Wählen und wählen lassen – Die Kolumne zur Bundestagswahl - 2:1 für Scholz und Baerbock

Peinlichst genau werden bei den Fernseh-Triellen die Redezeiten der Kanzlerkandidaten gemessen. So drückt man sich vor der grundsätzlichen Frage: Verzerrt dieses Format nicht die Wirklichkeit?

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Moritz Gathmann ist Chefreporter bei Cicero. Er studierte Russistik und Geschichte in Berlin und war viele Jahre Korrespondent in Russland.

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Die Disziplin des Erbsenzählens feiert dieser Tage ein unverhofftes Revival: Die Medienbeobachter von „Übermedien“ zählten nach dem letztwöchigen Triell eigenhändig die Minuten und Sekunden, die Laschet, Scholz und Baerbock geredet hatten – und kamen auf ein ganz anderes Ergebnis als ARD und ZDF: Scholz hatte in Wirklichkeit am meisten, Laschet am wenigsten geredet.

Erwartungsgemäß ließ auch beim gestrigen Triell die Frage der Redezeit die Halsschlagadern anschwellen. „Irre“, twitterte ein sichtlich erregter Jürgen Trittin am Abend: „Beim Triell stellt die Moderatorin fest, dass Armin Laschet 50 Prozent mehr Redezeit hatte und wen würgt sie ab Annalena Baerbock.“ Tatsächlich war der Moderatorin Claudia von Brauchitsch ein Fehler unterlaufen. Auf Twitter entstand daraus schnell eine Staatsaffäre mittlerer Größe. Man fragt sich zuweilen: Was, wenn seinerzeit in Rom ständig jemand auf die Uhr geschaut hätte, um den Redner Cicero dann darauf aufmerksam zu machen, dass er seine Redezeit überschritten habe?

Scholz mit Baerbock gegen Laschet

Am gestrigen Abend waren die Redeanteile, glaubt man den Zeitmessern der privaten Sendeanstalten, am Ende dann doch fair verteilt. Alles fair gelaufen also? Auf den ersten Blick könnte man das bejahen. Auf den zweiten Blick muss man feststellen: Eigentlich muss man Baerbocks und Scholz‘ Zeiten zusammenzählen. Dann hätten sie den gestrigen Abend minuten- und zahlenmäßig klar für sich entschieden: 2:1. Denn de facto heißt es bei dieser Wahl schon seit langem: Rot-Grün gegen Schwarz. Wer daran Zweifel hat, kann sich gerne noch mal ansehen, mit welch ausgesuchter Freundlichkeit Baerbock und Scholz einander in der Sozialpolitik den Ball zuspielten.

Womit wir bei einer ganz grundsätzlichen Frage wären: Warum finden in diesem Jahr überhaupt erstmals in der bundesdeutschen Geschichte „Trielle“ statt, also unter Einbeziehung der grünen Spitzenkandidatin? Die Antwort scheint leichtzufallen: Drei Parteien haben einen Kanzlerkandidaten aufgestellt, also treten diese drei auch in gesonderten Formaten gegeneinander an.

Warum bekam Westerwelle kein Triell?

Nun hat der Kanzlerkandidat jedoch keinerlei verfassungsrechtlichen Status: Der Kanzler wird schließlich nicht direkt vom Volk gewählt. Allerdings hat es sich (seit Willy Brandt 1960) eingebürgert, dass die Parteien einen Spitzenkandidaten und die „großen“ Parteien einen Kanzlerkandidaten aufstellen. 2002 wagte das sogar in einem Anflug von Größenwahn die FDP mit Guido Westerwelle an der Spitze – und wurde von den damals erstmalig stattfindenden TV-Duellen ausgeschlossen. Dort stand Gerhard Schröder nur seinem Herausforderer Edmund Stoiber gegenüber. Grund dafür war, dass Umfragen wie Wahlergebnisse damals klar zeigten, dass Union, SPD und FDP andererseits in unterschiedlichen Ligen spielten. Westerwelle zog sogar vors Bundesverfassungsgericht, um sich ins Duell einzuklagen  und scheiterte.

Die Öffentlich-Rechtlichen berufen sich bei der Frage, wen sie in ihre TV-Formate einladen, auf das vom Bundesverfassungsgericht ausformulierte „Prinzip der abgestuften Chancengleichheit“. Das besagt, dass die Sender bei der Frage, wie ausführlich sie Parteienvertreter zu Wort kommen lassen, die Erfolge der jeweiligen Partei bei früheren Wahlen, darunter auch Landtagswahlen, aber auch Umfrageergebnisse, in ihre Entscheidungen einfließen lassen. „Nach diesen Kriterien werden alle Parteien dann in mehrere Kategorien eingeteilt“, schreibt das ZDF. „Alle innerhalb einer Kategorie vertretenen Parteien müssen vergleichbar behandelt werden. Zwischen den verschiedenen Kategorien ist dagegen eine Abstufung zulässig.“ Vulgo: Die Öffentlich-Rechtlichen bilden aus den Umfragekönigen eine Erste Bundesliga der Parteien, aus den restlichen eine Zweite Bundesliga.

Warum steht Christian Lindner am Katzentisch?

Und als in diesem Jahr in den Sendeanstalten über die TV-Formate zur Wahl entschieden wurde, da befanden sich die Grünen eben im Umfragehoch – mit stabil mehr als 20 Prozent. Heute liegen sie Umfragen zufolge mit 15 Prozent gerade noch drei Punkte vor der FDP. Warum spielen sie medial also noch in der Kanzlerliga, während Christian Lindner sich am Katzentisch mit den Vertretern von AfD, Linken und CSU unterhalten muss?

Ganz allgemein darf man auch die Frage aufwerfen, ob die Chancengleichheit mit dieser Art von „Zwei-Klassen-System“ ausreichend gewahrt ist, wenn sich ein gegenwärtig erkennbarer Trend verfestigt: Die Volksparteien, die über Jahrzehnte eine überaus dominante Kraft mit mehr als 40, in den vergangenen Jahren immerhin noch mit mehr als 30 Prozent waren, liegen aktuell bei um die 20. Schauen wir mal, wo wir in vier Jahren stehen – und ob die real existierende Demokratie nicht dazu geführt haben wird, dass die meisten Parteien in einer Liga spielen.

Es wäre eine Rückkehr zur „Elefantenrunde“, die in den 70er- und 80er-Jahren regelmäßig in der Woche vor den Wahlen stattfand. Die gibt es in diesem Jahr nach all den Triellen und Vierkämpfen übrigens auch noch zu sehen: Unter dem knackigen Titel „Schlussrunde“ versammeln ARD und ZDF am Donnerstagabend um 20.15 Uhr die Spitzenkandidaten aller im Bundestag vertretenen Parteien.

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Christa Wallau | Mo., 20. September 2021 - 18:15

noch einmal etwas mehr Schärfe und Klarheit in den Wahlkampf bringen.
Zwar haben sehr viele Bürger bereits ihre Stimme abgegeben, aber es geht noch immer um bisher unentschlossenen Direktwähler bzw. bisherige Nichtwähler, die sich kurzfristig entschließen könnten, doch das Wahllokal aufzusuchen.
Da die Unterschiede zwischen den einzelnen Parteien nicht riesengroß sind, dürften sich hier noch unerwartete Verschiebungen ergeben.
In jedem Fall wird es spannend am kommenden Sonntag!

Walter Bühler | Mo., 20. September 2021 - 18:16

Die meisten der heutigen "prominenten" (= saugut alimentierten) Journalisten halten sich einerseits selbst für die besseren Politiker, andererseits halten sie die echten Politiker hinter der Hand für ausgemachte Trottel, die man auf den rechten Weg bringen muss. Also versuchen sie, ihre persönliche (die "richtige") Politik durchzusetzen, indem sie die Politiker in ihre trögen Unterhaltungsformate (Quiz-Sendung, Show usw.) hineinpressen. So entstanden die Talk-Shows. Arrogante "Moderatoren" führen Politiker wie Affen im Zirkus vor.

Politiker spielen bei diesem Zirkus mit, weil sie keinen anderen Weg kennen, mit dem Wahlvolk in Kontakt zu kommen. Sie leben meist mit den pseudoprominenten Moderatoren in derselben politischen Blase, und gehören auch noch oft denselben ideologischen Netzwerken an.

Ich halte nur den Politiker für einen echten Politiker, der bei diesem doofen Spiel nicht mitmacht und sich als Persönlichkeit in Würde zu behaupten vermag. Leider gibt es davon sehr wenige.

Werter Herr Bühler, zum einen teile ich Ihre Kritik und empfehle Ihnen daher mal bei Servus-TV einzuschalten.

Die Formate "rechts-links-mitte", Klartext, oder auch sehr zu empfehlen "Talk im Hangar", sowie Fleischhauer mit seinen 9 Min die es oft auf den Punkt treffen, sind wirklich sehenswerte Formate. Alles immer so ab 22 Uhr und auch mit einer späteren Wiederholung.

Denn dort sind beide Positionen paritätisch und nicht wie bei uns einer gegen 3 (+ Moderator/in) besetzt.
Gestern war dort sogar der bei uns total geblockte Thilo Sarazzin zu Gast.

Wie gesagt, die Ösis sind deutlich objektiver als unsere Presse.

Ich stimme Ihnen völlig zu Herr Bühler. Das ist auch meine Meinung. Ich kann Herr Schuberths Hinweis auf Servus TV nur unterstützen. Diese Sendungen dort, neben dem Wegscheider sind seit langem bei meiner Frau und mir ein "must have".
Eines muss ich diesen "Triells" positiv bescheinigen. Noch nie wurde die Unfähigkeit der Politiker und die Voreingenommenheit der ÖRR und Privaten so hervorragend dargestellt, wie es diesmal der Fall war. Ja, für die unentschlossenen Wähler ist das nicht hilfreich oder doch? Man kann sich auch alternativ informieren, wenn man will und nicht von der Mikrobe der politischen Verblödung befallen ist.
Allen noch eine schöne Woche.

Günter Johannsen | Mo., 20. September 2021 - 18:33

Noch einmal: Laschet ist nicht mein Wunschkanzler. Wenn wir aber schon bei´m Vergleich mit Fußball sind: Alle drei "Spieler" sind für mich nur Kreisliga-Spieler! Aber: Ich wähle diesmal CSU/CDU, weil ich Rot-Rot-Grün verhindern will. Ich wähle das geringere Übel und hoffe, dass sich eine Koalition mit der FDP mit SPD als Anhängsel ergibt! Vielleicht wird dann Stück für Stück eine Entwicklung in Richtung demokratische Normalität mit sozialer Marktwirtschaft erwachsen?!

Klaus Funke | Mo., 20. September 2021 - 19:36

Antwort auf von Günter Johannsen

Ich habe nie CDU/CSU gewählt. Diesmal tu ich es! Aus denselben Gründen wie Sie, lieber Herr Johannsen. Ich finde es fies und obermies wie die Medien mit Laschet und der CDU umgehen. Ob Merkel dahinter steckt, kann man nur mutmaßen. Vielleicht täuschen sich die Meinungsumfragen. Und RG schafft es nicht, oder nur mit der FDP, wobei diese Partei besser abschneiden würde wenn sie sich bekannt hätte - und zwar gegen RG. Ich kenne hier keinen, der die Grünen oder die Verräterpartei SPD wählt. Das sind Parteien der westdeutschen Großstädte. Wenn wir RG kriegen, dann wird es finster in Deutschland, und nicht nur wegen der Stromausfälle. Vielleicht hat aber nach 4 Jahren Bürgerfeindlichkeit, Verboten und Teuerungen auch die Presse genug von RG. Dann könnte eine erneuerte CDU/CSU mit der AfD Deutschland wieder stark machen. Hoffen wir´s.

könnten Deutschland wieder "stark" machen.

Der war gut!

"Stark", nein "hart", wie Kruppstahl. Hatten wir schon, und Traditionen überdauern bekanntlich dort besonders gut, wo man sich an Vergangenem orientiert. Wo heute das "freundliche Gesicht des Nationalsozialismus" für den Bundestag kandidiert.

Die AfD würde Deutschland verlässlich ins Chaos stürzen. Glücklicherweise beschränkt sich in der Union die Bereitschaft, auf die Rechtsextremen zuzugehen, auf ein paar unverbesserliche Wirrköpfe am rechten Rand.

Die vertreten allerdings Positionen, die in einer demokratischen Union nicht mehrheitsfähig sind. Sonst wäre die Union am Ende, würde auf das Niveau der NPD absinken.

Soweit wird es nicht kommen.

Rob Schuberth | Mo., 20. September 2021 - 18:50

...da die Grünen ganz offensichtlich ein bevorzugter Koalitionär für die SPD sind, ist es auch wieder gut, dass sie dabei sind.

Allerdings hätte dann auch die FDP von Beginn an dabei sein müssen.

Heidemarie Heim | Mo., 20. September 2021 - 19:17

Klasse lieber Herr Gathmann! Gibt mir Ihr Artikel doch die Gelegenheit eine persönliche Beobachtung der ganzen Spektakel mit einfließen zu lassen;) Nämlich das zwar auch am Katzentisch eine Zwei-Klassen-Komponente festzustellen ist, dies aber zu meiner Verwunderung zu einer eindeutig qualitativ höheren und besseren Diskussion führte als bei den Erstligisten. Man befleißigte sich sogar bis auf den ein oder anderen Seitenstich zur Abgrenzung einer gemäßigten und höflichen Tonlage und was mir wichtig bzw. mit ein Grund war mir solch ein Format überhaupt noch anzuschauen, war die Tatsache, dass in solchen Runden dezidierter und informativer die Unterschiede bezüglich Parteiprogrammatik und Ansinnen der Beteiligten zutage traten als in jedem Triell-Palaver;). Deshalb bricht m.E. auch niemand von der FDP ein Zacken aus der Krone wenn er doch am cat table wirklich inhaltliches loswerden kann statt Phrasen am Haupttisch;) MfG

Wolfgang Seifert | Mo., 20. September 2021 - 22:53

Die Medien sprechen ja auch nur noch über Themen der Grünen. Ist das Klima – vor allem die Lösungen der Grünen – wirklich so besonders? Als vor 50 Jahren der „Club of Rome“ genau die heute aktuellen Themen – nur deutlich professioneller – angesprochen hat, war es als erstes die FDP, die sich dieser Problematik angenommen hat. Es wurde verschlafen, da etwas zu tun und jetzt kommen die „Penner“ aus ihren Löchern und tun als hätten sie das Licht erfunden. Ein Beispiel: das E-Auto ist - zumindest solange nur 40% des Stroms regenerativ erzeugt wird - ein CO2-Sünder. Die Grünen (andere auch!) - ignorieren das, behaupten das Gegenteil und machen damit dann Wahlkampf. Da gibt es keinen Journalisten, der dazu die richtigen Fragen stellt. Im Gegenteil man unterstützt diesen Nonsens - eben auch mit Sendezeit. Das gilt leider für sehr viele Themen, deren Inhalte auf den Kopf gestellt werden. Das scheint journalistisch interessanter zu sein als die Wahrheiten, die die FDP anspricht.

Ingofrank | Mo., 20. September 2021 - 23:23

Mit Verlaub, diese Frage ist nicht ernst gemeint?

Wäre Lindner mit von der Partie wäre das Verhältnis 2 : 2 und nicht 2 : 1 so wie die versammelte linke Jurnallie das linke Übergewicht will. Im übrigen kann Laschet froh bei 2: 1 sein.
Beim heutigen hart aber fair war es 5 : 1 und jetzt die 1 Million Frage: Richtig Fr. Weidel von der AfD von ganz rääääächts. Und trotzdem hat sie mit dem Ausgaben v. Deutschland recht! Auch mit dem Umgang von Schulden bezogen auf die EU. Egal ob Afd oder nicht.
Mit freundlichen Grüßen aus der Erfurter Republik