Oliver Bierhoff, Direktor Nationalmannschaften und Akademie, bei der Ankunft der Mannschaft am Nürnberger Flughafen / dpa

Die deutsche Nationalmannschaft vor der Fußball-EM - Bedingt abwehrbereit

An diesem Freitag beginnt die Fußball-Europameisterschaft, und die Erwartungshaltung der deutschen Fans an „Die Mannschaft“ ist eher mau. Doch Erfolge sind dringend nötig, um deren angeknackstes Image aufzupolieren. Wie also sind die Aussichten? Eine Analyse der Sportreporter-Legende Waldemar Hartmann.

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Waldemar Hartmann ist Journalist und Sportreporter.

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Diese Woche hat die Deutsche Sporthochschule Köln eine wissenschaftliche Studie veröffentlicht, deren Ergebnis überrascht: Fast die Hälfte aller Tore beim Fußball werden vom Zufall beeinflusst. Robert Lewandowski wird das nicht so gerne hören. Erinnert man sich dazu noch an die Erkenntnis von Andi Brehme, Siegtorschütze beim gewonnen WM-Finale 1990 gegen Argentinien: „Hast du Scheiße am Fuß, hast du Scheiße am Fuß“, dann gibt es leichtere Aufgaben, als die Chancen der deutschen Nationalmannschaft bei der anstehenden Europameisterschaft auszuloten.

Zudem müssen völlig neue Umstände berücksichtigt werden: Das Turnier findet erstmals verteilt über ganz Europa statt und, ja, Corona hat in der Geschichte der EM seit 1960 auch noch nie mitgespielt.

Ziemlich klar erscheint, dass die Erwartungshaltung der deutschen Fans an „Die Mannschaft“ nicht überbordend ist. Daran ändert auch der wirklich überzeugend herausgespielte 7:1-Sieg gegen Lettland nichts. Die Letten stehen in der Fifa-Weltrangliste auf Platz 138 zwischen Myanmar und Tansania. Und natürlich sind die 0:6-Niederlage gegen Spanien und die 1:2-Blamage gegen Nordmazedonien nicht vergessen.

Ansehen aufpolieren

Seit dem Debakel bei der WM 2018 in Russland ist das Verhältnis der Fußballgemeinde zu den Adlerträgern des DFB gestört. Die Einschaltquoten der jüngsten Auftritte des ehemaligen Lieblingskinds sprechen eine deutliche Sprache. Den Galaauftritt der Löw-Jungs gegen Lettland wollten in der ersten Hälfte nur 6,1 Millionen Zuschauer bei RTL sehen. Zum Vergleich: Beim DFB-Pokal im Achtelfinale zwischen Holstein Kiel und dem FC Bayern München saßen 6,4 Millionen vor dem Fernsehgerät. 

Die „EURO 2020“ – so heißt sie offiziell immer noch – soll jetzt als Chance genutzt werden, um das Ansehen der Nationalmannschaft zumindest aufzupolieren. Auch dem Verband selbst würde ein sportlicher Erfolg helfen, vom unsäglichen Chaos in der Führung vorübergehend abzulenken. Nicht zuletzt Bundestrainer Jogi Löw will sein ramponiertes Image zum Ende seiner Tätigkeit wieder verbessern. Wie stehen also die Chancen?

Mit Weltmeister Frankreich und Europameister Portugal hat es den DFB bei der Gruppenauslosung extrem hart getroffen. Auch Ungarn gehört nicht gerade zur Laufkundschaft. Die Hoffnung: Auch als Gruppendritter kann man noch weiterkommen. 

Schauen wir uns also die Hoffnungsträger mal genauer an.

Torhüter: Schon immer ein Prunkstück deutscher Nationalmannschaften. Mit Manuel Neuer steht die absolute Nummer 1 weltweit im Kasten. Fazit: Eine unbezahlbare Sicherheitsgarantie.

Abwehr: Da fangen die Sorgen schon an. Fachleute diskutieren über Dreier-, Vierer- oder gar Fünferketten. Ich bin da beim ehemaligen SPD-Kanzlerkandidaten Peer Steinbrück mit seinem Blick auf einen holprigen Wahlkampf: „Hätte, hätte, Fahrradkette“. Es wird allerdings nicht so sehr auf die Kette, sondern auf die individuelle Klasse der Akteure ankommen. Es gab ja einen zwingenden Grund für Löw, den vor drei Jahren aussortierten Mats Hummels zurückzubitten. Warum er nach dem Telefonat mit Hummels danach nicht gleich den ebenfalls geschassten Jerome Boateng angerufen hat, bleibt Löws Geheimnis. Der Münchner war in der abgelaufenen Saison der beständigste Innenverteidiger der Liga. Da muss es wohl persönliche Gründe geben. Gut, dass sich Toni Rüdiger beim CH Chelsea zuletzt so toll entwickelt hat, zumindest eine Baustelle weniger. Denn ohne den anderen Defensivstrategen zu nahe treten zu wollen, internationale Klasse bringt derzeit aus verschiedenen Gründen keiner auf den Rasen. Fazit: bedingt abwehrbereit.

Mittelfeld: Sorgenkind. „Was?“, werden Sie fragen. Da haben wir doch Weltklasse! Stimmt. Aber genau da lauert die Gefahr eines Unruheherds. Löw wird eher nicht mit einer Siebener-Kette im Mittelfeld antreten. Also werden immer mindestens zwei Topspieler auf der Bank sitzen. Das wird einem Toni Kroos nicht gefallen. Auch Ilkay Gündogan hat als Stammspieler bei Manchester City das Selbstverständnis, zur ersten Elf zu gehören. Zu Recht! Und Kay Havertz? Der hat den FC Chelsea mit seinem Tor zum Championsleague-Sieger geschossen. Beim FC Bayern gelten Joshua Kimmich und Leon Goretzka im Mittelfeld als gesetzt. Es gibt in der Bundesliga kein besseres Paar. Florian Neuhaus wird seit geraumer Zeit bei großen Vereinen gehandelt nach einer prächtigen Saison in Mönchengladbach, und Robin Gosens tritt mit dem Selbstbewusstsein auf, bei Atalanta Bergamo in der Championsleague zu den Besseren im Team zu gehören. Noch Fragen? Der Bundestrainer ist nicht zu beneiden.

Angriff: Wundertüte. Schon wegen des Überangebots im Mittelfeld gibt es die traditionelle Sturmbesetzung nicht mehr. Ohnehin fehlt im Aufgebot der klassische Strafraumstürmer, sieht man mal von dem auf den letzten Drücker nach Jahren wieder ins Aufgebot gerückten Kevin Volland ab. Auch dessen Berufung ist eine Art Offenbarungseid der deutschen Stürmerszene. In der Bundesliga findet sich in der Torschützenliste mit 14 Treffern Lars Stindel von Mönchengladbach als bester Deutscher auf Platz sieben. Mit elf Toren folgt Max Kruse von Union Berlin auf Rang acht. Beide genießen derzeit ihren Urlaub. Sie sind nicht im Aufgebot. Ebenfalls acht Tore gehen auf das Konto von Thomas Müller. Unser bester Stürmer also. Daneben gilt Serge Gnabry als gesetzt. Große Fragezeichen sehe ich bei Leroy Sane und Timo Werner. Zu unbeständig sind ihre Leistungen. Fazit: Wenn es ums Tore schießen geht, dürfen wir uns nicht nur auf den Sturm verlassen.

Trotzdem: Vorsichtiger Optimismus ist durchaus angebracht. Thomas Müller etwa ließ schon mal verlauten: „Wir haben uns im Kalender bis Mitte Juli freigehalten.“ Könnte passen. Das Finale findet am 11. Juli um 21 Uhr im Londoner Wembley-Stadion statt. Mein Wunsch: gegen England mit Elfmeterschießen. Mehr sag ich nicht.

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Werner Gottschämmer | Do., 10. Juni 2021 - 09:47

Es kümmert mich nicht was die „Die Mannschaft“ macht, oder nicht macht! Finde den Artikel hier auch relativ überflüssig.

Tomas Poth | Do., 10. Juni 2021 - 10:40

Es gibt ihn noch!
Die Gruppe in der die Nationalmannschaft beginnt wird nicht viel zulassen für das Weiterkommen, dafür sind Frankreich und Portugal sehr große Hürden.
Das erste Spiel gegen Frankreich wird der Schlüssel sein sich evtl. für die nächste Runde zu qualifizieren.

helmut armbruster | Do., 10. Juni 2021 - 10:47

Erhöhung des eigenen Marktwertes sind der Grund für sein Engagement.
In einer Nationalmannschaft sollte der Grund sich zu engagieren ein ganz anderer sein, nämlich zu spielen und zu siegen für das Ansehen und die Ehre der eigenen Nation.
Eine aus Legionären bestehende Profimannschaft kann genau das nicht leisten und nicht liefern. Und das obwohl sie durchaus schönen und guten Fußball spielen kann. Es fehlt einfach der emotionale Hintergrund. Die Millionen Fußballfans wollen aber genau so etwas erleben, sie wollen in einen emotionalen Rausch fallen und das Hochgefühl des Siegers mit erleben.
Der Profifußball wirkt - bei aller Perfektion - technisch gekonnt, aber emotional steril und hat nicht genügend Ausstrahlungskraft um emotionale Begeisterungsstürme hervor zu rufen.
Deshalb habe ich Fußball für mich schon länger abgeschrieben und ich stelle erstaunt fest, dass mir nichts fehlt und dass ich nichts verloren habe.

lieber Herr Armbruster.

Genau das, was Sie ansprechen, nämlich Begeisterung und Einsatz für das eigene Land, die eigene Nation - dieses Gefühl ist ja den Deutschen (also auch allen Fußballspielern) durch krankhafte Angst vor Patriotismus (den man fälschlicherweise mit aggressivem Nationalismus à la Nazitum gleichgesetzt hat) quasi ausgetrieben worden.
Vaterlandsliebe? Oh, mein Gott! Pfui!
Wo sollte also ausgerechnet bei einem Deutschen die Freude am Einsatz für die Ehre s e i n e s Landes noch herkommen??? Ob es der Fußball oder die Bundeswehr ist - Deutschland setzt auf Söldner.
Das kann sich nur bitter rächen.

...Herr Armbruster.
"In einer Nationalmannschaft sollte der Grund sich zu engagieren ein ganz anderer sein, nämlich zu spielen und zu siegen für das Ansehen und die Ehre der eigenen Nation."
Und deshalb heißt der Laden auch "Die Mannschaft".

Spaßeshalber habe ich mir mal die Startaufstellung des WM-Finales 2018 (Frankreich gg Kroatien) angesehen. Von den 22 Spielern, die beim Anpfiff auf dem Platz standen, spielten 21 nicht in den heimischen Ligen. Offenbar alles geldgeile Legionäre ohne Stolz und Ehre!;-) Außer Mbappe natürlich, der seinem Vaterland treu geblieben ist - und heute bei PSG etwa 37 Millionen EUR pro Jahr bekommt.
Der Stimmung hat diese "Legionärsmentalität" übrigens keinen Abbruch getan. Ich war damals in Kroatien im Urlaub, Da war die HÖLLE los, trotz der Niederlage. In Frankreich dürfte die Stimmung nicht schlechter gewesen sein.
1990 holte Deutschland den Titel. Auch damals spielten Schlüsselspieler wie Brehme, Matthäus, Völler, Berthold und Klinsmann im Ausland.
30 Jahre später soll es Leute geben, die sich von der Nationalmannschaft abwenden, weil da zu viele Spieler einen Migrationshintergrund haben. Naja, Ewiggestrige gibt es überall...

Helmut Sandmann | Fr., 11. Juni 2021 - 05:05

Antwort auf von Kai Hügle

...Gab es schon immer, Klose, Boateng, Podolski, usw. Dass das Interesse an der Nationalmannschaft nachgelassen hat, hat m.E. 2 Gruende: 1. das Nationale wird verdraengt, es gab schon mal Trikots ohne die Farben der Deutschlandflagge, und manchen Leuten waere es am liebsten Deutschlandflaggen und Nationalhymne zu verbieten. 2. Jogi Loew, der unter allen Umstaenden weitermachen durfte, 2014 war ein Gluecksfall, der wenig mit Loew zu tun hatte. Ich habe mir seit der WM 2018 kein Spiel mehr angeschaut und habe nichts vermisst, auch die EM 2020 und die WM 2022 in Qatar- wie konnte man nur - werden an mir vorbeigehen ohne, dass ich auch nur 1 Minute mit zuschauen verschwenden werde.

Ich stimme der Aussage von Herrn Gottschämmer zu und Ihrem letzten Absatz ebenfalls (den Rest sehe ich etwas anders).

Obwohl ich einmal ziemlich lange sehr fußballbegeistert war, interessiert mich die Nationalmannschaft, die EM und auch die kommende WM in Qatar 0,0.
Wie sagte vor kurzem ein Hörerin sehr passend im Radio auf die Frage, ob sie sich auf die EM freue: "Mir sollen die Augen ausfallen, wenn ich ein Spiel anschaue!" Schon die letzte CL mit dem Rumfliegen der Teams in absurde Orte war schon Realsatire. Und alles was man dazu liest, zeigt nur wie verkommen, korrupt und eitel dieses Gewerbe ist. Mir fällt da nicht mehr viel Positives ein und das wenige wurde in den letzten Jahren effektiv zerstört.
Ein Statement wäre es, wenn eine große Fußballnation einmal sagen würde, ne bei dem EM Zirkus wie vorgesehen oder bei einer WM in Qatar machen wir nicht mit. Wenn man aber selber eine WM mit Betrug ins eigene Land geholt hat, mag das auch etwas unglaubwürdig klingen.

Norbert Heyer | Do., 10. Juni 2021 - 16:47

Vergangene WM und such EM waren für mich als großen Fußball-Anhänger immer herausragende Ereignisse. Trikotkauf auch für Sohn und Enkel, Autospiegel mit schwarz-rot-gold Überzug, Fernseherlebnis für alle Freunde und Familie. Aus, vorbei, diese EM geht an mir völlig desinteressiert vorbei. Ich kann mich nicht mit „Die Mannschaft“ identifizieren, das ist mit zu abstrakt, da besuche ich lieber Hamborn 07 in der untersten Kreisklasse, wenn es denn wieder möglich ist. Auch die Verantwortlichen des DFB haben sich nicht gerade mit Ruhm bekleckert mit ihrem internen Familienkrach. Außerdem hat man Deutschlands besten Fußballer aller Zeiten - vielleicht selbst nicht ganz schuldlos - ohne jede Unterstützung im Regen stehen lassen. Franz Beckenbauer, früher der heimliche Kanzler der BRD, wird komplett totgeschwiegen und die Verursacher dieses Debakels waren noch viel zu lange in Amt und Würden. Nein, ich habe mit der Nationalmannschaft abgeschlossen und werde mir ihre Spiele keinesfalls ansehen.

Ingrid Gathmann | Do., 10. Juni 2021 - 17:43

Man kann sich mit dieser Truppe doch gar nicht identifizieren, seitdem sie nicht mehr "Deutsche Nationalmannschaft" heisst. Der neue Name ist beliebig und wesenlos. Wie sollen sich die Spieler mit Migrationshintergrund für so einen namenlosen "Verein" einsetzen? Gilt ebenso für die Spieler "die schon länger hier leben". Dass der Jogi immer noch Trainer ist, ist auch unverständlich.