
- Storno statt Streitkultur
Die Universität Osnabrück hatte den Althistoriker Egon Flaig zu einem Vortrag über Machtkonzepte eingeladen. Dem AStA gefiel das nicht. Er sieht in Flaig eine Figur der Neuen Rechten. Doch statt sich mit dem Historiker öffentlich zu streiten, rief die Studentenvertretung zum Canceln auf.
Cancel Culture, so etwas gibt es doch gar nicht, sagen die, die sich linksliberal nennen, aber tatsächlich einfach nur links sind. Cancel Culture, das sei eine Erfindung mimosenhafter alter weißer Männer, die nicht begreifen wollen, dass die Zeit über sie hinweggegangen ist, dass sich die Diskussionskultur verändert hat und dass sie den Debatten bestenfalls noch vom Spielfeldrand aus zusehen, weil sie die neue Zeit, die da marschiert, nicht recht begreifen. Wer es böser mag, sagt: Cancel Culture ist ein rechtes Narrativ, dessen einziger Zweck die Verteidigung von Diskursmacht sei: gegen die Marginalisierten, die Jungen, die weniger Privilegierten.
„Jeder hat das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten“, so steht es in Artikel 5 des Grundgesetzes. Und so sei es ja auch, sagen die, die behaupten, es gebe keine Cancel Culture. Jeder könne seine Meinung frei sagen – nur eben nicht unwidersprochen. Das gelte auch in der Wissenschaft, die Artikel 5 in besonderem Maße schützt: „Kunst und Wissenschaft, Forschung und Lehre sind frei.“
Ein einschlägig ausgewiesener Experte
Also alles in bester Ordnung? Um diese Frage zu beantworten, muss man sich mit den Formen des „Widerspruchs“ befassen, der da geäußert wird, und man muss sich die Mühe machen, die Arenen auseinanderzuhalten, in denen gestritten wird. Tut man das, dann zeigt sich, dass nicht die Cancel Culture ein rechtes, sondern ihre Leugnung ein links-identitätspolitisches Narrativ ist, das in der Wissenschaft vor allem dem Zweck dient, die wissenschaftliche Logik des Erklärens und Verstehens der politischen Logik des „Kampfes gegen Rechts“ zu unterwerfen.
Anschauungsmaterial dafür hat unlängst ein Fall am Historischen Seminar der Universität Osnabrück geliefert. Die Abteilung Alte Geschichte hatte im Rahmen ihrer Vortragsreihe zu „Macht, Gewalt und Geschlecht“ Egon Flaig, Professor im Ruhestand an der Universität Rostock, zu einem Vortrag über „Die Grenzen von Machtkonzepten: Warum sich mit Bourdieu keine politische Soziologie der Antike machen lässt“ eingeladen. Flaig ist nicht nur ein renommierter Althistoriker, sondern auch einschlägig bestens ausgewiesen. Wie kein anderer hat er Denkfiguren der Annales-Schule, der französischen Soziologie und der historischen Anthropologie für die althistorische Forschung fruchtbar gemacht.
Ein streitbarer Wissenschaftler
Der Althistoriker Flaig hat aber immer wieder auch zu Fragen der Zeit Stellung bezogen, seine Äußerungen wurden auch jenseits des Elfenbeinturms wahrgenommen. Zwar sind und waren die Grenzen zwischen Geschichtswissenschaft und Politik stets fließend, wie der Historikerstreit und andere in die Öffentlichkeit hineinstrahlende akademische Debatten gezeigt haben. Doch hat Flaig, wiewohl streitbar, dezidiert als Wissenschaftler zu aktuellen politischen Großthemen wie Rassismus, Kolonialismus, Sklaverei, Migration Stellung bezogen. Nicht jeder goutiert, dass er konsequent Episteme über Moral stellt.
Aus Sicht der Hüter dieser Moral ist so ein langes Sündenregister entstanden. Flaig hat mit Verve gegen Jürgen Habermas Stellung bezogen und ihn dafür kritisiert, dass er unlauter mit seinen Gegnern im Historikerstreit umgegangen ist, dass er insbesondere Ernst Nolte unsauber und aus dem Zusammenhang gerissen zitiert hat. Kritik an Habermas gilt als Sakrileg, weil die Singularität des Holocausts zu so etwas wie der Staatsräson der Berliner Republik geworden ist. Flaig ist stark vom hierzulande wenig verstandenen französischen Republikanismus beeinflusst. Er wendet sich gegen den Essenzialismus von Ethnopluralismus sowie linker Identitätspolitik und sieht durch sie die Errungenschaften der Aufklärung und des Westens in Gefahr. Wer an Kontaktschuld glaubt, hat schnell vermeintlich belastendes Material gegen Flaig in der Hand: Er schreibt für den „Tumult“, gibt der „Jungen Freiheit“ Interviews und gutachtete gar für die AfD-Bundestagsfraktion. Flaig selbst hält Kontaktschuld für Humbug: Er spräche „privatissime selbst mit dem Teufel, wenn er ausreichend höflich bliebe“, zitiert ihn Mathias Brodkorb in der „FAZ“.
Kein Rauch ohne Feuer?
Natürlich eckt Flaig mit seinen Thesen an. Und so überrascht nicht, dass ihm längst das Attribut „umstritten“ angehängt wurde, das im Debattenraum der letzten Jahre zur vermeintlich vornehmen, tatsächlich aber perfiden Umschreibung von „rechts“ geworden ist: perfide deshalb, weil im Prinzip natürlich alles und jeder umstritten ist und man den Vorwurf deshalb nicht extra begründen muss. Wer umstritten ist, hat eigentlich schon nichts mehr zu verlieren. Hinter seiner intellektuellen und moralischen Satisfaktionsfähigkeit steht ein Fragezeichen. Kein Rauch ohne Feuer.
Für den AStA der Universität Osnabrück, der am 8. April 2021, eine „Stellungnahme zum geplanten Vortrag mit Egon Flaig“ abgab, ist der Althistoriker sogar „mehr als umstritten“. Die Studentenvertreter verlangten darin, die Universität dürfe Flaigs „rechten und revisionistischen Ansichten“ keine Bühne bieten. Selbst geben sich die furchtlosen Streiter gegen Rechts auf der Website des AStA mit wenigen Ausnahmen nur mit ihren Vornamen zu erkennen: als Jonas und Roman, Franco und Janine, Kristina und Victoria, Jesse, Anne, Rob und Andreas. Am 19. April legte die Fachschaft Geschichte in einer ebenfalls nicht namentlich gezeichneten Erklärung noch einmal nach: „Die Einladung von Egon Flaig sendet das Signal, dass diskriminierenden und verletzenden Äußerungen unreflektiert eine Bühne geboten wird.“
Menschenfeindliche Positionen?
Die Studenten basteln ihre „Analyse“ aus den stereotypen Versatzstücken der „Kampf gegen Rechts“-Rhetorik zusammen: Bei Flaig ließen sich Positionen feststellen, „welche strenge wissenschaftliche Standards der Wissensproduktion unterlaufen, marginalisierte Personen an Universitäten gefährden oder schlicht menschenfeindlich sind“, heißt es etwas ungeschlacht in einem Statement, das der AStA am 17. April auf seiner Website veröffentlicht hat. Mit der Einladung sende man ein Signal aus, „dass diskriminierenden und verletzenden Äußerungen unreflektiert eine Bühne geboten wird“, moniert die Fachschaft. Geradezu ungeheuerlich ist die Behauptung des AStA, Flaig falle „durch eine indirekte Rechtfertigung des Mordes an Walter Lübcke“ besonders auf.
Mit quellenkritischer Beweisaufnahme halten sich die studentischen Staatsanwälte nicht lange auf. Lieber setzen sie sich gleich selbst den Richterhut auf und das Strafmaß fest: „Der AStA spricht sich daher deutlich gegen die Einladung von Egon Flaig aus.“ Flaig soll demnach durch die Abteilung Alte Geschichte ausgeladen werden. Den Satz „Vielleicht sollte also an Flaigs Stelle lieber frischer Wind in die Alte Geschichte gebracht werden, um endlich wirklich aus der Geschichte lernen zu können“, dürfte man in der Abteilung wohl auch als unterschwellige Drohung verstanden haben.
„Antifaschistischer Abwehrkampf“
Worum es ihnen über die Causa Flaig hinaus eigentlich geht, sagen die Studenten übrigens auch: „Wir betonen einen notwendigen, antifaschistischen Abwehrkampf gegen die Bemühungen einer politischen Rechten, den gesellschaftlichen Diskurs nach Rechts zu verschieben, um somit menschenverachtenden Ideologien einen breiteren Boden zu bereiten.“ Der AStA wähnt sich tatsächlich als Speerspitze im „Abwehrkampf“ gegen eine rechte Verschwörung.
Ist das Cancel Culture? Ja natürlich, weil die Studenten denunziatorisch den Ruf eines Wissenschaftlers schädigen, um zu verhindern, dass er an ihrer Universität einen Vortrag hält, und weil sie sich anmaßen, in die Lehre der einladenden Hochschullehrerin hineinpfuschen zu dürfen. Ist hier gegen das Grundrecht auf Wissenschaftsfreiheit, wie es in Artikel 5, Absatz 3 verankert ist, verstoßen worden? Nein, denn die Freiheit von Forschung und Lehre ist ein Individualrecht des Einzelnen gegen den Staat, und der hat in Osnabrück, vertreten durch die Präsidentin der Universität, Professorin Susanne Menzel-Riedl, korrekt und konsequent gehandelt, sich hinter die Gastgeberin gestellt und den reibungslosen Ablauf des Vortrags ermöglicht.
Ein Dumme-Jungen-Streich?
Also alles nur ein Sturm im Wasserglas? Ein Dumme-Jungen-Streich von AStA-Funktionären, die sich warmlaufen für eine Karriere in der Berufspolitik? Leider nicht ganz, denn neun Angehörige des Historischen Seminars, darunter mit Christoph Rass auch ein Professor, haben sich mit dem Cancel-Versuch der Studenten solidarisiert. Sie bemängeln die Diskussionskultur in der Universität. Das ist ihr gutes Recht. Sie gehen aber einen Schritt weiter, loben die Statements von AStA und Fachschaft als „mutig und entschieden“ und erklären zum Versuch, die Einladung Flaigs zu verhindern: „Das Team der Professur für Neueste Geschichte und Historische Migrationsforschung teilt diese Kritik.“
Damit verlassen die Dozenten selbst die wissenschaftliche Arena und begeben sich auf ein schlüpfriges politisches Parkett. Sie hätten mit Egon Flaig streiten und versuchen können, seine Thesen zu widerlegen. Sie haben sich stattdessen mit Leuten gemeingemacht, für die Wissenschaft wenig mit Erkenntnis, dafür aber viel mit „Haltung“, Meinung und Gefühl zu tun hat. Sie hätten auf die Kraft des besseren Arguments setzen können. Diesem ausschließlich mit den Waffen der Wissenschaft geführten Agon haben sie sich verweigert. Wer zu canceln versucht, ahnt wohl, dass er in einem solchen Wettstreit den Kürzeren ziehen würde.