
- Der Gang vor die Hunde
Mit Blick auf die Corona-Spaziergänge hat Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier Demonstranten gegen die Pandemie-Maßnahmen pauschal mit Gewalttätern in Verbindung gebracht. Das ist nicht nur seinem Amt nicht angemessen, es verkennt auch das seit jeher subversive Potential des Spazierengehens.
Fußgänger sind gefährlich. Im Asphalt, über den sie langsam hinwegziehen, wecken ihre Schritte eine geradezu unheimliche Resonanz. Die wahre Gefahr nämlich liegt in der Zeitlosigkeit. Und wahrlich: Das Leben der Fußgänger ist der Uhr entbunden. Um richtig zu flanieren nämlich, so hat es Berlins wohl berühmtester Fußgänger Franz Hessel bereits vor fast einem Jahrhundert geschrieben, darf man nichts allzu Bestimmtes mehr wollen. Man müsse, so Hessel in seinem berühmten Lobgesang auf das Spazierengehen, die Promenade ohne festes Ziel riskieren und auf die ungeahnten Abenteuer des Auges ausgehen. Also nur Fuß sein, nur Ablauf, nur Schritt und Tritt.
Gerade das aber macht die vielen kleinen Schritte auch heute noch so hochgefährlich. Mit ihrem langsamen, aber stets unermüdlichen Vorwärtsdrängen spazieren Fußgänger gegen das verordnete Zeitempfinden, gegen alle Ideologien und gegen fremde Wünsche. Spazierengehen, welch ein bedrohliches Wort in einer sonst doch endbeschleunigten Wortlosigkeit. Während sich die virtuellen Wege also längst überschlagen und sich die Updates im Netz algorithmisch erhitzen, macht schon ein kleiner Gang vor die Türe den rasenden Stillstand gegenläufig.