Cherson
Wahlwerbung der Partei „Wir gehören hier hin“ des Bürgermeisters von Cherson aus der Zeit vor dem Krieg / Foto: Jelena Kostyuchenko, Nowaja Gazeta

Eine russische Frontjournalistin berichtet - Wie die Stadt Cherson eingenommen wurde

Für die Moskauer Zeitung „Nowaja Gazeta“ hat Jelena Kostyuchenko am 26. März über die russische Besetzung der ukrainischen Stadt Cherson berichtet. Aufgrund der in Russland geltenden Militärzensur wurde der Bericht in der online veröffentlichten Fassung zuerst stark gekürzt und schließlich komplett gelöscht. Inzwischen musste die „Nowaja Gazeta“ schließen. Mit freundlicher Genehmigung der Autorin bringt Cicero den ungekürzten Originaltext in deutscher Übersetzung.

Autoreninfo

Jelena Kostyuchenko ist eine russische Investigativjournalistin und Korrespondentin der Nowaja Gaseta.

So erreichen Sie Jelena Kostyuchenko:

Cherson wurde am 3. März von der russischen Armee besetzt. Zunächst wurde die Stadt eingekesselt: Die umliegenden Dörfer und der Flugplatz von Tschornobaiwka wurden besetzt. Dann rückte das russische Militär in die Stadt ein. Es ist die einzige Oblast-Hauptstadt der Ukraine, die in einem Monat Krieg von der russischen Armee eingenommen und gehalten wurde. Wie wurde Cherson eingenommen?

„Dummheit oder Verrat, wahrscheinlich beides“, sagt der ehemalige Gouverneur der Region Cherson, Andrej Gordejew. „Wir haben also vier Verteidigungslinien. Die erste ist die Landbrücke zwischen der Oblast Cherson und der Krim, die vollständig vermint sein sollte. Mir wurde übrigens gesagt, dass sie eine Woche vor dem russischen Angriff aus welchem beschissenen Grund auch immer entmint wurde. Dann gibt es auch noch die Grenzsoldaten. Aber ihre Aufgabe ist es eigentlich nicht, zu kämpfen, sondern die Aggression der Gegenseite zu erkennen, unserer Armee ein Signal zu geben und sich dann zurückzuziehen – sich zurück ins Landesinnere zu begeben und so weiter. Dann kommt unser Bewässerungssystem. Das Bewässerungssystem wurde vom Verteidigungs- und Landwirtschaftsministerium der Sowjetunion entworfen. Die Struktur selbst – die Form des Kanals – lässt es nicht zu, dass irgendein Transportmittel ihn durchquert. In jedem Fall ist es ein Verkehrshindernis. Die Logik ist also folgende: Die Brücken werden gesprengt, die Kolonne des Gegners bleibt stehen, und unsere Artillerie ballert sie einfach zum Teufel. Die dritte Verteidigungslinie ist der Fluss Dnjepr selbst. Wir halten den Dnjepr bis zum letzten Moment, die Antonow-Brücke wird im äußersten Notfall gesprengt, und Cherson ist außerhalb der Kampfzone. Eine Brücke gibt es dann nicht mehr, das heißt, wir verteidigen nur die Wasserlinie. Kein Schwein kann einfach mal so über den Dnjepr rüber. Und die letzte Verteidigungslinie ist der Brückenkopf von Kachow. Nowaja Kachowka wird evakuiert, die Menschen dort werden ausgesiedelt, und der Brückenkopf von Kachow wird gehalten. Dort werden Schanzen und Kaponniere (gemauerte Festungsstellungen, Anm. d. Red.) gebaut. Für all dies haben wir 24 Stunden Zeit gehabt. Es sind diese 24 Stunden gewesen, in denen wir sie am Eingang in die Stadt aufhalten mussten. Es hat nicht geklappt.“

Der amtierende Gouverneur Gennadi Laguta legte nach Angaben seiner Kollegen am ersten Tag des Krieges die Schlüssel auf den Schreibtisch des Bürgermeisters, und zwar mit den Worten: „Ich mache da nicht mit.“ Und er verließ die Region. Zusammen mit ihm gingen am ersten Tag des Krieges die Führungskräfte der Polizei, der Staatsanwaltschaft und die Gerichte aus der Stadt fort. Wenig später wurden auch die Beamten des SBU evakuiert.

Zwei Tage lang wurde um die Antonow-Brücke über den Dnjepr gekämpft. Man versuchte zweimal, die Brücke in die Luft zu sprengen, und zwar indem man sie mit dem Raketensystem „Punkt U“ anvisiert hatte. Für die Sprengung einer anderen Brücke in der Oblast Cherson – der Genitschesk-Autobrücke – gab der Ingenieur eines Bataillons, Matrose Vitaliy Skakun, sein Leben. Er führte die Sprengung persönlich durch. Zelenskyj verlieh ihm den Titel „Held der Ukraine“. Die russische Panzerkolonne suchte nach Umwegen – und fand sie natürlich auch. 

 

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Die „Teroborona“ (Territorialverteidigung, Anm. d. Red.), eine Einheit bewaffneter Zivilisten zum Schutz strategisch wichtiger öffentlicher Einrichtungen, eine Art „Narodnoje Opoltschenije“ (die Volksmiliz der Sowjets im 2. Weltkrieg, Anm. d. Red.), wurde bereits 2016 in der Region Cherson ins Leben gerufen. Laut Andrej Gordejew wurden der Einheit bislang keine konkreten Ziele zugewiesen. Und nach der Ablösung des Militärkommandanten meldeten sich viele Militärrentner bei der Teroborona, um ihren Sold zusätzlich zu ihrer Rente zu erhalten. 

„Der Krieg hat begonnen, und wir haben nicht einen einzigen Kontrollpunkt, nicht einen! Jeder will etwas machen, keiner weiß, was er tun soll. Keiner hat die Kontrolle. Ich gehe zum Brigadekommandeur der Teroborona und sage: Dima, was ist los? Er hatte nicht einmal die Karte von Cherson auf seinem Schreibtisch liegen. Verstehen Sie das? Freiwillige kamen im Laufe des Tages angerannt, standen um das Büro für militärische Registrierung und Rekrutierung herum und wussten nicht, was sie tun sollten. Niemand ist zu ihnen herausgekommen. Um 19 Uhr kam ein Bus, der sie in das Dorf Dnjeprjanskoje brachte, wo sich der Militärstützpunkt befinden sollte.

Um 7 Uhr desselben Tages fand eine Sitzung zur Verteidigung der Region statt. Der Brigadekommandeur Ishchenko sagt: ‚Leute, wir sind im Krieg, ich brauche einen Lastwagen, um die Waffen vom Depot zu meiner Basis zu bringen.‘ Sie sagen: ‚Es ist alles in Ordnung, warte, er wird gleich da sein.‘ Er ruft um 8 Uhr morgens an: ‚Wo ist mein LKW?‘ Sie sagen: ‚Warte, er wird schon kommen.‘ Er rief Jakimenko an, den stellvertretenden Gouverneur für Verteidigung. Er ruft um 9 Uhr morgens an, ruft um 10 Uhr morgens an: ‚Moment, warte mal‘, hieß es vom anderen Ende der Leitung. Und um 11 Uhr sagt Jakimenko zu ihm: ‚Entschuldige bitte, melde dich beim Bürgermeister, denn ich bin im Moment weit weg, in der Evakuierung.‘ Mit anderen Worten: Während er den Transport versprach, ist er mit der der Verwaltung davongelaufen.

Um 11 Uhr stellt der Brigadekommandeur bereits fest, dass er kein Auto hat. Und er weiß zufällig, dass ein Wagen mit Waffen auf dem Weg nach Aleshki ist – dieses Auto holt die 59. Brigade ein, die dort zerschlagen wurde. Er sagt: Ich halte ihn an und gebe ihm 660 Sturmgewehre mit Munition. Und das war’s, dann machte sich das Auto auf den Weg. Es ist ein Glück, dass er wenigstens diese Waffen in den Kofferraum laden konnte, denn das Auto wurde auf dem Damm verdammt nochmal zerstört. Und aus diesem Wagen wurden am ersten Tag 400 Sturmgewehre an Freiwillige in Dnjeprjanskoje verteilt. Auf der Antonow-Brücke wird gekämpft. Sie müssen die Brücke sichern – jeder geht dorthin. Sie gingen also zu Fuß etwa drei Kilometer bis zu dieser Antonow-Brücke. Sie kamen dorthin – es war schon Nacht, pechschwarze Nacht. Die Scheiß-Flugzeuge beschossen sie ohne Ende, sie sahen, wie sich ihre eigenen Eingeweide nach außen kehrten, und dann rannten sie alle weg! Fast die Hälfte der Sturmgewehre wurde zurückgegeben, die andere Hälfte ist spurlos verschwunden. Genau wie die Soldaten. Ich meine, irgendwo haben sie sich versteckt, sie hatten schließlich Angst.

Es war die Nacht vom 24. auf den 25. Am Ende blieben Ishchenko 220 Sturmgewehre. Ich brachte ihnen etwa 50 ‚Fliegen‘ vorbei (damit ist die russische Panzerabwehrwaffe RPG-18 gemeint, Anm. d. Red.), der Bus war voll mit diesen Jungs, es herrschte Aufruhr. Wir kamen, wir öffneten den Kofferraum, da lagen ‚Fliegen‘. ‚Jungs, können wir ein paar davon nehmen?‘, fragten sie uns. Der Brigadekommandeur hat geantwortet: ‚Ja, nehmt sie ruhig mit.‘ Also haben wir ihnen die Hälfte der Fliegen gegeben. Sie waren in Plastikfolie verpackt. Das sieht man auch auf den Videoaufnahmen (der toten Kämpfer der Teroborona, Anm. d. Red.): Auch dort sind sie noch in Plastik verpackt.

Und ihr Bataillonskommandeur fährt sie in Bussen zusammen mit den Molotowcocktails und ‚Fliegen‘ zum Fliederpark. Um zu verhindern, dass die Russen von der Kamyschan-Flanke aus angreifen (Kamyschan ist ein Dorf südwestlich von Cherson, Anm. d. Red.). Wären die Menschen auch nur ein wenig besser vorbereitet gewesen, dann wäre diese Tragödie nicht passiert. Die Russen rechneten mit Blitzkrieg-Siegen, und bei Widerstand hätten sie sich vielleicht zerstreut. Aber die Menschen waren einfach nur Kanonenfutter. Im Namen der großen Idee. Allein im Fliederpark wurden 36 Männer getötet. Sie wurden mit Maschinengewehren erschossen. Unser Priester aus Cherson hat 67 Männer aus der Teroborona eigenhändig beerdigt. Sie waren wie Hunde 20 Zentimeter mit Lehm bedeckt, ohne Särge, ohne alles! Der Pater hat sie alle fotografiert, sie nummeriert und in seinem Telegram-Account eine geschlossene Chatgruppe eingerichtet. Wir werden gewinnen“, sagt er, „und dann werden wir sie alle umbetten.“

Der Fliederpark. Durch Maschinengewehrfeuer beschädigte Bäume. 36 Menschen aus der Teroborona sind hier gefallen. Foto: Jelena Kostyuchenko / Nowaja Gazeta
Fliederpark. Durch Maschinengewehrfeuer beschädigte Bäume. 36 Menschen aus der Teroborona ließen hier ihr Leben. Foto: Jelena Kostyuchenko / Nowaja Gazeta

Der Journalist Konstantin Ryzhenko aus Cherson erzählt: „Der stellvertretende Leiter des Oblast-Rats gab nur diese fröhlichen Veröffentlichungen heraus, in denen es hieß, dass alles gut werden würde. Die Leute waren sich sicher, dass wir über eine gute Teroborna verfügen und dass das Militär einen ausgeklügelten Plan hat. Von wegen: Wir würden sie zu einigen wichtigen Anmarschwegen locken und sie dann mit Molotowcocktails bewerfen. Und dann würden unsere Truppen aus irgendeiner Ecke herauskommen und sie alle mit Artillerie totschießen. Dass dann auch noch zum Schluss die Teroborona die letzten Überlebenden mit Sturmgewehren erledigen würde. So euphorisch stellen sich das Leute vor, die noch nie im Krieg gewesen waren. Ich habe das selbst auch in gewissem Maße geglaubt, wenn ich mir die Erfahrungen anschaue, die andere Städte mit ihrer Verteidigung gemacht haben. Sie haben Reifen da hingebracht, Sandsäcke, so würde man irgendwie durchhalten können. Man hat ja gesehen, wie gut sie sich verteidigen konnten. Ich dachte mir: ,Klasse, das schaffen wir auch!‘ Aber am Ende stellte sich heraus, dass das Militär nur 200 Leute zusammengekriegt hat, gleich am ersten Tag brachten sie sie irgendwohin. Der Feind hatte noch nicht einmal die Brücke überquert, sie gaben je fünf Leute nur ein Sturmgewehr, ein Magazin an Patronen und das war’s. Sie sagten: ‚Setzt euch hin und wartet.‘ Es ist nichts passiert. Sie bekamen ein paar Fitnessübungen verordnet, Liegestütze und Laufen. Dann waren sie schon 24 Stunden dort. Es kamen ein paar Offiziere, die ihnen sagten: ‚Hört zu, geht nach Hause.‘ Zwei Tage später hieß es dann: ‚Kommt zurück.‘

Ein Kleintransporter ist angekommen. Zwanzig Leute haben dort Platz genommen. Allen anderen wurde gesagt: ‚Das war’s, geht nach Hause.‘ Sie war eine inoffizielle Volksmiliz. Den Menschen wurde gesagt: ‚Geht nach Hause‘, die Menschen haben es aber auf ihre Weise verstanden. Für sie war damit die Botschaft klar. Sie dachten, dass das heißt: ‚Wir geben die Stadt auf.‘ Und sie beschlossen, dass die Offiziere sich ihren Defätismus mal sonst wo hin stecken können und dass sie die Stadt nicht aufgeben werden. Sie haben sich also irgendwie selbst organisiert. Und sie alle sind gefallen.“

Die Stadt

Im Bezirksamt auf dem Freiheitsplatz hat sich die russische „Militärkommandantur“ der Stadt eingerichtet. Der Name des Militärkommandanten wurde den Einwohnern von Cherson nicht bekannt gegeben. In den lokalen Telegram-Kanälen kursiert eine von niemandem unterzeichnete Anordnung über eine Ausgangssperre und das Verbot von Kundgebungen. Die staatliche Autorität in der Stadt verkörpert weiterhin ihr Bürgermeister Igor Kolychajev, der im Grunde auch als Gouverneur fungiert. Ich habe ihn im Stadtrat getroffen. „Es ist nicht der richtige Zeitpunkt für ein Interview. Wir befinden uns unter einer Besatzung, das müssen Sie verstehen. Die Stadt Cherson steht unter ukrainischer Gerichtsbarkeit. Meine wichtigste Aufgabe ist es, dass die Stadt weiter am Leben bleibt. Vonseiten der Russen wurden überhaupt keine Forderungen gestellt. Und meine Forderungen sind die: dass die Lieferungen von Waffen und von militärischer Ausrüstung nicht durch die Stadt gehen, dass die Menschen und Aktivisten, die in der Stadt sind, nicht entführt werden.“ Der Stadtrat, der den ukrainischen Behörden unterstellt ist, und der Regionalrat, der von den Russen besetzt ist, befinden sich in der gleichen zentralen Uschakow-Straße. Zwischen ihnen liegen 500 Meter.

Panzerabwehr-Igel auf dem Freiheitsplatz. Dahinter befindet sich das Gebäude des Regionalrats, das vom russischen Militär besetzt ist. Foto: Jelena Kostyuchenko / Nowaja Gazeta
Panzerabwehr-Igel auf dem Freiheitsplatz. Dahinter befindet sich das Gebäude des Regionalrats, das vom russischen Militär besetzt ist. Foto: Jelena Kostyuchenko / Nowaja Gazeta

Der Oblast-Rat von Cherson verabschiedete einen Appell, in dem er erklärte, dass es keine ChNR – eine Volksrepublik Cherson ähnlich der LNR und DNR (so heißen die „Volksrepubliken“ in Donezk und Luhansk, Anm. d. Red.) – geben werde. „Die Abgeordneten des Oblast-Rats von Cherson der 8. Legislaturperiode werden niemals die Versuche (Russlands) anerkennen, eine ‚Volksrepublik‘ auf dem Gebiet der Oblast Cherson zu gründen und sich diesen Teil der Ukraine gewaltsam einzuverleiben.‘ Der Abgeordnete des Regionalrats, Jurij Sobolevskij, erklärte, dass aufgrund der Besetzung des Oblast-Ratsgebäudes durch das russische Militär nur 50 von 64 Personen an der Abstimmung teilnehmen konnten. 44 stimmten gegen die ChNR.

Über den verlassenen SBU- und Polizeigebäuden wehen russische Flaggen. Es herrscht eine Ausgangssperre von 20 bis 6 Uhr. Es gibt zweistündige Warteschlangen vor Geldautomaten. Die Oberleitungsbusse fahren kostenlos. In der Stadt gibt es kein Benzin und kein Gas, aber es gibt noch Dieselkraftstoff.

Am dritten Tag der Besatzung wurde in der Region Cherson mit der Übertragung russischer Fernsehsender begonnen. Das ukrainische Fernsehen wurde von denjenigen beibehalten, die direkt an die Antenne angeschlossen waren, ohne ein Beistellgerät. Die Medien der Stadt haben ihre Arbeit praktisch eingestellt. Ihre Informationen erhält die Stadt aus Telegram-Kanälen. 

Einwohner von Cherson stehen für Brot an. Ein Laib Brot kostet 25 Hrywna (75 Cent). Foto: Jelena Kostyuchenko / Nowaja Gazeta
Einwohner von Cherson stehen für Brot an. Ein Laib Brot kostet 25 Hrywna (75 Cent). Foto: Jelena Kostyuchenko / Nowaja Gazeta

Cherson lebt ohne Polizei. Die Polizeiführung verließ Cherson am ersten Tag des Krieges, den einfachen Polizeibeamten wurde angeboten, sich Zivilkleidung überzuziehen und sich auf eigene Faust zu evakuieren. Die Polizeiaufgaben werden von kommunalen Wachmilizen und selbstorganisierten Freiwilligen wahrgenommen.

Arthur (Name geändert), der Leiter der Wachmiliz eines der Bezirke, sagte: „Wir haben für alle die Zello-Software installiert. Das ist ein Radiosender, der über das mobile Internet funktioniert. Wir haben einen allgemeinen Chatroom eingerichtet. Unsere Chats sind nicht geheim, sie sind offen. Wir verbergen nicht, dass wir Menschen helfen, wir führen öffentliche Aufträge aus. Wir organisieren uns je nach Wohnsitz. Oft sitzen die Leute sogar zu Hause und beobachten einfach die Gegend. Sie analysieren, wer eine Bedrohung darstellt und wer nicht. Sie setzen sich sofort mit den nächsten Patrouillenmitgliedern in Verbindung, die sich in ihrer Nähe befinden. Je nach Umstand fahren wir vor und entscheiden die Lage dann vor Ort. Wenn es sich um Plünderungen handelt, fesseln wir sie meistens für eine Weile an einen Pranger-Pfahl – als Erziehungsmaßnahme sozusagen. Wir fesseln sie daran mit Panzertape. Wir versuchen, Diebstahl, Plünderungen und häusliche Gewalt zu unterbinden. Heute hatten wir zum Beispiel einen Einsatz: Es hat sich herausgestellt, dass die Bewohner eines Hauses randaliert und dadurch alle aufgeschreckt haben. Heute Morgen haben wir sie besucht und mit ihnen ein prophylaktisches Gespräch geführt.“

Die Plünderungen, die in den ersten beiden Tagen nach dem Einmarsch der Russen in die Stadt stattfanden, gibt es inzwischen praktisch nicht mehr. Das größte Einkaufszentrum, „Fabrika“ (das unter Artilleriebeschuss geriet), die Eisenwarenhandlung „Citrus“ und mehrere Lebensmittelläden wurden geplündert. Die Supermärkte „Greenline“ und „Selpo“ öffneten ihre Türen selbst, um nicht Opfer von Plünderern zu werden.

Auf den Straßen stehen ausgebrannte Autos – und es ist niemand da, der sie wegräumen könnte.

Ein metergroßes Loch in der Tarle-Straße 2 wird mit einer Metallplatte geflickt. Foto: Jelena Kostyuchenko / Nowaja Gazeta
Ein metergroßes Loch in der Tarle-Straße 2 wird mit einer Metallplatte geflickt. Foto: Jelena Kostyuchenko / Nowaja Gazeta

Ein metergroßes Loch in Haus 2 in der Tarle-Straße wird mit einer Metallplatte geflickt. In der Nähe befindet sich der verbogene Vorsprung eines Balkons. Auf allen Seiten des Hauses ist der Boden dicht mit Glas bedeckt. Die Häuser in der Tarle-Straße wurden vom ersten Artilleriebeschuss der in die Stadt einrückenden Armee getroffen.

Alexandra Pawlowna Kasnatschejewa hat gerade erst humanitäre Hilfe erhalten – zehn Brote pro Haus. Auf jedem Laib befindet sich ein Zettel mit einer Wohnungsnummer, die an die Mieter verteilt wird. Auf einem Tisch stehen Blumen, die durch die Explosion von den Fensterbänken heruntergeworfen wurden. Die Blumen konnten wiederbelebt werden. „Na ja, okay, ich verstehe, als Hitler (sie hält kurz inne) … Sie haben Faschisten dort, Ausländer, na ja, man kann das gar nicht wirklich miteinander vergleichen ... Ich persönlich kann kein einziges Wort finden, mit dem ich diesen Mann bezeichnen könnte. Ihn einen Teufel zu nennen, wäre wohl verharmlosend. Ich habe keine Worte, nein. Einem die ganze Lebensfreude zu nehmen!“, sagt Alexandra Pawlowna und weint in ihre Faust. Sie gönnt sich nicht mehr als eine Minute zum Weinen, also kommen ihr keine Tränen.

„Und sie begannen, uns noch vor dem Mittagessen zu bombardieren. Da stand ich gerade hier, direkt gegenüber der Tischplatte. Niemand hat damit gerechnet, ich schon gar nicht! Ich weiß nicht, wie ich es so schnell ins Badezimmer geschafft habe. Ich saß dort, als ich hörte, wie das Glas herunterschepperte. Es hat uns auch getroffen, unser zweites Haus. Und das vierte Haus wurde von einem Geschoss in Mitleidenschaft gezogen. Die Druckwelle traf alle ersten und zweiten Stockwerke stark. Ich konnte da schon hören, dass es still war. Ich öffnete die Tür, kam heraus, sah nach. Und meine Blumen lagen auf dem Boden, Glas lag hier und da, es war heruntergefallen. Wie sich herausstellte, waren es zwei riesige Explosionen, die uns trafen. Als ich herauskam, war in meiner Wohnung kein Glas mehr zu sehen.

Alexandra Pawlowna Kasnatschejewa mit humanitären Hilfsgütern. Auf jedem Brot befindet sich ein Zettel mit einer Wohnungsnummer oder einem Namen zur Weitergabe des Brotes. Foto: Jelena Kostyuchenko / Nowaja Gazeta
Alexandra Pawlowna Kasnatschejewa mit humanitären Hilfsgütern. Auf jedem Brot befindet sich ein Zettel mit einer Wohnungsnummer oder einem Namen zur Weitergabe des Brotes. Foto: Jelena Kostyuchenko / Nowaja Gazeta

Und in der sechsten Wohnung – die direkt gegenüber meiner Wohnung ist – saß eine Oma in der Küche. Das hat sie gerettet. Sie fing an, ohrenbetäubend zu schreien. Sie war hysterisch ... Ihre Haustür war verschlossen. Es war eine gute, stabile Tür, nichts konnte sie aus den Angeln heben. Wir konnten die Oma nicht durch ihre Haustür hinausbekommen. Also zogen wir sie durch den Balkon hinaus – genauer gesagt, durch das Loch, wo der Balkon einmal gewesen war. Wir haben einen Krankenwagen gerufen. Sie war dort komplett blutverschmiert, alles war mit Blut bedeckt. Die Splitter müssen in sie eingedrungen sein, sie hatte überall Schnittwunden. Wir fragten sie: ‚Ist niemand zuhause?‘ Sie sagte schockiert, 82 Jahre alt: ‚Niemand da.‘ Nun denn, es ist also niemand zu Hause. Und am zweiten Tag bekomme ich einen Anruf. Ich nehme den Hörer ab. Es ist Kommandeur ihres Enkels, der an der Front kämpft. Er sagt: ‚Ihr Nachbar sucht seine Frau.‘ Ich sagte: ‚Es gab die Information, dass sie ins Dorf zu ihren Eltern gegangen ist, glaube ich. Hier gab es nur eine einsame Oma.‘ Genau so habe ich es ihm gesagt. Und es stellte sich heraus, dass sie dort lag, unter Betonplatten verschüttet, sie ... Es ist alles auf sie gefallen! Sehen Sie diesen Block hier? Die Balkontür und dieses große Fenster. Diese ganze Masse hat sie verschüttet. Kühlschränke wurden vom Einschlag getroffen, Schränke, alles fiel herunter und drückte sie nieder. Selbst wenn man sie sofort gefunden hätte ... Als man sie fand, war ihr Gesicht komplett zerdrückt und zerschnitten. Sie war wahrscheinlich auf der Stelle tot. Sie hieß Tanya Ermolaeva und war 29 Jahre alt. Sie hatte so viel Lebensenergie! Und die verletzte Oma – das ist Valentina Wassiljewna Chmelnizkaja, 82 Jahre alt. Ihr Enkel heißt Sasha und befindet sich jetzt in der Nähe von Luhansk. Das ist ihre ganze Familie.“

Tarle-Straße 4, Cherson. Foto: Jelena Kostyuchenko / Nowaja Gazeta
Tarle-Straße 4, Cherson. Foto: Jelena Kostyuchenko / Nowaja Gazeta

Die Blockade

Die Stadt ist praktisch blockiert. Das russische Militär kontrolliert alle Ausgänge der Stadt. Das akuteste Problem sind die Arzneimittel. In den Apotheken gibt es keine herzstärkenden oder blutdrucksenkenden Medikamente. L-Thyroxin, das für Menschen lebensnotwendig ist, deren Schilddrüse nicht funktioniert, ist verschwunden. Es ist jetzt in der gesamten Ukraine nicht mehr zu bekommen. Es wurde Insulin in die Stadt geschmuggelt und an die Krankenhäuser verteilt. In den Apotheken gibt es eine Liste fehlender Arzneimittel mit 40 bis 50 Einträgen. Das sind hauptsächlich Medikamente, die regulär eingenommen werden müssen. Chemotherapie-Medikamente fehlen ebenfalls. Und es gibt keine psychotropen Medikamente.

Die Chefärztin des Karabelesh-Krankenhauses der Stadt Cherson, Alla Pawlowna Malizkaja, sagt: „Jede medizinische Einrichtung verfügt noch über einen Vorrat an Medikamenten. Wir versuchen immer, Medikamente für einen bis drei Monate auf Lager zu haben. Der Bereich der Akutkrankenhausmedikamente steht nicht auf der Tagesordnung, aber die ambulanten Medikamente schon. Und zwar aus dem Grund, dass man Apotheken reihenweise schließen musste. Und die Menschen begannen, Medikamente für sechs Monate oder länger zu kaufen, weil Apotheken geplündert wurden, weil Panik herrschte. Ein großes Problem besteht bei den onkologischen Medikamententypen, d.h. denjenigen, die aus zentralen Lagern, aus Bundesapotheken bestellt wurden. Sie befinden sich meist in Kiew, vielleicht gibt es auch welche in Dnipro, und es gibt ein paar in Mykolayiv. Aber da wir jetzt keine Logistik haben, sind wir davon vollständig abgeschnitten.

Was das Insulin betrifft, so werden wir zwei bis drei Wochen lang diejenigen versorgen können, die es brauchen. Und dann überlegen wir, was wir als nächstes tun werden. Mit jedem Tag verkürzt sich dieses Intervall. Wir machen uns Sorgen, dass uns irgendwann die Pflegeartikel ausgehen, z.B. Windeln und Kolostomiebeutel. Da wir nur über einen kleinen Vorrat verfügten, wurden wir zunächst in der Vergabe bevorzugt. Aber wir konnten sie nicht alle aufkaufen, weil nur nach Bedarf geliefert wurde. Jetzt wird es ein Problem mit dem Dialyseverbrauchsmaterial geben, und ich weiß, dass viele medizinische Zentren in der Ukraine auf eine zweimal tägliche Dialyse umgestellt haben. Früher waren es mindestens drei Dialysen täglich. Und das ist letzten Endes die Lebensqualität hier im Krieg, so ist das Leben am Ende des Tages. Unser Dialysematerial reicht nur noch für drei Wochen.“

„Wir haben sechs Polikliniken in unserem Krankenhaus, drei für Kinder und drei für Erwachsene“, sagt Leonid Timofejewich Remiga, Chefarzt des Tropin-Krankenhauses. „Aber ein Rezept auszustellen, um Medikamente zu bekommen, ist ein Problem. Sowohl die Apothekenketten als auch der Einzelhandel – beide sind praktisch leer. Es fehlt an Cremes, Salben und Vitaminen.“

Leonid Timofejewitsch erzählt von seinen Gesprächen mit den Besatzungsbehörden. „Am ersten Tag kam ein russischer Hauptmann mit zwei Sturmgewehrschützen und einem kranken Soldaten zu uns. Die erste Bedingung war, dass wir die Flagge abnehmen sollten. Wir haben gesagt, dass wir sie nicht abnehmen würden. Er sagte, wir dürften sie dann bis zum Abend draußen lassen. Und sie ist immer noch da. Der Kapitän hielt uns dann eine Vorlesung. Was ich damit meine, fragen Sie? Na ja, dass die Russen Befreier sind, dass ‚wir euch befreien werden‘ und so weiter und so fort. Dass hier alles gut sein wird. Ich sage ihnen dann: Nehmt euren Patienten mit, wir haben ihn untersucht. Er hat eine Lungenentzündung. Dann war da noch ein anderer. Er stellte sich als Leiter des medizinischen Dienstes der südlichen Truppengruppierung vor ... ein Arzt also. ‚Wir müssen Sauerstoff auftanken‘, sagt er. Ich antworte ihm, dass es bei uns nicht möglich ist, Sauerstoffballons aufzufüllen. Er ging. Am nächsten Tag kam er wieder: ‚Wir müssen hier das Personal des Militärkrankenhauses unterbringen‘, sagt er mir. Ich entgegne ihm: ‚Tut mir leid, das geht nicht.‘ Am nächsten Tag kam niemand mehr.“

„Die Besatzungsbehörden boten humanitäre Hilfe an. Sie kamen ins Krankenhaus und fragten nach“, sagt Alla Pawlowna. „Ich habe ihnen gesagt, dass wir das nicht brauchen. Es gibt einen Artikel im Strafgesetzbuch, der die Kollaboration mit den Besatzungstruppen unter Strafe stellt. Wir dürfen nicht mit ihnen zusammenarbeiten. Und selbst wenn es kein entsprechendes Gesetz gäbe, würde ich sowieso nicht mit ihnen gemeinsame Sache machen. Ich hoffe wirklich, dass wir nicht auf fremde Hilfe warten müssen, sondern dass die Hilfe unserer eigenen Leute rechtzeitig kommt und ausreichend sein wird. Gestern haben sie den humanitären Konvoi zurückgeschickt, was ist die Erklärung dafür? Die Menschen kommen zu den Kundgebungen, die ganze Stadt ist voll davon. Der Sohn unserer Mitarbeiterin wird vermisst. Er ist Fußballfan und schimpfte über Putin. Andrej Solowej, 23 Jahre alt. Vermisst, sie hat seit Tagen nichts mehr von ihm gehört, es gibt keinen Kontakt. Sie sagen, sie hätten ihn am 11. März von zu Hause weggebracht. Seine Mutter kann nicht zur Arbeit gehen und legt sich hin. Sie kommuniziert mit niemandem, sie hat Angst. Ich bin Gastroenterologin. Bis 2014 reiste ich für Konferenzen nach Moskau und St. Petersburg. Ich habe dort mit Ärzten gesprochen. Nach der Krim konnte ich nicht mehr reisen. Mein Vater starb 2015 auf der Krim, und um meine Mutter finanziell zu entlasten, habe ich hier in Cherson einen Grabstein für meinen Vater bestellt. Ich konnte ihn dann dreimal nicht nach Russland bringen. Der ukrainische Zoll wollte mich mit dem Grabstein durchlassen, aber Russland verlangte, dass ich entweder 4000 Euro Zoll dafür zahle oder etwas anderes. Das ist eine unmenschliche Demütigung. Mein Vater liegt dort, auf der Krim. Ich habe hier dann auch meine Mutter begraben.“

Die Lebensmittelpreise haben sich verdoppelt, die Eierpreise haben sich verdreifacht. In den Regalen der großen Supermärkte gibt es immer noch „festliche“, teure Produkte – Ingwer-Lebkuchen, spanischen Schinken, Brie, Tiefkühllachs. Es gibt keine Grütze, keine Nudeln, kein Brot und keinen Zucker; das Einzige, was übrig ist, ist eine Anzeige mit dem Hinweis „Nicht mehr als 1 kg auf einmal“. Man kann alles auf den Märkten finden, aber es ist teurer geworden. Vor einer Woche nahm ein Großhandelsstützpunkt in der Nähe des Dorfes Bolschije Kopani seine Arbeit wieder auf, und es wurde Gemüse in die Stadt gebracht. Private Bäckereien backen Brot – der Preis für einen Laib beträgt 25 Hrywna (75 Cent).

Die Tschornobajewsk-Geflügelfarm im Dorf Wostotschnoje ist durch die Kämpfe ohne Strom, Wasser und Futtermittel geblieben. Das gesamte Geflügel – drei Millionen Hühner – wurde kostenlos abgegeben. Die Hühner wurden durch Kontrollpunkte transportiert, in der 90. Kolonie ausgeladen und in Privatfahrzeugen in die Stadt gebracht. Es heißt, dass jeder Einwohner von Cherson ein Huhn aus Tschornobajewsk in seinem Kühlschrank hatte.

Ein ausgebranntes Auto auf einer Straße in Cherson. Es ist niemand da, der es wegräumen könnte. Foto: Jelena Kostyuchenko / Nowaja Gazeta
Ein ausgebranntes Auto auf einer Straße in Cherson. Es ist niemand da, der es wegräumen könnte. Foto: Jelena Kostyuchenko / Nowaja Gazeta

Es dauert zwei bis drei Stunden, bis man genug Nahrung für einen Tag gefunden hat. Jeden Tag versammeln sich Menschen am Bahnhof, um humanitäre Hilfe zu erhalten. Die Hilfe kommt aus Russland – ukrainische Hilfe wird in die Stadt nicht hereingelassen. Heute ist die Warteschlange träge. Es wurde bereits angekündigt, dass es keine humanitäre Hilfe geben wird, aber 30 Personen blieben „vorsichtshalber“ stehen. Sie stehen dort schon seit 6 Uhr morgens. Ein sehr junger Mann kommt auf sie zu und sagt leise etwas zu einer der Frauen. „Ich stehe hier, junger Mann, weil ich in Not bin! Und warum sind Sie gekommen?“

„Gestern haben Ihre Russen einen Lastwagen mit humanitärer Hilfe blockiert!“, sagt der Mann. „Es ging nach Cherson, und sie sagten: Fahrt weg, wir haben unsere eigene humanitäre Hilfe. Sie organisieren selbst eine humanitäre Katastrophe und sagen dann: Oh, wie gut sind wir, wir sind die Retter, wir geben den armen Menschen zu essen. Wir sind so gut, dass wir euch vor euch selbst gerettet haben!“

„Betreiben Sie hier keine Propaganda!“, mischt sich eine Frau in einer zerschlissenen Weste ein.

„Ein Auto kam an und stand dort. Ein Fotograf fuhr vorbei und fotografierte, wie sie Hilfe verteilten und wie viele Menschen auf Hilfe warteten. Sie wollen mit den Fotos zeigen, dass wir auf die Russen gewartet haben. Aber wir warteten nicht auf die Russen, wir warteten auf ukrainische Hilfsgüter!“, wird ihr geantwortet.

„Und wo soll ich denn nun Essen auftreiben?“, fragt die Frau.

„Schauen Sie sich in der Stadt um, da sind unsere ukrainischen Freiwilligen!“, sagt der Mann. „Ich erinnere mich nicht mehr an die Adressen ...“

„Dann nenn mir doch einfach die Adressen!“

„Sie können mich mal!“ Der Mann wendet sich ab. „Wie soll ich mich mit Ihnen unterhalten?“

Der Markt. Vor einer Woche nahm eine Großhandelsbasis in der Nähe des Dorfes Velikiye Kopani ihren Betrieb wieder auf. man begann damit, Gemüse in die Stadt zu liefern. Foto: Jelena Kostyuchenko / Nowaja Gazeta
Der Markt. Vor einer Woche nahm eine Großhandelsbasis in der Nähe des Dorfes Velikiye Kopani ihren Betrieb wieder auf. man begann damit, Gemüse in die Stadt zu liefern. Foto: Jelena Kostyuchenko / Nowaja Gazeta

„Wir danken für die Hilfe. Sie sind gekommen und teilen kostenlos Essen aus“, sagt die Frau in der zerschlissenen Weste. „Unsere Geschäfte sind entweder geschlossen oder leer. Aber auf dem Markt gibt es alles. Für den 4. März plante das Militär die Verteilung von Lebensmitteln auf dem Freiheitsplatz. Als sie mit der Verteilung begannen, kam es zu einer Kundgebung unserer Ukrainer. Als ich ankam, waren sie schon weg, und auf dem Platz lagen mehrere zerbrochene Dosen mit Eintopf, die von Hunden abgeleckt wurden. Ich konnte nicht sehen, wer wen mit was bewirft.“

„Es gab da einen sehr jungen Mann, der ältere Leute in einem ziemlich herablassenden Ton beschimpft hat.“ 

„Ein russischer Offizier sprach mit uns, er war sehr höflich und ruhig. Er hat uns Busse versprochen. Er sagte: ‚Wir sind nicht im Krieg mit euch, wir sind im Krieg gegen die Nationalisten. Wir brauchen Ihr Cherson nicht, es war ukrainisch und wird es auch bleiben. Wir befinden uns im Krieg mit den Nationalisten, um Ihre Regierung zu stürzen und die Ordnung wiederherzustellen.‘“

„Seit 30 Jahren sorgt hier niemand mehr für Ordnung. Es gibt nur noch Diebe.“

„Zum Glück sind sie gekommen. Wie lange ist Putin schon dort an der Macht?“

„Seit 22 Jahren.“

„Mit diesen Menschen wird es Ordnung geben. Die Amerikaner bauen alle möglichen Labore mit Covid-Viren auf. In Cherson gibt es schon so viele Labore, sie wollen uns einfach vernichten. Was glauben Sie, woher die Covid-Seuche kommt, von außen her? Es kommt doch von hier. In der gesamten Ukraine gibt es 30 Labore.“

„Covid kommt aus Wuhan!“

„Meine Nachbarin, die in einem Labor in Cherson arbeitete, litt an starken Schwellungen. Ihre Beine waren geschwollen!“

Seit einiger Zeit wird heftig darüber diskutiert, ob es sich bei dem Coronavirus um eine biologische Waffe handeln könnte, die nach Berichten des russischen Fernsehens in den ukrainischen Biolaboren entwickelt wird.

„Die Ukraine ist eine zweite Schweiz. Aber wir brauchen einen starken Führer, keine Diebe.“ 

„Wenn sie nicht gestürzt werden, werden sie bleiben, was sie waren: Diebe.“

„Wir standen in der Nähe von Jubilejnoje, das russische Militär verteilte Konserven, natürlich gab es eine Warteschlange. Es waren etwa 1000 Menschen. Sie sagten: Ihr Bürgermeister erteilt ihnen nicht die Erlaubnis dazu, Lebensmittel an Menschen auszugeben. Aber was sollen wir denn tun?“ 

„Und das Rote Kreuz verteilt nichts mehr, weil sich die Leute unverschämt verhalten. Sie stehen dreimal in der Schlange an und verscherbeln das Zeug dann auf dem Markt.“

„Unsere Leute hungern!“

„Wer hat Ihnen beigebracht, Molotowcocktails auf sie zu werfen? Provozieren Sie sie nicht! Wenn Sie sie nicht anfassen, werden sie es auch nicht tun. Schlimmer kann es kaum werden. So können wir wenigstens leben.“

Tote

Wenn sie über die Toten sprechen, sagt die Stadtverwaltung, dass es „etwa dreihundert Leichen“ im Stadtgebiet gibt. Natalia Filenko, Leiterin des Büros der Oblast Cherson, sagt, dass die Zahl als korrekt gelten kann. Aber es gebe noch viel mehr Tote in der Oblast. Die Datenlage über die Todesopfer ist unklar. Ein Erlass des Gesundheitsministeriums vom 9. März vereinfachte die Freigabe von Leichen für Kriegsbestattungen. Leichen können jetzt mit einem Totenschein, den jeder Arzt ausstellen kann, ohne Überweisung zur gerichtsmedizinischen Untersuchung freigegeben werden. Unter den Zuständen von Besatzung und Kampf werden die Leichen oft „an Ort und Stelle“ begraben.

„Von der Antonow-Brücke wurden nicht mehr als zehn Menschen zu uns gebracht, aber wie viele Menschen sind dort gestorben? Wir haben eine Leiche aus dem Fliederpark, aber wir haben weder die Gesamtzahl der Toten noch ihre Namen. Der Priester und die Einheimischen haben sie einfach eingesammelt, irgendwo ausgegraben und das war’s. Einer von ihnen wurde von seiner Frau identifiziert, die eine Umbettung unter seinem Namen organisiert hat. 

Wissen Sie, wie sie jetzt begraben werden? Die Menschen kommen hierher. Sie sehen den Toten, sie bringen verschiedene Dinge her. Hier legen ihn unsere Pfleger in einen Sarg, die Verwandten verabschieden sich ... Und der Leichnam wird mit dem Auto abtransportiert. Angehörige gehen nicht auf den Friedhof. Warum nicht? Weil es Straßensperren gibt. Die Totengräber schicken ihnen anschließend Fotos von den Gräbern. Am 16. März hat die Stadtverwaltung die Toten abgeholt. Der Wagen wurde mit verschiedenen Waffen beschossen. Die Männer, die die Toten gefahren haben, lagen also in den Gräben und warteten auf sie. Die Autos kamen ohne Fenster, ohne alles. Dann haben sie die Fenster zugeklebt. Sie sehen sogar den Trauertransport und schaffen es, das ganze Ding zu bombardieren. Einen Tag lang wurde also niemand mehr beerdigt. Dann haben sie erst wieder langsam angefangen, Totentransporte zu organisieren.

Einige Leichen sind stark beschädigt und zerfetzt. Viele sind verkohlt. Zwei Drittel der Leichen bleiben unidentifiziert.

Die Oblast-Einrichtung für Gerichtsmedizin in Cherson. In den Kühlschränken ist nicht genug Platz, die Leichen liegen auf dem Boden. Foto: Jelena Kostyuchenko / Nowaja Gazeta
Die Oblast-Einrichtung für Gerichtsmedizin in Cherson. In den Kühlschränken ist nicht genug Platz, die Leichen liegen auf dem Boden. Foto: Jelena Kostyuchenko / Nowaja Gazeta

Sie bitten mich: ‚Schicken Sie mir ein Foto, um sie zu identifizieren.‘ Ich bitte sie immer: ‚Zeigt sie nicht den Müttern oder den Ehefrauen!‘ Ich schicke diese Fotos nur an Männer und bitte sie, sie sofort zu löschen. 

Zwei Drittel sind ohne Namen. In diesen ersten Tagen, als schon gekämpft wurde, wurden einige ganze Kolonnen zerschlagen, während die Soldaten schliefen. Das waren Nachtangriffe auf militärische Einheiten. Sehr viele Menschen verbrannten. Die Antonow-Brücke wurde bombardiert, und die Geschosse flogen bis nach Antonowka. Und meine Mutter brachte ein Kind, das in eine Decke gewickelt war. Sie sagte: ‚Das ist mein Sohn.‘ Als die Jungs zur Autopsie gingen, fanden sie nur noch einige Fragmente von zwei Leichen. Also, Sie wissen jetzt, wovon hier konkret die Rede ist – wie ist Ihr Eindruck?

Wir nehmen DNA-Proben. Aber wir haben kein DNA-Labor in der Stadt. Das nächstgelegene ist in Mykolaiv, wir sind abgeschnitten. Gott sei Dank sind noch keine Leichen von Russen zu uns gekommen.

Wie kommen wir an die Leichen? Die Leute rufen mich an und sagen: ‚Unser Sohn ist dort drüben.‘ Ich sage: ‚Ich verstehe alles, aber ich habe keinen Transport, um Leute dorthin zu schicken, und ich kann nicht riskieren, dass Leute unter Beschuss geraten. Ich kann Ihrem Sohn auf keinen Fall helfen, wenn Ihnen bereits gesagt wurde, dass er tot ist, verstehen Sie das? Ich kann für ihn nicht noch weitere Menschenleben aufs Spiel setzen.‘ Erst eine Woche später brachten sie ihn zurück, als der Beschuss etwas nachgelassen hatte. Sie haben ihn unter dem Panzer hervorgeholt. Die Leichen waren schon mitten im Verwesungsprozess. Sie liegen in unseren Säcken, verstehst du? Die Leute sagen: ‚Na ja, aber es gibt doch Kühlschränke.‘ Aber ein Kühlschrank ist keine Gefriertruhe. Es sind keine Gefrierschränke. Legen Sie ein Stück Fleisch in einen normalen Kühlschrank. Wie lange dauert es, bis es schlecht wird? Und das ist der Körper eines Menschen.

Wir haben ein neues Gebäude, es ist im Moment nur etwas kalt dort. Wir nutzen teilweise das Gelände dieses Gebäudes, um die Leichen dort zu lagern. Sie liegen dort auf den Fußböden, und zwar aus dem guten Grund, dass es dort kalt ist. Denn der Boden ist aus Beton. Dabei haben unsere Leute, die Sanitäter, schon alles vorbereitet. Sie legten dort Decken und Planen hin, was immer sie hatten. Und dann kam das ... Aber die Leichen waren sowieso in Plastikpaketen.

Was uns hier fehlt, das sind diese schwarzen Pakete. Wir haben uns an Krankenhäuser gewandt, sie haben uns geholfen. Wer welche hatte, der hat sie uns gegeben. Und auch die Stadtverwaltung wird einige herausgeben. Wir begraben alle in Leichensäcken. Wer kann und wer Geld hat, der kauft Särge. Und jetzt gehen uns die Särge aus. Manche Leute kommen in dem Zustand an, in dem sie nun einmal sind – diese Leichen sind nur mit zwei oder drei verschiedenfarbigen Stofffetzen umwickelt.

Es ist eine schlimme Zeit gerade. Ich ekle mich vor ihr. Ich habe sehr viel Mitleid mit den Menschen. Sie sind unschuldig. Wir haben hier eine Großmutter. Ihr Junge ist gestorben, er stammt aus der Region Winnytsja. ‚Nehmt ihn nicht mit!‘ Er ist bei uns, schon seit den ersten Tagen der Kampfhandlungen. ‚Nehmt ihn nicht mit, wir holen ihn mit dem Flugzeug raus.‘ Und sie bringt alle durcheinander! Ich sage ihr: ‚Wissen Sie, niemand kann dem Jungen helfen, und wenn Sie jetzt auch noch draufgehen, wem nützt das dann? Denken Sie doch bitte an die Lebenden.‘

Insgesamt handelt es sich bei den Toten um die Kategorie ‚Menschen, die infolge von Kampfhandlungen gestorben sind‘. Es gibt auch Opfer von Kugeln und Minen ... In der Nacht vom 24. auf den 25. wurde in der Nähe des Kachovskaja-Wasserkraftwerks ein ziviles Auto beschossen. Bei den Toten handelt es sich um einen drei Monate alten Jungen und seine 2015 geborene Schwester. Und drei Erwachsene – eine 1966 geborene Frau, ein 1965 geborener Mann und eine 1995 geborene Frau. Sie tragen alle den gleichen Nachnamen, sie sind eine Familie.

Es ist hart. Ich kommuniziere mit den Angehörigen der getöteten ukrainischen Soldaten und Zivilisten. Dann gehe ich duschen und weine. Das ist schon eine Art Routine für mich geworden: am Abend zu weinen und am Morgen wieder zu arbeiten. Was soll ich denn tun? Ich muss diesen Job machen.

Es wäre besser, wenn sie einfach gehen würden.  So wie sie gekommen sind, so würden sie nachts leise verschwinden. Aber so wie ich das verstehe, ist das noch nicht vorbei.“

Der Oblast-Rat

Am Seiteneingang des Regierungspräsidiums stehen Wagen mit weißen „Z“s an den Seiten. Maschinengewehrnester ragen aus Betonblöcken heraus. Das Militärpersonal ist entspannt. Die Hände ruhen auf ihren Kalaschnikows. Die Masken werden heruntergezogen.

Eine Frau nähert sich dem Militär.

„Verteilen Sie humanitäre Hilfe?“

„Heute nicht.“

„Wenn nicht heute, wann wird es denn so weit sein?“

„Das weiß niemand. Kommen Sie jeden Tag. 9:00 Uhr, 10:00 Uhr. Und fragen Sie. Das ist der beste Weg.“

Das Mädchen mit dem Zopf steht hinter ihr.

„Ich wollte nach Medikamenten fragen. Wir brauchen unbedingt L-Thyroxin. Wir haben zwei Personen in unserem Haus, die es regelmäßig einnehmen, ihnen wurde die Schilddrüse entfernt. Sie sterben, wenn sie es nicht einnehmen. Mit wem können wir darüber sprechen?“

„Ich werde fragen, vielleicht weiß ja jemand Bescheid“, antwortet der Soldat und geht, um über Funk zu sprechen.

„Vielen Dank!“

Russische Militärangehörige vor dem Gebäude des Oblast-Rats von Cherson. Foto: Jelena Kostyuchenko / Nowaja Gazeta
Russische Militärangehörige vor dem Gebäude des Oblast-Rats von Cherson. Foto: Jelena Kostyuchenko / Nowaja Gazeta

Eine Oma mit einer großen Tasche bewegt sich schwerfällig auf die Soldaten zu und spricht ins Telefon. Ein Soldat bietet ihr einen Stuhl an, sie nimmt Platz und plappert: „Ich habe gewartet, es gab eine Schlange. Ich habe es nicht verstanden. Was hat man da verteilt? Und dann auch noch: Es standen Männer da, nur Männer. Wie viele Tage hast du gewartet? Wie geht es uns jetzt? Und die Soldaten sagen, dass der Bürgermeister, der Bürgermeister es ihnen verboten hat! Der Bürgermeister hat ihnen verboten, humanitäre Hilfe zu verteilen! Dass wir sie nicht brauchen würden! Was für ein Bürgermeister bist du denn?! Wie – du bist Bürgermeister? Steh auf und ernähre die Menschen! Warum gibst du den Leuten nicht zu essen?“

„Was ist dann denn für ein Bürgermeister? Ist das ein guter Mann?“, fragt der Kämpfer.

„Für welchen Scheißdreck soll der bitte gut sein?“ Die Oma wütet.

Die Kämpfer nicken und lachen.

„Sie wohnen weit weg, oder?“

„Ja, in der südlichen Siedlung. Es ist zu Fuß nicht weit entfernt.“

„Kommen Sie morgen.“

„Gibt es heute humanitäre Lieferungen?“

„Nö. Sie haben sie gestern verteilt. In der Nähe von Antonowka oder Ostrow. Das kann ich nicht genau sagen.“

„Werden Sie hier lange bleiben?“, fragt ein Mädchen einen Militärangehörigen.

„Ich weiß es nicht. Um ehrlich zu sein, glaube ich nicht, dass es noch schlimmer werden wird. Finde ich.“

„Schlimmer als das?“

„Nein, das glaube ich nicht.“

„Kluge Leute hier, was?“, sagt die Großmutter.

„Hier gibt es sehr wenige schlechte Menschen“, antwortet der Soldat. „Deshalb ist es auch alles so friedlich hier.“

„Aus Mariupol lassen sie die Leute nicht raus, deshalb ist es hier so“, sagt der zweite Soldat.

„Mariupol nutzt ja Zivilisten als menschliche Schutzschilder“, sagt die Oma.

Eine Frau nähert sich leise und fragt: „Wie kann man sich hier für eine Ausreise auf die Krim melden?“ Für die Ausreise aus Cherson auf die Krim meldet man sich im Gebäude der Oblast-Verwaltung an.

„Es wird alle zwei oder drei Tage einen Konvoi mit einer Eskorte geben“, rät ihr ein Militäroffizier. „Das heißt, Sie können genommen werden, wenn Sie kein eigenes Auto haben. Wenn Sie Ihr eigenes Auto haben, ist das Verfahren anders.“

„Habe ich euch die Ikonen gegeben?“, fragt die Oma die Soldaten.

„Ich habe keine bekommen. Sie haben sie jemand anderem gegeben. Nicht mir.“

„Soll ich Ihnen eine geben?“

„Bitte.“

„Eine würdige Ikone“, sagt sie. Sie hält eine laminierte Ikone der Jungfrau Maria und des Jesuskindes hoch, das eine Schriftrolle in der Hand hält. „Ich habe auch eine Ikone der Zarenfamilie. Von unseren Märtyrern. Soll ich sie Ihnen geben?“

„Na klar, wir haben hier einen Liebhaber dieses Themas. Danke.“

„Und das hier ist meine Lieblingsikone – der unüberwindbare Schutzwall. Und dann ist da noch die Reichsikone. Es ist eine russische Ikone. Als die königliche Familie gemartert wurde, übernahm die Muttergottes das Zepter des Zaren. Und jetzt lenkt sie das ganze Geschehen. Nun ... es ist Gottes Wille. Stimmt doch, oder?“ 

„Was denn sonst?“, antwortet der Soldat.

„Wie geht es Ihnen überhaupt?“, fragt eine junge Frau die Soldaten. „Sie sind in die Stadt eingedrungen, das gilt sowieso als Besatzung. Wie geht es Ihnen damit?“

„Für mich fühlt es sich nicht an wie eine Besatzung“, sagt die Oma. 

„Ich fühle mich ruhig. Ja, ruhig. Denn es geht es doch nicht schlecht. Und in moralischer Hinsicht... Wir haben niemandem etwas Böses getan. Wenn ich etwas Schlimmes tun würde, würde mich das vielleicht anstrengen.“

„Aber trotzdem haben Sie, als Sie hierher kamen, die Verteidiger der ukrainischen Streitkräfte umgebracht. Darauf läuft es doch hinaus.“

„Ich habe niemanden getötet.“

„Woher wissen Sie das?“

„Ich spüre es tief in mir, dass ich nicht getötet habe.“

Eine junge Frau, die an einer friedlichen Kundgebung auf dem Freiheitsplatz in Cherson teilgenommen hatte. Foto: Jelena Kostyuchenko / Nowaja Gazeta
Eine junge Frau, die an einer friedlichen Kundgebung auf dem Freiheitsplatz in Cherson teilgenommen hatte. Foto: Jelena Kostyuchenko / Nowaja Gazeta

„Fräulein, hier hat doch niemand jemanden an irgendetwas gehindert“, wirft einer der Mitkämpfer ins Gespräch ein.

„Sie haben die Stadt nicht verteidigt?“

„Alle hier sind schon vor langer Zeit gegangen. Ihr wusstet noch nicht, dass etwas passieren würde, und da waren sie schon weg. Innerhalb einer Woche.“

„Ihr habt eine schöne Stadt hier“, sagt ein Soldat der jungen Frau. „Aber es ist kalt hier. Ich dachte, dass es hier schon lange warm geworden ist.“

„Und ich habe schon den Löwenzahn blühen sehen!“, sagt die Oma. „Das macht nichts, nur noch eine Woche, dann werden in Sandalen statt in Stiefeln herumlaufen.“ 

„Alles wird wieder in Ordnung kommen. Wir müssen durchhalten. Das Leben kommt wieder in seine Gänge, alles wird wieder geöffnet werden. Und niemand rührt Sie an.“

„Sie durchsuchen die Wohnungen der Leute und nehmen sie mit.“

„Ja? Glauben Sie nicht, was die Leute sagen. Sehen Sie, was in der Stadt los ist, wer dort ist? Sie sehen, es ist alles Propaganda. Eure Leute plündern doch ohne Ende. Kein einziger Militärangehöriger wird dort hineingehen. Zuerst haben wir sie nicht angerührt, dann haben wir begonnen, die Plünderer auseinanderzutreiben. Es ist natürlich einfacher, die Schuld auf uns zu schieben ... Dass die Russen an allem schuld sind.“

„Als Sie zur Armee gegangen sind, haben Sie da jemals daran gedacht, dass Sie in einem anderen Land landen könnten?“

„Ja, natürlich.“

„Ihr habt doch ein Verteidigungsministerium. Deshalb heißt es doch ‚Verteidigungsministerium‘, damit es das Land gegen Außenstehende verteidigt, nicht damit es in andere Länder einmarschiert.“

„Entschuldigen Sie, Fräulein, sind Sie aus Tel Aviv?“, fragt die Oma.

Die Soldaten lachen.

„Nein.“

„Und auch nicht aus Jerusalem?“

„Ich kenne niemanden in Israel!“ Das Mädchen geht einen Schritt zurück.

„Ihre Medizin ist irgendwo versteckt! Bei den Unternehmern. Ich glaube, die örtlichen Behörden erlauben ihnen einfach nicht, die Apotheken zu öffnen. Wie auch immer, es gibt dort einen Vorrat. Es ist nämlich die Aufgabe des Bürgermeisters, Stimmung gegen die Russen zu machen.“

„Also warum nicht … warum legt ihr ihn nicht einfach um?“, fragt die Großmutter.

„Nun, offiziell ist er doch der Bürgermeister“, sagt der Militärmann. „Tun Sie das doch.“

Entführungen

Oleg Baturin ist 43 Jahre alt. Er arbeitet als Journalist für die Zeitung Novyj Den („Neuer Tag“, Anm. d. Red.). Er ist auf Investigativ-Recherchen im Bereich Korruption spezialisiert. Er lebt in Kachovka, einer Stadt 80 Kilometer von Cherson entfernt. Jeder in der Stadt kennt ihn.

Am 12. März wurde er entführt.

„Ich werde Ihnen einige Dinge nicht erzählen, weil ich mich noch auf besetzten Gebieten befinde. Verstehen Sie mich nicht falsch. Was ich in meinen Möglichkeiten steht, Ihnen zu erzählen, das werde ich erzählen.

Oleg Baturin, der eine Entführung überlebt hatte, zeigt seine Verletzungen, die ihm durch Handschellen und Schläge zugefügt wurden. Foto: Jelena Kostyuchenko / Nowaja Gazeta
Oleg Baturin, der eine Entführung überlebt hatte, zeigt seine Verletzungen, die ihm durch Handschellen und Schläge zugefügt wurden. Foto: Jelena Kostyuchenko / Nowaja Gazeta

Letzten Samstag erhielt ich gegen 12 bis 13 Uhr einen Anruf von einer unbekannten Nummer. Es war ein Anruf von einem Bekannten von mir, Sergiy Tsygipa, aus Nova Kachovka. Er ist ein Veteran der Anti-Terror-Operation (so nannten die ukrainischen Streitkräfte ab 2014 die Kämpfe gegen die Separatisten im Donbass, Anm. d. Red.), ein Aktivist und Blogger. Dann wurde mir klar, dass er zum Zeitpunkt des Anrufs bereits entführt worden war. Er sagte mit normaler Stimme: ‚Ich muss mich mit dir dringend treffen. Sag mir Bescheid, wie ich nach Kachowka kommen kann, es sind 12 bis 15 Kilometer, und wir werden uns da treffen. Lass uns an einem einfachen, leicht zugänglichen Ort treffen, zum Beispiel am Busbahnhof.‘ Natürlich hätte ich ahnen können, dass etwas nicht stimmt, und dieses Treffen vermeiden können.

Ich ging ohne Papiere, ohne Telefon hin. Das bedeutete, dass ich nichts bei mir hatte außer meinen persönlichen Gegenständen – Taschentücher, Handschuhe. Es war fünf Uhr abends. Als ich hinaussah, war er nicht da, da stand nur ein Kleinbus. Ich trat zurück, und einige gut trainierte Leute sprangen auf mich zu. Aus dem Augenwinkel konnte ich erkennen, dass sie kugelsichere Westen trugen, die den ‚grünen Männchen‘ auf der Krim sehr ähnelten, also es war eindeutig militärische Ausrüstung. Sie fingen an zu schreien: ‚Auf den Asphalt, auf die Knie‘, griffen mich an den Armen, legten mir Handschellen an, rollten mich auf dem Asphalt herum und fragten mich nach meinem Namen. ‚Wo sind deine Dokumente, wo ist dein Telefon?‘ Es hat sie wirklich geärgert, dass ich nichts dabei hatte. Sie haben alles gründlich durchsucht. Ich nannte ihnen den ersten Namen, der mir in den Sinn kam, und sie sagten: ‚Sie lügen.‘ Dann warfen sie mich in den Bus, fixierten meinen Rücken mit ihren Füßen, traten mich und schlugen darauf mit einem Sturmgewehr ein. Ich hatte eine ziemlich dichte Jacke, sie hat die Schläge abgefedert.

Ihre Gesichter waren vermummt. Nur ihre Augen waren sichtbar, aber die konnte ich nur aus dem Augenwinkel sehen. Ich konnte sie überhaupt nur kurz anschauen, denn die ganze Zeit, in der sie mit mir sprachen, zwangen sie mich, den Kopf zu senken, eine Kapuze aufzusetzen oder sie wickelten das Klebeband so fest um meine Kapuze zu wickeln, dass sie nicht nach hinten fallen konnte. Ich konnte sie nicht identifizieren, ich konnte ihre Gesichter nicht sehen. Sie sprachen Russisch und waren eindeutig Russen, das war offensichtlich. Es gibt keine ukrainischen Truppen in der Oblast Cherson, und unsere Polizei ist auch nicht dort, wer sonst könnte mich also entführt haben?

Ich kenne unsere Straßen sehr gut, ich weiß, wo die Eisenbahnschienen verlaufen, wo die Kurven sind, und nach meinem Empfinden führten sie mich in die Stadt Nowaja Kachowka. Sie brachten mich in das Gebäude der Stadtverwaltung von Nowaja Kachowka. Sie fingen an, mich zu verhören: mein Name, mein Nachname, mein Geburtsdatum, mein Wohnort, mein Arbeitsplatz, warum schreiben Sie über ... Sie fragten mich nach irgendwelchen Nationalisten, ob ich irgendwelche lokalen Nationalisten kennen würde, nach Kundgebungen, die in unserer Region stattgefunden haben. Danach wurden ich und mehrere andere Personen in ein Polizeigebäude in der Nähe des Stadtzentrums gebracht. Darüber möchte ich nicht sprechen. Das Gefühl, dass einige andere Personen zusammen mit mir festgenommen wurden, hatte ich erst, als sie uns vom Ratsgebäude zum Polizeigebäude brachten.

Wir wurden dort verhört, und auch andere wurden dort verhört. Dann fesselten sie mich und die anderen mit Handschellen an einen Heizkörper, und ich saß dort bis zum Morgen. Sie traten mich und schlugen mich mit Gewehrkolben. Zum Glück nicht auf den Kopf. Auf meine Beine, auf meinen Rücken, auf meine Seiten. Aber meine Jacke hat die Schläge abgefedert. Die Schläge auf die Beine waren da schmerzhafter. Die Handschellen waren sehr eng geschnallt, meine Hände waren stark geschwollen, und ich habe davon immer noch Narben. Sie drohten ständig damit, mich zu töten. Der Sonntagmorgen war für mich am unheimlichsten. Als sie uns wieder wegbrachten, dachte ich, sie würden uns auf das Feld bringen, um uns zu erschießen. Ich habe mich in Gedanken von meiner Familie verabschiedet.

Am Sonntag wurden einige Leute und ich in das Gebäude der Regionalverwaltung von Cherson gebracht. Ich habe die Person, die mich verhört hat, gefragt, ob ich Sie fragen darf, wo ich bin. Ob ich in Cherson bin? Mir wurde gesagt – ja, ich sei in Cherson. Sie interessierten sich für die Organisatoren von Kundgebungen, die überall stattfinden, und sie wollten alles über die Leute wissen, die die Telegram-Kanäle betreiben. Ich konnte nicht sehen, mit wem ich gesprochen habe. Mein Rücken und mein Kopf lagen sehr tief. Sie beobachteten mich die ganze Zeit, während der Verhöre wurden mir die Hände gefesselt, erst hinten, dann vorne. Sie beobachteten mich, wenn ich versuchte, mich zu bewegen, wenn meine Nase juckte, zogen sie mich scharf zurück, damit ich mich nicht von der Stelle rührte.

Nach einem weiteren Verhör öffneten sie das Fenster, und auf dem Freiheitsplatz fand eine Kundgebung statt. Es war einfach großartig! Ich konnte sehr deutlich hören, was dort vor sich ging. Ich konnte die Verwirrung derjenigen spüren, die mich befragten. Sie sagten: Wir sind gekommen, um diese Menschen zu beschützen, aber sie laufen herum und schreien irgendwelche unverständlichen Dinge. 

Wir wurden alle in getrennten Räumen verhört. Dort durften wir zum ersten Mal seit 24 Stunden wieder auf die Toilette gehen. Am Samstagabend bekam ich ein kleines Glas Wasser. Und am Sonntagnachmittag gab man mir auch etwas Wasser zu trinken. Nach dem Verhör wurden wir in eine Einrichtung gebracht, die ich für ein Gefangenenlager hielt. 

Ich war allein. Jede Zelle hatte eine Toilette und Wasser, d.h. man konnte trinken. Es gab einen Wasserhahn mit einem Waschbecken. Allerdings gab es kein Toilettenpapier, keine Seife, kein Handtuch, keine Wechselkleidung, nichts von alledem; wir schliefen auf kahlen Kojen. Die ersten paar Tage war es sehr kalt, es war Frost. Vor allem nachts habe ich gefroren. Dann wurde es besser, weil die Heizung ein wenig Wärme ausstrahlte. Die letzten Tage waren dann schon deutlich besser. Die erste Mahlzeit, die ich am Montagnachmittag bekam, waren 350 Gramm Brei mit Fleisch, und an den folgenden Tagen bekam ich ein bis zwei Portionen pro Tag.

Dort wurden ständig Leute verhört. Auch mir widerfuhr dieses Schicksal, allerdings zu verschiedenen Tageszeiten. Ich verstand, dass diese Isolationszellen über mehrere Tage hinweg mit neuen Personen aufgefüllt wurden und dass sie ständig Verhöre durchführten. Ich habe gehört, dass Leute zusammengeschlagen wurden. Sie wurden herausgeholt und in einem separaten Raum geschlagen. Einige wurden direkt in ihren Zellen verprügelt. Man hat tagelang auf sie eingeschlagen. Ich kann das nicht beurteilen, weil ich es nicht gesehen habe. Ich kann mich nur auf das verlassen, was ich gehört habe. Meines Wissens wurden sie brutal zu Brei geschlagen, bis sie halbtot waren. Ich hoffe wirklich, dass diese Jungs überleben werden. 

Alles, was auf der Isolierstation vor sich ging, war wie eine Art Einschüchterung. Am ersten und zweiten Tag fanden mehr oder weniger professionelle Verhöre statt. Danach war alles ein bisschen chaotisch. Sie fragten mich, wann der Tag des Sieges sei und warum man den Tag des Sieges hier in der Ukraine nicht mehr feiere. Sie fragten mich, wann der Große Vaterländische Krieg (so wurde in der Sowjetunion der Zweite Weltkrieg ab 1941 genannt, Anm. d. Red.) begann, wann er endete und wer mit wem gekämpft hatte.

Und am achten Tag sagten sie mir morgens: ‚Pack deine Sachen, wir bringen dich nach Hause.‘ Sie fragten mich: ‚Warum geht ihr zu Kundgebungen, wozu braucht ihr das? Warum hetzt ihr die Leute auf, warum braucht ihr diesen ganzen Unsinn? Bleibt ruhig, wir sind gekommen, um euch zu retten. Und ihr randaliert hier einfach so herum?‘

Ich bin jetzt bei meiner Familie. Ich fühle Schmerz. Das alles tut mir weh, denn ich liebe die Oblast Cherson. Das ist nicht das Schicksal, das ich mir für mich oder meine Angehörigen gewünscht habe.“

Seit Beginn der Besatzung wurden 44 Personen bei der Stadtverwaltung als vermisst gemeldet. Drei von ihnen sind Frauen, ein Vermisster ist spanischer Staatsbürger. Fünf der Vermissten sind auf dem Freiheitsplatz verschwunden, auf dem friedliche Kundgebungen gegen die Besatzung abgehalten werden. Die anderen wurden auf der Straße, an Kontrollpunkten und aus Wohnungen entführt.

Der spanische Staatsbürger Mario García Calatayud, ein aktiver Teilnehmer an den friedlichen Kundgebungen auf dem Platz der Freiheit, ist verschwunden. Die Abbildung zeigt eine Erklärung an den Stadtrat. Foto: Jelena Kostyuchenko / Nowaja Gazeta
Der spanische Staatsbürger Mario García Calatayud, ein aktiver Teilnehmer an den friedlichen Kundgebungen auf dem Platz der Freiheit, ist verschwunden. Die Abbildung zeigt eine Erklärung an den Stadtrat. Foto: Jelena Kostyuchenko / Nowaja Gazeta

Nach Berichten von Einwohnern Chersons suchen die Entführer aktiv nach SBU-Offizieren, Veteranen der Anti-Terror-Operation, nach Aktivisten, Freiwilligen und Telegram-Bloggern.

Hier einige Ausschnitte aus den Berichten der Einwohner:

Drei Männer aus dem Dorf Zmievka im Bezirk Berislavsk wurden gefangen genommen, sie fuhren einen weißen Ford-Kleinbus. Ihre Frauen riefen wiederholt an, und nach ein paar Stunden meldeten sich Unbekannte am Telefon. Die sagten ihnen, dass man ihre Männer in einem russischen Hauptquartier gefangen halten würde. Sie nahmen auch den Sohn eines der Männer und seinen Kameraden mit, der sich auf die Suche begab, und zwar auf der Strecke zwischen dem Dorf Tschervonyi Mayak und Zmievka.

Am 21.03.2022 kamen Orks (Mit diesen bösen Fabelwesen-Fußsoldaten aus J.J. Tolkiens „Herr der Ringe“ sind im Volksmund die russischen Besatzungssoldaten gemeint, Anm.d. Red.) in unser Haus, nachdem sie zuvor begonnen hatten, die Türen aufzubrechen. Vorher kamen sie zu anderen Eingängen und suchten dort nach meinem Mann. Als sie kamen, versteckte sich mein Mann, und sie verhörten mich und mein Kind, dann riefen sie meinen Mann und sagten ihm, er solle nach Hause gehen. Er kam in Handschellen und mit einer Kappe über den Augen, und sie brachten ihn an einen unbekannten Ort. Mein Mann ist Mitglied der städtischen Warta (Sicherheitskräfte, Anm. d. Red.). Es waren fünf von ihnen und zwei in der Nähe des Eingangs. 

Sie fuhren nach Hause nach Tschaplynka, erreichten Tschernobaivka und verschwanden. Einen Monat lang waren wir auf der Suche nach ihnen; sie fuhren einen Opel Astra.

Am Morgen rief die Mutter des Kadetten an und teilte ihm mit, dass der Kadett von der Kundgebung nicht zurückgekehrt sei.

Das russische Militär holte unsere Kinder mit Säcken über dem Kopf aus ihrer Mietwohnung. Vor dem Haus haben die Russen zwei Geländewagen, einen Kleinbus und einen Ural-Militärtransporter mit Z-Symbol geparkt.

Mein Sohn ging mit einem Freund aus dem Haus. Sie wollten sich ansehen, wie sich unsere Gegend nach den Kampfhandlungen verändert hatte. Seit diesem Tag hat sie niemand mehr gesehen. Sein Telefon ist seither ausgeschaltet, er meldet sich nicht mehr bei mir.

Maskierte Männer mit Pistolen in der Hand nahmen meinen jüngeren Bruder mit. Sie brachten ihn an einen unbekannten Ort.

Ich vermisse eine Person. Sie verließ Antonowka in Richtung Markt, war ohne Handy unterwegs und sie meldete sich um 12 Uhr mittags zum letzten Mal bei ihrer Familie. Sie sagte, sie sei in der Warteschlange und würde bald nach Hause zurückkehren. Sie trug einen stahlfarbenen, gefederten Pelzmantel, Jeans und Pelzstiefel.

Meine Schwester und die Leute, mit denen sie eine Wohnung gemietet hatte, sind verschwunden. Menschen in russischen Uniformen mit einem Z-Symbol haben sie in ein Auto mit Z-Symbol gesteckt.

Wir waren mit meinem Sohn einkaufen, an der Straßensperre gefiel den Orks etwas im Telefon meines Sohnes nicht, sie nahmen es ihm weg und sagten, er würde sich später bei mir melden, aber bis jetzt hat sich noch niemand bei mir gemeldet.

Mein Vater und zwei Brüder waren auf dem Heimweg. Sie haben in Tschernobaivka Halt gemacht und verschwanden dann.

Am 12. März drang das russische Militär in die Wohnung ein, in der ich mit einem Verwandten lebe, verhörte mich, schüchterte mich ein und drohte, mich zu töten! Sie suchten nach Waffen, überprüften meine Zugehörigkeit zum ‚Nationalen Korps‘, zur Teroborona, zu den ukrainischen Streitkräften und zu anderen Spezialeinheiten. Sie wollten meine Beteiligung an der Organisation von Kundgebungen aufdecken, an denen ich nur einmal am 5. März teilgenommen hatte. Sie hielten mich für den Anführer einer nationalistischen Gruppe. Sie haben damit gedroht, dass sie mir das Bein abschneiden oder anschießen würden, weil ich zur Kundgebung am 5. März gegangen bin.

Mein Bruder ist verschwunden. Ich flehe Sie an, mir zu helfen. Die nächtlichen Anrufe von den Betrügern, die Lösegeld fordern, machen mich verrückt.

Am 5. März gegen 12 oder 13 Uhr waren Sasha und Zhenya zusammen mit einigen anderen Männern auf dem Dorfplatz. Russische Soldaten auf Tiger-Geländeautos näherten sich ihnen und begannen, ihre Telefone zu überprüfen. Sie haben auf den Handys von Sasha und Zhenya irgendwelche Informationen gefunden und sie nahmen sie mit. Als sie sie wegbrachten, sagten sie, sie würden sie zurückgeben. Sie brachten sie über einen Feldweg weg in Richtung Cherson. Dann wurden ihre Telefone eingeschaltet und wir begannen, ihnen zu schreiben und sie anzurufen. Sie antworteten, dass sie sie gehen lassen würden und alles in Ordnung wäre. Dann nahmen sie noch ein weiteres Mal den Hörer ab und sagten wieder, dass sie sie freilassen würden. Sie haben ihnen versprochen, dass sie sie gehen lassen würden. Ab dem 7. März haben sie nicht mehr geantwortet und auch keine Nachrichten mehr gelesen.

Ein Mann verschwand, russische Soldaten haben ihn entführt. Sie stülpten ihm einen schwarzen Sack über den Kopf und nahmen ihn mit.

Gegen 10 Uhr am 16.03.2022 betrat russisches Militär mein Haus. Nachdem sie kontrolliert hatten, ob Maxim irgendwie verdächtig tätowiert ist (was nicht der Fall ist) und welche Dateien er auf seinem Handy hat (das Handy hat sich während der Kontrolle mehrfach automatisch gesperrt, was den Kontrolleuren gar nicht nicht gefiel), wurde Maxim zur weiteren Befragung abgeführt. Nach Angaben eines Nachbarn wurde er auf dem Weg dorthin verprügelt und zusammen mit einem anderen Mann an einen unbekannten Ort gebracht. Sie haben ihn dann gefahren, aber es ist unmöglich, genau zu sagen, wohin. 

Ich bin in Cherson auf einer friedlichen Protestaktion gewesen. Mein Vater wird seit Montag, den 21. März 2022, vermisst; er ging zu einer Kundgebung und kehrte nicht zurück.

Mein Mann wurde am 9. März entführt. Am Morgen verschwanden auch seine Bekannten (die Namen liegen der Nowaja Gazeta vor, Anm. d. Red.). Sie riefen ihre Verwandten an und sagten, dass sie von den russischen Besatzern gefangen gehalten würden. Seit der russischen Blockade haben wir nichts mehr von ihnen gehört.

Von Zeit zu Zeit können wir sie erreichen. Aber wenn wir anrufen, dann ertönt ein Klingelton, aber niemand nimmt ab. Dann sind sie gar nicht erreichbar. Wir ihnen SMS auf ihre Handys geschickt, und sie antworten mit: ‚Wir sind am Leben, gesund und bald zu Hause‘. Wir wissen nicht, wo sie sind und was mit ihnen los ist.

Der mögliche Standort eines Geheimgefängnisses auf dem Gelände der Untersuchungshaftanstalt (Straße der Wärmeenergetiker 3), in dem die entführten Personen festgehalten werden. Foto: Jelena Kostyuchenko / Nowaja Gazeta
Der mögliche Standort eines Geheimgefängnisses auf dem Gelände der Untersuchungshaftanstalt (Straße der Wärmeenergetiker 3), in dem die entführten Personen festgehalten werden. Foto: Jelena Kostyuchenko / Nowaja Gazeta

Ein paar Leute kamen zurück. Es gelang mir, mit ihnen zu sprechen und den Standort des „Gefängnisses“ zu ermitteln. Es handelt sich um das Gebäude der Untersuchungshaftanstalt und des Kinderaufnahmezentrums. Es ist in der Straße der Wärmeenergetiker, Nummer 3. Bevor die russischen Truppen Cherson besetzten, verlegten die Stadtbehörden die Häftlinge in eine Strafkolonie, das Gebäude stand leer. Sie ist jetzt vom russischen Militär besetzt. Die Entführten beschrieben den Blick aus dem Fenster, den Ort und die Umgebung der Zelle auf dieselbe Weise. Nach ihren Angaben befinden sich jetzt auch zwei Ausländer, ein spanischer und ein niederländischer Staatsbürger, in dem „Gefängnis“. Der niederländische Staatsangehörige ist nach Angaben der anderen „Häftlinge“ schwer krank und liegt im Sterben.

Die Kundgebung

Auf dem Freiheitsplatz finden Kundgebungen gegen die Besatzung statt. Jeden Tag zur Mittagszeit.
Die größten Kundgebungen finden an Sonntagen statt.

Die Menschen versammeln sich auf der anderen Straßenseite des Oblast-Rats, gegenüber vom Kino „Ukraina“. Es sind aktuell 500 Menschen, und es werden immer mehr.

Die ukrainische Flagge ist auf der Kundgebung das wichtigste Symbol. Es gibt eine Menge Flaggen. Die Menschen halten sie in der Hand, heben sie in den Himmel, tragen sie auf den Schultern, Mädchen flechten sich gelbe und blaue Bänder ins Haar.

Auf dem Bürgersteig ist ein gemaltes Blumenfeld ausgebreitet. Ein Priester hält eine Ikone des Heiligen Wladimir hoch. Ein sehr junges Paar entrollt ein selbstgemachtes Plakat: „Ukraina vam ne po Zubam“ (sinnbildlich übersetzt: die Ukraine ist eine Nummer zu groß für euch; wörtlich übersetzt – an der Ukraine zerbeißt ihr euch die Zähne. „Zahn“ heißt „zub“; das Z wird hier großgeschrieben, weil es das Symbol der russischen Streitkräfte aus Westrussland ist, die in der Ukraine stationiert sind, Anm. d. Red.).

Sehr junge Kinder schreiben mit farbiger Kreide auf ein Plakat: „Wir werden unser Vaterland nicht für Buchweizen verkaufen“. Auf das Sicherheitsnetz am Straßenzaun schrieben sie: Ruhm den ukrainischen Streitkräften, Tod dem Feind. Zwei Megaphone gehen durch die Menge.

„Sie ist einig! Sie ist eins! Soborna Ukraina!“ („Geeinte Ukraine“ – eine beliebte Parole, die an die erste Unabhängigkeit des modernen Nationalstaats Ukraine ab 1919 erinnert, Anm. d. Red.)

Die Menschen singen die Hymne mit der rechten Hand, die sie auf ihr Herz drücken.

Eine Kundgebung gegen die russische Besatzung auf dem Hauptplatz von Cherson (sie findet jeden Tag um 12 Uhr statt). Die grüßten Demos sind sonntags. Foto: Jelena Kostyuchenko / Nowaja Gazeta
Eine Kundgebung gegen die russische Besatzung auf dem Hauptplatz von Cherson (sie findet jeden Tag um 12 Uhr statt). Die grüßten Demos sind sonntags. Foto: Jelena Kostyuchenko / Nowaja Gazeta

Die Menschenmenge bewegt sich. Ihr stehen auf der anderen Straßenseite zwei Soldaten gegenüber, die einen Mann in einer braunen Jacke festhalten. 

„Hey! Lasst mich los!“

Die Menschen klettern über die Absperrung und laufen über die Straße. Militärfahrzeuge mit Z-Symbolen fahren hinter dem Oblast-Rat auf die Uschakow-Straße. Ein Teil der Menge spaltet sich ab und versperrt den Autos den Weg – und die Fahrzeuge fahren zurück. Die Leute bleiben bei den Panzersperren stehen, die aus Eisenbahnschienen zusammengeschweißt wurden. Zwischen ihnen und den Soldaten liegen 80 Meter. Es ist eine Grenze, die nicht überschritten werden darf.

Eine alte Frau legt eine Babypuppe und ein Plakat „Die Raschisten sind Babymörder“ auf die Panzersperren. („Raschizm“ – so wird in der Ukraine der russische Faschismus genannt. Ein Kompositum aus dem englischen „Russia“ und dem russischen „fashizm“, Anm. d. Red.)

„Wollt ihr uns unser Land wegnehmen?  Ihr Bastarde“, schreit eine etwa 50-jährige Frau in ein Megaphon.

„Ihr Kindermörder!“ Die Menge hallt wider.

Das Militär antwortet mit einem Lautsprecher und spielt Musik. Die Hymne der Sowjetunion wird abgespielt. (Die Melodie der heutigen Hymne Russlands und der Sowjethymne ab 1944 sind identisch; und schon in der ersten Strophe der Sowjethymne ist die Vorherrschaft Russlands über alle anderen Sowjetvölker klar verankert; Anm. d. Red.)

Die Demonstranten finden auch einen Lautsprecher. Sie spielen die ukrainische Nationalhymne ab.

Das musikalische Duell geht weiter. Die Russen drehen auf: „Steht auf, Kinder, formt einen Kreis“ (ein Lied aus der sowjetischen Aschenbrödel-Verfilmung, 1947, Anm. d. Red.), „Und Lenin ist noch immer so jung“ (ein sowjetisches Propagandalied, auch bekannt als „Der Kampf geht weiter“, 1974, Anm. d. Red.), „Ich liege in der Sonne“ (ein Lied aus dem sowjetischen Zeichentrickfilm „Wie das Löwenjunge und die Schildkröte ein Lied sangen“, 1974, Anm. d. Red.).

„Idi domoj, poka zhivoj!“, schreit die Menschenmenge. („Geh nach Hause, solange du noch lebst!“, Anm. d. Red.)

Ein russischer Militärangehöriger tanzt zu den Rufen.

„Das ist doch ein Wasser-Waffenstillstand“, sagt eine Frau, die ein Band um ihr Haar gebunden hat. (Anm. d. Red.: Der Begriff „Wasser-Waffenstillstand“ ist Rudyard Kiplings „Dschungelbuch“ entlehnt. Dort verkündet der Elefant Chatchi, der ungekrönte König des Dschungels, einen Waffenstillstand während der Trockenzeit – damit alle in Ruhe aus dem Fluss trinken können. In der darauffolgenden Regenzeit haben wieder alle Tiere angefangen, sich gegenseitig zu jagen. Durch die sowjetische Dschungelbuch-Serie 1967-71 ist dieser Begriff in die russische Umgangssprache eingegangen.)

„Wir führen hier Krieg gegen die Orks, wir brauchen keinen Waffenstillstand!“, schreit ein junger Mann zurück.

„Ein Wasser-Waffenstillstand, ein Wasser-Waffenstillstand. Wir haben nur eine Stadt. Sie sind hier, aber es gibt doch auch noch uns.“ 

Am Sonntagabend wurde der „Wasser-Waffenstillstand“ gebrochen. Vor der Stadtverwaltung steht eine Stele mit einer ukrainischen Flagge, am Sockel befinden sich Porträts von Chersoner Bürgern, die im Donbass gefallen sind. Jemand hat in roter Farbe auf die Porträts geschrieben: „Die ukrainischen Streitkräfte töten Kinder im Donbass.“

Am Montag versammelten sich nur wenige Demonstranten, weniger als hundert Menschen. Die Menschen überquerten die Straße und begannen, die rote Schmiererei von den Porträts zu löschen. Es ist ihnen gelungen, zwei Buchstaben zu entfernen. Das russische Militär eröffnete daraufhin mit Blendgranaten und Gasgranaten das Feuer. Ein Mann stürzte und blieb liegen – leuchtend rotes Blut lief schnell an seinem linken Bein herunter.

Gegen die Teilnehmer der Kundgebung auf dem Freiheitsplatz werden Blend- und Gasgranaten eingesetzt. Foto: Jelena Kostyuchenko / Nowaya Gazeta
Gegen die Teilnehmer der Kundgebung auf dem Freiheitsplatz werden Blend- und Gasgranaten eingesetzt. Foto: Jelena Kostyuchenko / Nowaya Gazeta

Er wurde ins Krankenhaus gebracht. Die Wunden schienen Schusswunden zu sein – nach Ansicht der Ärzte wurden sie aber aller Wahrscheinlichkeit nach mit einem Luftgewehr oder Gummigeschossen verursacht. Es gab mehrere Wunden, die meisten davon Schürfwunden, aber eine Kugel durchschlug das Schienbein und durchtrennte eine Vene.

Am Tag darauf gingen die Demonstranten wieder auf die Straße. Es waren diesmal sogar noch weniger: nicht mehr als 60 Personen. Ein Megaphon hat keiner mitgebracht. Die Leute riefen: „Geht nach Hause!“ Sie haben die Hymne gesungen. Diejenigen, die beleidigende Dinge riefen, wurden als Provokateure bezeichnet und zum Schweigen gebracht. Einer der Busse fuhr vor, es wurde (auf Russisch) verlautbart: „Sehr geehrte Bürger! Wer sich nicht innerhalb von fünf Minuten verzieht, wird festgenommen.“ Die Menschen blieben trotzdem. Sie riefen: „Ne rozumiemo!“ (Anm. d. Red.: Ukrainisch für „Das verstehen wir nicht“ – was sich auf die Ansage in russischer Sprache bezieht). Die Autos auf der Uschakow-Straße feuerten sie mit Hupkonzerten an.  Auf der anderen Straßenseite, vor der weißen Oblast-Verwaltung, säumte eine Reihe von 80 russischen Soldaten die Straße. Sie standen selbstbewusst und traten von einem Fuß auf den anderen. Ihre Bewegungen verrieten keine Spur von Hektik oder Nervosität.

Mit einem Rauschen fliegt eine Gasgranate in die Menge. Sie explodiert, sie pfeift, sie fällt auf die Treppenstufen des Kinos und hüllt den ganzen Platz in Rauch und Nebel. Die Leute bleiben stehen und die Granaten fliegen weiter. Eine Granate trifft einen Mann in die Seite, er beginnt nach Luft zu schnappen. Er wird an den Armen weggezerrt, man legt ihn auf die Bank und wartet auf einen Krankenwagen.

Ein Krankenwagen transportiert einen Mann ab, der von einer Gasgranate getroffen wurde. Foto: Jelena Kostyuchenko / Nowaja Gazeta
Ein Krankenwagen transportiert einen Mann ab, der von einer Gasgranate getroffen wurde. Foto: Jelena Kostyuchenko / Nowaja Gazeta

Die Menschen fliehen in die Seitengassen. Nachdem sie sich vom Tränengas erholt haben, kommen sie immer wieder auf den Platz zurück. Sie schreien alle durcheinander. Auf sie wird geschossen.

Der Chersoner Bürgermeister Igor Kolychayev ordnet an, dass eine neue ukrainische Flagge am Rathaus aufgehängt wird. Es ist eine fünf Meter große Flagge, die mehrere Stockwerke bedeckt. Die alte, ausgebrannte und verblasste Fahne wurde vom Gebäude entfernt.

 

Übersetzung: Nathan Giwerzew. Die ungekürzte Originalfassung der Reportage ist auf Meduza abrufbar. Weil es ein Online-Magazin mit Sitz in Riga ist, unterliegt es nicht der Militärzensur.

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Romuald Veselic | Do., 31. März 2022 - 16:34

Chronik durchzulesen.
Niederschmetternd.
Früher gab's Socialismo o muerte!
Der Made in Germany Spruch "Lieber rot als tot", ist der absolut hirnlose Slogan der Superfeigen, die es sogar für spezielle Tugend halten.
Ich neige eher zu: Ukraine free! Russians go home!
Wo sind die Medienleute, die denen ähnlich wären, die den Vietnamkrieg begleiteten?

Meine tiefe Anerkennung für die Frau Jelena Kostyuchenko. Sie ist mutig und tapfer. Nicht mal 1000 FfF-Klimaretter können ihr das Wasser reichen.

Den Spruch in abgewandelter Form kenne ich ebenfalls. Doch in einem anderen Zusammenhang werter Herr Veselic! Denn der in der Nähe Nürnbergs gelegene BW-Standort war unter den damals eingezogenen Wehrpflichtigen einer, an dem man sozusagen "nicht tot über` m Zaun" hängen wollte um seine Grundausbildung zu machen;). Deshalb der Slogan. Mein Ehemann selbst hatte das Vergnügen. Seine restliche Dienstzeit (4 Jahre) verschlug ihn dann ins NATO Headquarter was dagegen anscheinend das reinste Paradies war, lt. Aussage;). Wie Sie sagen ist es wieder schwer verdauliche Kost die uns Frau Kostyuchenko da servierte. Doch ich brachte die Konzentration dafür u.a. deshalb auf, da diese Stadt die Heimat einer Bekannten ist, deren Mutter und Geschwister noch dort weilen und seltsam "verhalten" über ihr Leben unter der Besatzung berichten. Man schweigt sich darüber aus weshalb, aber der Riss scheint auch da mitten durch die Familie zu gehen was die echten "Ansichten zu den Besatzern" betreffen. MfG

Gerhard Lenz | Do., 31. März 2022 - 16:50

es aber nicht tun wird - weil ja nicht sein kann, was nicht sein darf. Zumindest, was die Putin-Hörigen in diesem Forum angeht.

Wie antwortete mir jüngst ein Forist, auf dessen Bemerkung ich nicht mehr antworten konnte:

Die Ukraine wollte in die NATO und die EU!

Hochverrat! Frechheit! Die Ukraine will selbstbestimmen, welchen Bündnissen sie sich anschließt?

Wenn das Herrn Putin mißfällt, scheint das als Kriegsgrund ja auszureichen - so die schlichte Logik der "Putinversteher".

Und Schuld ist sowieso immer nur der Westen.

Der bombardiert offensichtlich in der Ukraine gerade Wohnbauten, Krankenhäuser, Schulen usw.

Was wohl Ukraine-Flüchtlinge über die sinnfreie, vom Kriegsgeschehen unbeeindruckte Putin-Versteherei sagen würden?

Gut, sind ja nur ein paar Dutzend Unbelehrbare...? Aus den üblichen Kreisen, dem Umfeld der AfD, der Covidioten-Versammlungen usw.?
Politisch unbedeutend?

Trotzdem: Eine Schande!