
- Brüssel, bleib bei deinen Leisten
Polen steht nach dem Urteil seines Verfassungsgerichts am Pranger. Hinter dem Konflikt verbirgt sich aber ein ungelöstes politisches Problem: Wie viele Kompetenzen sollen die Nationalstaaten an die EU abgeben?
Ein Urteil des polnischen Verfassungstribunals sorgt in Brüssel und Luxemburg für helle Aufregung: Am 7.Oktober hat es den Vorrang des EU-Rechts vor nationalem Recht offen infrage gestellt. Ein ungeheuerlicher Vorgang, der einen Sturm europäischer Entrüstung auslöste und die Präsidentin der Europäischen Kommission zu einer sofortigen Klarstellung veranlasste: „Sämtliche Urteile des Europäischen Gerichtshofs sind für alle Behörden der Mitgliedstaaten, einschließlich der nationalen Gerichte, bindend. Das EU-Recht hat Vorrang vor nationalem Recht, einschließlich verfassungsrechtlicher Bestimmungen.“
Politik und Medien in Deutschland und Europa spendeten einhelligen Beifall und beteiligten sich am Polen-Bashing: „Spalt und Streit“ würde Polen mit diesem Urteil säen. Die EU-Kommissionschefin drohte Polen mit finanziellen Sanktionen. Schon machen Spekulationen über einen möglichen „Polexit“ die Runde. Die politische Situation innerhalb der Gemeinschaft war so angespannt, dass der letzte EU-Gipfel – um Entspannung bemüht – das heiße Thema erst einmal vertagte. Tatsächlich berührt der Vorgang einen seit Jahrzehnten wunden Punkt im Kern der rechtlichen Konstruktion der Europäischen Gemeinschaft. Diese ist geprägt vom Grundsatz der begrenzten Einzelermächtigung. Nur wenn und soweit die Verträge den Organen der EU Kompetenzen zur eigenständigen Wahrnehmung übertragen haben, dürfen diese gemeinschaftsrechtlich bindende Entscheidungen treffen.