
- Vom Geist der Verfassung und vom Ungeist der Zeit
Versammlungsfreiheit, Meinungsfreiheit, Recht auf körperliche Unversehrtheit: Diese und andere Grundrechte wurden von den Vätern und Müttern des Grundgesetzes im Jahr 1949 als Abwehrrechte gegen den Staat verstanden. Heute gilt als Querdenker, wer sie auch in Pandemiezeiten hochhält. Die Intention des Grundgesetzes wird in ihr Gegenteil verkehrt.
Zum 70. Geburtstag des Grundgesetzes hatte das Presse- und Informationsamt der Bundesregierung im Jahr 2019 die aufwendig gestaltete Website 70jahregrundgesetz.de freigeschaltet. Darauf erläutern Juristen, meist Lehrstuhlinhaber deutscher Universitäten, unter anderem die einzelnen Grundrechte in kurzen, 70 (!) Sekunden langen Videosequenzen. Zum „Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit“ etwa führt eine Professorin aus: „Artikel 2 schützt zum einen, was wir sind, unseren Körper, unser Leben und unsere Freiheit. Deshalb dürfen wir nicht einfach ohne Grund verhaftet werden, und wir dürfen auch über medizinische Behandlungen selbst entscheiden.“ Und zu der in Artikel 8 garantierten Versammlungsfreiheit erläutert ein Professor: „Die Behörden haben die Pflicht, Veranstaltungen zu ermöglichen und zu schützen. Sie dürfen sie nur dann beschränken, wenn dies gesetzlich vorgesehen ist.“
Die professoralen Statements sind erst drei Jahre alt und scheinen doch aus der Zeit gefallen. In beiden Videos werden Selbstverständlichkeiten ausgesprochen, auf die wir uns alle bis vor kurzer Zeit wahrscheinlich noch ohne längere Diskussion und ohne den Verdacht des Querdenkertums oder der Sympathie mit Rechtspopulisten hätten einigen können. Doch in diesen Zeiten flächendeckender, präventiver Demonstrationsverbote, die notfalls auch mit Polizeigewalt durchgesetzt werden, und in Zeiten anhaltender Forderungen nach einer allgemeinen, gegen jede Evidenz gerichteten Impfpflicht würden sie so mit Sicherheit nicht mehr formuliert werden. Der Zeitgeist ist längst über den Geist unserer Verfassung hinweggegangen.