenommen hatte und er erkannte, dass ihm dies die Chance bot, sich als Nachfolger Camerons zu profilieren.
Beide Politiker handelten in hohem Maße verantwortungslos. Indem Cameron zum kurzfristigen Nutzen seiner eigenen politischen Karriere das Referendum versprach, beging er als Politiker einen Kardinalfehler, den der Soziologe Max Weber als „größte Sünde wider den heiligen Geist seines Berufs“ als Politiker bezeichnet hat: den Machtmissbrauch um des persönlichen Vorteils Willen. In seinem berühmten Essay „Politik als Beruf“ (1919) richtet Weber im Zusammenhang mit den negativen Wirkungen der Macht seinen soziologischen Blick auf „einen ganz trivialen, allzu menschlichen Feind [...]: die ganz gemeine Eitelkeit“. Er bezeichnet die Eitelkeit als eine „Berufskrankheit“ der Politiker und gibt eine Definition von Machtmissbrauch: „Die Sünde gegen den heiligen Geist seines Berufs aber beginnt da, wo dieses Machtstreben unsachlich und ein Gegenstand rein persönlicher Selbstberauschung wird, anstatt ausschließlich in den Dienst der ‚Sache‘ zu treten“.
Max Weber thematisiert hier den engen Zusammenhang zwischen pathologischem Narzissmus und Machtmissbrauch, auch wenn ihm der Begriff des Narzissmus nicht geläufig war. Das Machtstreben und der narzisstische Geltungsdrang verführte die Politiker Cameron und Johnson dazu, das Wohl Großbritanniens leichtfertig aufs Spiel zu setzen, um ihrer persönlichen Eitelkeit zu frönen. Um die „Sache“, die der EU-Skepsis tatsächlich zugrunde liegt, nämlich die realen sozioökonomischen Verwerfungen, unter denen die schlechter gebildeten, sozial benachteiligten und älteren Teile der Landbevölkerung und der Arbeiterschaft leiden, haben sich Cameron und Johnson nicht im Geringsten geschert.
Brexit zutiefst irrational
Der Brexit macht viele Menschen in Großbritannien und sogar weltweit so traurig, ratlos und wütend, weil er zutiefst irrational ist. Er dient weder dem Wohl Großbritanniens, noch dem der Europäischen Union, weder dem Wohl der konservativen Partei noch dem Ansehen Camerons. Den Brexit leichtfertig in Kauf zu nehmen, war destruktiv und selbstdestruktiv zugleich und damit Kennzeichen eines krankhaften Narzissmus. Auf absehbare Zeit werden alle Beteiligten unter dem Brexit und seinen Folgen wirtschaftlich zu leiden haben.
Sogar die erneute Möglichkeit einer Abspaltung Schottlands ist wahrscheinlicher geworden, ein Prozess, der aus Sicht Englands einem historischen Fiasko gleichkäme. Sollte sich Schottland tatsächlich von Großbritannien trennen, erführe dieses keinen Gewinn an Souveränität, der doch angeblich mit dem Brexit angestrebt war, sondern einen schmerzlichen historischen Souveränitätsverlust.
Diese irrationale Entscheidung ist nur massenpsychologisch verständlich. Sie wirft für die Brexit-Befürworter den psychologischen Gewinn ab, der sich aus der illusionären Hoffnung speist, Freiheit und Autonomie gewonnen und die „Brüsseler Bürokratie“ vom Sockel gestoßen zu haben. Sie dient der Bestätigung des Heldenmythos vom unabhängigen, freiheitsliebenden und jeglicher Fremdherrschaft trotzenden Seefahrervolk. Sozialpsychologisch betrachtet, befriedigt der Brexit dumpfe Ressentiments. Die Brexit-Bewegung wird angestachelt von negativen Affekten wie Neid, Groll, Feindseligkeit, Misstrauen, Häme und Rachegefühlen. Es nimmt deshalb auch nicht Wunder, dass der Beifall für die britische Entscheidung ausschließlich von Gruppierungen und Personen kommt, die selbst mit dem politischen Mittel des Ressentiments hantieren, wie es von den rechtspopulistischen Gruppierungen und von Putin bekannt ist.
„Seelische Selbstvergiftung“
Wie funktioniert das Ressentiment und warum werden manche Bevölkerungsgruppen stärker davon befallen als andere?
Der Philosoph Max Scheler (2015) versteht unter Ressentiment eine Vergiftung des sozialen Klimas, die mit einer „seelischen Selbstvergiftung“ einhergeht. Mit der Metapher der Vergiftung soll ausgedrückt werden, dass es sich um einen Prozess handelt, der schleichend verläuft, einige Zeit unbemerkt bleiben kann, aber schließlich in alle Poren des seelischen und auch das sozialen Lebens eindringt und seine destruktive und – das ist besonders wichtig und kennzeichnend – auch selbstdestruktive Wirkung entfaltet. Das Ressentiment unterscheidet sich deutlich vom offenen Wutausbruch, der explosionsartig hervorbricht und in seiner aggressiven Qualität als solcher klar zu erkennen und einzuordnen ist.
Im Unterschied dazu versteckt sich beim Ressentiment die aggressive Qualität hinter demonstrativer Biederkeit, Scheinheiligkeit, Anpassung an Konvention und Tradition und reaktionären Haltungen, die sich als Konservatismus und Traditionspflege maskieren. Das Ressentiment hat daher einen heimtückischen, schleichend zersetzenden, bösartigen und hinterhältigen Charakter. Personen und Gruppierungen, die Ressentiments pflegen und in die Welt setzen, bedienen sich regelmäßig der Lüge, des Verrats, des Hinterhalts, des unfairen Tricks, der Heimtücke. Und während sie all diese Verhaltensweisen selbst praktizieren, klagen sie die anderen gerade dieses unmoralischen Verhaltens an. Sie inszenieren sich als Opfer der Niederträchtigkeit, die ihr eigenes Handeln charakterisiert.
Der biografische und gesellschaftlich-kulturelle Hintergrund, auf dem sich Ressentiments herausbilden, ist in aller Regel durch subjektiv erlebte oder auch reale Erfahrungen von Ungerechtigkeit, Benachteiligung und Demütigung geprägt. Erfahrungen politischer Ohnmacht und psychokultureller Entwertung und Kränkung bilden auch den Hintergrund für das anti-europäische Ressentiment. Psychoanalytisch betrachtet, handelt es sich um den Abwehrmechanismus der Verkehrung von der Passivität in die Aktivität. Was man selbst schmerzhaft an Demütigung und Ungerechtigkeit erfahren hat, lässt man nun andere spüren.
Die vier Wurzeln des Ressentiments
Das Anti-EU-Ressentiment in England und Wales hat vor allem vier Wurzeln.
Erstens: Während die junge Generation im boomenden Finanz- und Dienstleistungssektor der Weltmetropole London die internationalen und multikulturellen Kontakte als Bereicherung ihres individuellen, kommunikativen und weltoffenen Lebensstils empfindet, hat sich bei der älteren Generation ein Gefühl der Ungerechtigkeit und Entwertung herausgebildet, das sich als Ressentiment gegen die EU ausdrückt und auch in den Abstimmungsergebnissen des Referendums spiegelt: 64 Prozent der 18–24 Jährigen votierte für den Verbleib in der EU, während nur 24 Prozent dieser Altersgruppe für den Brexit war. Und auch bei der Altersgruppe der 25- bis 49-Jährigen gab es noch eine Mehrheit von 45 Prozent für den Verbleib. Nur 39 Prozentstimmten für den Austritt.
Erst ab dem Alter von 50 Jahren dreht sich das Verhältnis um: Nur 35 Prozent der Jahrgänge 50 bis 64 Jahre entschieden sich für die EU, während 49 Prozent der EU den Rücken kehren wollen. Bei den über 65-Jährigen sind es schließlich 58 Prozent, die für den Brexit sind und nur 33 Prozent, die der EU die Treue halten wollen.
Zweitens: Wie zahlreiche sozialwissenschaftliche Studien zeigen, treten fremdenfeindliche Ressentiments bei schlechter gebildeten Bevölkerungsgruppen mit geringem Sozialstatus häufiger auf als bei besser gebildeten mit höherem Sozialstatus. Erfahrungen von Ohnmacht und Benachteiligung lösen Gefühle von Ungerechtigkeit aus, die den psychologischen Nährboden für Ressentiments bilden. Unter den Anhängern des Brexit finden sich signifikant häufiger Personen mit niedrigem Bildungsniveau und geringem Sozialstatus. Ihr Ressentiment richtet sich gegen Migranten und Flüchtlinge und gegen die EU, die angeblich Flüchtlinge nach Großbritannien schleust. Tatsächlich ist die große Zahl von Migranten in Großbritannien aus den ehemaligen Kolonien eingewandert oder es sind gezielt Arbeitskräfte aus EU-Ländern, insbesondere aus Polen, angeworben worden. Großbritannien hat von diesen Zuwanderern wirtschaftlich erheblich profitiert, nur hat es die Regierung versäumt, diese Zusammenhänge ihrer Bevölkerung angemessen zu vermitteln.
Drittens: Besonders die Landbevölkerung votierte mehrheitlich für den Brexit, während die Metropole London sich der EU verbunden fühlt. Diese gesellschaftliche Spaltung in eine wirtschaftlich prosperierende Finanzmetropole und eine Landbevölkerung, die sich abgehängt fühlt, findet ihren psychologischen Ausdruck im anti-europäischen Ressentiment.
Viertens spielt auch noch eine kollektive Kränkung des Gruppen-Narzissmus des englischen Volkes eine nicht zu unterschätzende Rolle. Die Briten haben sich immer noch nicht vollständig mit der Tatsache abgefunden, dass ihre politische, militärische und wirtschaftliche Bedeutung als Imperium und Weltmacht nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges auf ein geringes Maß geschrumpft ist. Deshalb haben sie auch erst nach langem Zögern die Aufnahme in die EU beantragt.
Offener Fremdenhass und Gewalt
Ihr Beitritt erfolgte nicht aus emotionaler Begeisterung für die europäische Idee, sondern purer wirtschaftlicher Not gehorchend, da das Commonwealth of Nations stetig zerfiel und sich die ökonomische Lage dramatisch verschlechterte. Dass Charles De Gaulle den Beitrittswunsch der Briten zweimal zurückwies, 1963 und 1967, stellte eine zusätzliche Kränkung des britischen Nationalstolzes dar. Jedenfalls blieb das Verhältnis der Briten zur Europäischen Union immer distanziert, ambivalent, kühl berechnend und von einem Schuss Misstrauen geprägt. Man handelte Sonderkonditionen aus, ohne Rücksicht darauf, ob dies die Idee der europäischen Solidarität gefährden könnte, beanspruchte bei allen sich bietenden Gelegenheiten eine Sonderrolle und verweigerte sich dem Euro. Die EU-Skepsis wurde zu einem tragenden Pfeiler des britischen, genauer gesagt, des englischen und walisischen Nationalstolzes.
Die genannten ungelösten Konfliktfelder des britischen Selbstwertgefühls haben sich unter der eitlen und egozentrischen Führerschaft der Rivalen Cameron und Johnson zu einer explosiven Stimmung des Hasses und des Ressentiments verdichtet, die nun im Brexit ihren ersten dramatischen Höhepunkt gefunden hat. In den Tagen nach dem Referendum zeigte das Ressentiment sein hässliches Gesicht offen in Fremdenhass und in Gewalt. Die Brandstifter beteuerten ihre Unschluld und lehnten jede Verantwortung ab für das Unheil, das sie angerichtet hatten.
Die schmachvoll erlebten Ohnmachtsgefühle sollen kompensiert werden, indem den anderen – in diesem Falle der EU – gezeigt wird, wo der Hammer hängt. Der Wunsch sich zu rächen, dem anderen zu schaden und sich selbst und den anderen zu demonstrieren, dass man nicht ohnmächtig ist, sondern die anderen machtvoll abstrafen kann, ist so übermächtig, dass die Selbstschädigung verleugnet und kleingeredet wird.
Ressentiments gegen Migranten und Flüchtlinge, gegen die Politiker an sich, gegen die Privilegierten, gegen die Eliten, gegen die lebenslustigen Jungen, gegen die Gebildeten, gegen die Bessergestellten usw. sind Phänomene, die sich in allen Gesellschaften finden und die in den letzten Jahren in allen Ländern der EU, aber auch in den USA, zu einem Erstarken rechtspopulistischer Bewegungen geführt haben.
Eine angemessene politische Antwort muss zum einen ansetzen bei der sozialstaatlichen Abfederung sozioökonomischer Benachteiligungen großer gesellschaftlicher Gruppen, darf zum anderen aber auch die sozialpsychologisch bedeutsame kritisch-aufklärerische Auseinandersetzung mit den Ressentiments nicht vernachlässigen. Eine Politik hingegen, die solche Ressentiments anheizt, um sie für die eigenen machtpolitischen Absichten zu instrumentalisieren, vertieft die Spaltung der Gesellschaft und führt zu destruktiven und selbstdestruktiven Prozessen.