
- Bedingt abwehrbereit
An diesem Freitag beginnt die Fußball-Europameisterschaft, und die Erwartungshaltung der deutschen Fans an „Die Mannschaft“ ist eher mau. Doch Erfolge sind dringend nötig, um deren angeknackstes Image aufzupolieren. Wie also sind die Aussichten? Eine Analyse der Sportreporter-Legende Waldemar Hartmann.
Diese Woche hat die Deutsche Sporthochschule Köln eine wissenschaftliche Studie veröffentlicht, deren Ergebnis überrascht: Fast die Hälfte aller Tore beim Fußball werden vom Zufall beeinflusst. Robert Lewandowski wird das nicht so gerne hören. Erinnert man sich dazu noch an die Erkenntnis von Andi Brehme, Siegtorschütze beim gewonnen WM-Finale 1990 gegen Argentinien: „Hast du Scheiße am Fuß, hast du Scheiße am Fuß“, dann gibt es leichtere Aufgaben, als die Chancen der deutschen Nationalmannschaft bei der anstehenden Europameisterschaft auszuloten.
Zudem müssen völlig neue Umstände berücksichtigt werden: Das Turnier findet erstmals verteilt über ganz Europa statt und, ja, Corona hat in der Geschichte der EM seit 1960 auch noch nie mitgespielt.
Ziemlich klar erscheint, dass die Erwartungshaltung der deutschen Fans an „Die Mannschaft“ nicht überbordend ist. Daran ändert auch der wirklich überzeugend herausgespielte 7:1-Sieg gegen Lettland nichts. Die Letten stehen in der Fifa-Weltrangliste auf Platz 138 zwischen Myanmar und Tansania. Und natürlich sind die 0:6-Niederlage gegen Spanien und die 1:2-Blamage gegen Nordmazedonien nicht vergessen.
Ansehen aufpolieren
Seit dem Debakel bei der WM 2018 in Russland ist das Verhältnis der Fußballgemeinde zu den Adlerträgern des DFB gestört. Die Einschaltquoten der jüngsten Auftritte des ehemaligen Lieblingskinds sprechen eine deutliche Sprache. Den Galaauftritt der Löw-Jungs gegen Lettland wollten in der ersten Hälfte nur 6,1 Millionen Zuschauer bei RTL sehen. Zum Vergleich: Beim DFB-Pokal im Achtelfinale zwischen Holstein Kiel und dem FC Bayern München saßen 6,4 Millionen vor dem Fernsehgerät.
Die „EURO 2020“ – so heißt sie offiziell immer noch – soll jetzt als Chance genutzt werden, um das Ansehen der Nationalmannschaft zumindest aufzupolieren. Auch dem Verband selbst würde ein sportlicher Erfolg helfen, vom unsäglichen Chaos in der Führung vorübergehend abzulenken. Nicht zuletzt Bundestrainer Jogi Löw will sein ramponiertes Image zum Ende seiner Tätigkeit wieder verbessern. Wie stehen also die Chancen?
Mit Weltmeister Frankreich und Europameister Portugal hat es den DFB bei der Gruppenauslosung extrem hart getroffen. Auch Ungarn gehört nicht gerade zur Laufkundschaft. Die Hoffnung: Auch als Gruppendritter kann man noch weiterkommen.
Schauen wir uns also die Hoffnungsträger mal genauer an.
Torhüter: Schon immer ein Prunkstück deutscher Nationalmannschaften. Mit Manuel Neuer steht die absolute Nummer 1 weltweit im Kasten. Fazit: Eine unbezahlbare Sicherheitsgarantie.
Abwehr: Da fangen die Sorgen schon an. Fachleute diskutieren über Dreier-, Vierer- oder gar Fünferketten. Ich bin da beim ehemaligen SPD-Kanzlerkandidaten Peer Steinbrück mit seinem Blick auf einen holprigen Wahlkampf: „Hätte, hätte, Fahrradkette“. Es wird allerdings nicht so sehr auf die Kette, sondern auf die individuelle Klasse der Akteure ankommen. Es gab ja einen zwingenden Grund für Löw, den vor drei Jahren aussortierten Mats Hummels zurückzubitten. Warum er nach dem Telefonat mit Hummels danach nicht gleich den ebenfalls geschassten Jerome Boateng angerufen hat, bleibt Löws Geheimnis. Der Münchner war in der abgelaufenen Saison der beständigste Innenverteidiger der Liga. Da muss es wohl persönliche Gründe geben. Gut, dass sich Toni Rüdiger beim CH Chelsea zuletzt so toll entwickelt hat, zumindest eine Baustelle weniger. Denn ohne den anderen Defensivstrategen zu nahe treten zu wollen, internationale Klasse bringt derzeit aus verschiedenen Gründen keiner auf den Rasen. Fazit: bedingt abwehrbereit.
Mittelfeld: Sorgenkind. „Was?“, werden Sie fragen. Da haben wir doch Weltklasse! Stimmt. Aber genau da lauert die Gefahr eines Unruheherds. Löw wird eher nicht mit einer Siebener-Kette im Mittelfeld antreten. Also werden immer mindestens zwei Topspieler auf der Bank sitzen. Das wird einem Toni Kroos nicht gefallen. Auch Ilkay Gündogan hat als Stammspieler bei Manchester City das Selbstverständnis, zur ersten Elf zu gehören. Zu Recht! Und Kay Havertz? Der hat den FC Chelsea mit seinem Tor zum Championsleague-Sieger geschossen. Beim FC Bayern gelten Joshua Kimmich und Leon Goretzka im Mittelfeld als gesetzt. Es gibt in der Bundesliga kein besseres Paar. Florian Neuhaus wird seit geraumer Zeit bei großen Vereinen gehandelt nach einer prächtigen Saison in Mönchengladbach, und Robin Gosens tritt mit dem Selbstbewusstsein auf, bei Atalanta Bergamo in der Championsleague zu den Besseren im Team zu gehören. Noch Fragen? Der Bundestrainer ist nicht zu beneiden.
Angriff: Wundertüte. Schon wegen des Überangebots im Mittelfeld gibt es die traditionelle Sturmbesetzung nicht mehr. Ohnehin fehlt im Aufgebot der klassische Strafraumstürmer, sieht man mal von dem auf den letzten Drücker nach Jahren wieder ins Aufgebot gerückten Kevin Volland ab. Auch dessen Berufung ist eine Art Offenbarungseid der deutschen Stürmerszene. In der Bundesliga findet sich in der Torschützenliste mit 14 Treffern Lars Stindel von Mönchengladbach als bester Deutscher auf Platz sieben. Mit elf Toren folgt Max Kruse von Union Berlin auf Rang acht. Beide genießen derzeit ihren Urlaub. Sie sind nicht im Aufgebot. Ebenfalls acht Tore gehen auf das Konto von Thomas Müller. Unser bester Stürmer also. Daneben gilt Serge Gnabry als gesetzt. Große Fragezeichen sehe ich bei Leroy Sane und Timo Werner. Zu unbeständig sind ihre Leistungen. Fazit: Wenn es ums Tore schießen geht, dürfen wir uns nicht nur auf den Sturm verlassen.
Trotzdem: Vorsichtiger Optimismus ist durchaus angebracht. Thomas Müller etwa ließ schon mal verlauten: „Wir haben uns im Kalender bis Mitte Juli freigehalten.“ Könnte passen. Das Finale findet am 11. Juli um 21 Uhr im Londoner Wembley-Stadion statt. Mein Wunsch: gegen England mit Elfmeterschießen. Mehr sag ich nicht.