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Ödipus, Herrscher. Theater Bochum / Michael Saup

Wiedereröffnung von Bühnen - Gemeinsam frei atmen!

Seit einem Jahr findet auf deutschen Theaterbühnen so gut wie kein Programm vor Publikum statt. Jetzt gibt es erste Chancen auf Wiedereröffnungen. Warum das höchste Zeit ist, darüber schreibt in unserer kleinen Reihe heute Johan Simons, Intendant des Schauspielhauses Bochum.

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Autoreninfo

Johan Simons ist Intendant des Schauspielhauses Bochum. 

So erreichen Sie Johan Simons:

Nach einer Woche der Achterbahn zwischen ersten Test-Öffnungen etwa in Berlin, steigenden Infektionszahlen, der Rücknahme von Lockerungen und der Rücknahme der Rücknahme scheint sich im Land wieder der Experimentierwille zu regen – lokal die Möglichkeiten zu nutzen, die es gibt, Aufführungen stattfinden zu lassen, flankiert von Arrangements für tagesaktuelle Schnelltests. Tübingen etwa – dieser Tage die Stadt, auf die man blickt – macht es schon ganz regulär so. Aber die Lage bleibt unsicher, von verlässlichen Öffnungen und Normalität sind wir noch weit entfernt.

In unserer kleinen Reihe bitten wir Bühnenkünstler und Intendanten um persönliche Bemerkungen zur Lage ihrer Kunst in diesen Tagen: Wie sie dieses vergangene Jahr erlebt haben. Was mit ihrer Kunst geschehen ist. Was ihnen und uns fehlt, wenn das gemeinsame Erlebnis im Raum fehlt. Warum die Vorhänge bald wieder aufgehen müssen.

Nach Sasha Waltz in der letzten Woche schreibt heute der Intendant des Schauspielhauses Bochum, Johan Simons, geboren in den Niederlanden, erst Tänzer und Schauspieler, dann Regisseur und Theaterleiter. Seine Inszenierungen sind vielfach ausgezeichnet und zum Berliner Theatertreffen eingeladen worden. 2013 wurden die Münchner Kammerspiele unter seiner Leitung zum „Theater des Jahres“ gewählt.

Der Klang der Muttersprache

Anfang März bin ich bei uns im Theater in Bochum auf dem Gang dem Schauspieler Risto Kübar begegnet. Risto stammt aus Estland. Ich stamme aus den Niederlanden. Wir sprechen meist Englisch miteinander. Ich erzähle ihm: „Gerade probe ich ,Iwanow‘ von Anton Tschechow.“ Die Inszenierung von 2020 müssen wir auf Abstand uminszenieren für ein Live-Streaming. Ich sage: „Wir betonen den Titel russisch auf der zweiten Silbe: Iwánow.“ Risto wiederholt den Titel, Betonung auf der zweiten Silbe. Es klingt wie mein „Iwanow“ – und doch anders. Risto ergänzt: Auch eine Betonung auf der dritten Silbe sei im Russischen möglich. Iwanów. „Kannst du denn Russisch?“, frage ich. Und Risto erzählt: dass er 50 Kilometer von der russischen Grenze geboren wurde und deshalb auch Russisch spreche. Das hat man seinem „Iwanow“ angehört. Und es klang wunderschön.

Wenn man am Schauspielhaus Bochum arbeitet, kann man an einem Tag nicht nur Russisch oder Estnisch und Deutsch hören, auch Englisch, Flämisch, Niederländisch, Französisch, Swahili, Georgisch, Türkisch, Spanisch. Denn bei uns arbeiten Künstlerinnen und Künstler, die mit diesen Sprachen groß geworden sind. Wenn wir endlich öffnen dürfen, kann das Publikum diese Vielfalt wieder live erleben, unmittelbar Geschichten und Sprachen hören; natürlich bleibt Deutsch die Bühnensprache, aber dieses Deutsch hat sich in den vergangenen Jahren verändert. Es hat neue Akzente bekommen. Obwohl jede Schauspielerin und jeder Schauspieler trainiert wird, Hochdeutsch zu sprechen, bleibt der Klang der Muttersprache. Das ist kein Defizit. Sondern ein Reichtum!

Ein Modell für Gesellschaft

Im Theater stellen wir Menschen unsere Geschichten anderen, fremden Geschichten gegenüber: dramatischen Geschichten, brutalen, traurigen, witzigen, verstörenden, berührenden Geschichten und anderen sinnlichen Erfahrungen. Theater ist der Reichtum des Anderen. Er fehlt uns in Zeiten des Shutdowns so sehr. Wir vereinzeln. Im Theater erleben wir jeden Abend eine neu zusammengewürfelte Gemeinschaft im Saal, ein Modell für Gesellschaft. Und mit dem Blick auf die Bühne erweitern wir unseren Horizont. Dadurch bereichert, kehren wir zurück in unser eigenes Leben.

All das fehlt, mit kurzen Unterbrechungen, seit einem Jahr. Dass wir Theatermacherinnen und Theatermacher dennoch weiter proben durften, wir, die Privilegierten am Stadttheater, das ist toll. Künstlerinnen und Künstler müssen trainieren. Aber das Virus zwingt uns, das, was Theater kann, zu verstecken. Das macht einen auch wütend und traurig. Wir stellen unser Licht unter den Scheffel.

Alle Kunstformen zusammen

Ich höre die Leute, die sagen, Corona brächte auch etwas Gutes für die Gesellschaft, Entschleunigung, Konzentration auf das Wesentliche. Aber vor allem ist Corona ein Fluch. Das Virus macht so viele Menschen arbeitslos. Sie müssen umschulen. Verlieren ihr bisheriges Leben. Freie Künstlerinnen. Verkäufer. Kellnerinnen. Studierende. Selbstständige. Zum Beispiel. Während einige globale Big Player weiterwachsen.

Theater findet im Hier und Jetzt statt. Deshalb liebe ich es auch, dass man im Deutschen von „proben“ (also probieren) spricht und nicht von „wiederholen“, wie im Französischen (répéter) oder Englischen (rehearse) oder Niederländischen (repeteren). Wir probieren aus. Und auf der Theaterbühne kommen alle Kunstformen zusammen.

Der erste Applaus

Manchmal gelingt es, dass die Menschen dann gebannt dasitzen und der Atem auf der Bühne eins wird mit dem Atem im Saal. Es ist selten, aber wenn es gelingt, ist es eine unvergessliche Erfahrung. Atem brauchen wir! Was sehne ich mich nach dem Tag, an dem wir die Masken absetzen und wieder frei atmen können – gemeinsam frei atmen!

Das Theater wird noch lange brauchen, bis diese Wunde heilt: Abstände auf der Bühne, keine vollen Säle. Der Tag, an dem zum ersten Mal wieder voller Applaus aus einem 800-Personen-Saal erklingt, wird unbeschreiblich sein. Heiner Müller schreibt: „Länger als Glück ist Zeit, und länger als Unglück.“ Dass man solche Sätze denken kann, ist ein Riesentrost. Darin steckt ein Lebensauftrag: Geduld und Respekt. Hoffentlich kommt all das zurück, die Vielfalt – und vielleicht sogar stärker als zuvor.

Das Schauspielhaus Bochum bietet auf seiner Website Livestreams seiner Inszenierungen.


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Ernst-Günther Konrad | Mo., 29. März 2021 - 09:02

Und was machen Sie konkret gegen die Zerstörung von Kultur und Kunst? Was machen Ihre Verbände dagegen? Wo sind Eure Demonstrationen gegen die Vernichtung Eurer Existenz und gegen den Kultur Kotau? Ihr Artikel vermittelt wieder einmal mehr die Sehnsucht nach Freiheit und Applaus.
Na toll. Das träumen viele Menschen. Wie erlangt man seine Freiheit denn wieder? Doch nicht dadurch, dass man sich jammernd seinem Schicksal ergibt und dem Grunde nach kritiklos alles mit sich machen lässt und ansonsten in Träumen ergießt. Ein Teil Eurer Zunft begrüßt doch den Corona Wahnsinn, hat sich mit sicherlich intelligenten AHA Konzepten sogar bei der Politik angebiedert, dafür sogar Geld aus der eigenen Schatulle in die Hand genommen. Und jetzt? Wenn Ihre einzige Reaktion ist von Freiheit zu träumen, scheinen auch Sie noch immer Merkels THC zu rauchen. Ich bin kein Künstler, ich kann das nicht für Sie erledigen. Ich bin aber Zuschauer und würde Euch auch ganz persönlich unterstützen. Ihr seid gefragt!

Wie so oft, punktgenau e Landung, Herr Konrad.
Mein Spruch vom Großvater:

Ändere, was du ändern kannst & lass das, was du nicht beeinflussen kannst.
Und es sind meist die kleinen Dinge, die großes Verändern.

Ja, wer Wahrheit, Gerechtigkeit & Demokratie nicht tagtäglich einfordert, erwacht schnell in einen Alptraum.

aber es geht bei Corona nicht ums "letzte Gefecht".
Auch wenn das jemand so inszenieren wollte, dem ist nicht so.
Wir haben jedoch viele Möglichkeiten, mit dieser Pandemie nach unseren besten Möglichkeiten zu verfahren.
Da gebe ich Laschet recht, die meisten geben sich die allergrößte Mühe. Das zehrt und reizt die blankliegenden Gemüter auf allen Seiten.
Mir hat der Artikel gefallen und ich setze darauf, dass nach ausreichenden Impfungen, vielleicht schon vorher mit ausgefeilten Vorsichtsmassnahmen, die Kultur, die Kunst wieder loslegen kann und ich bin sicher, dass sie einen erweiterten Blick auf viele Stücke der Vergangenheit hat und Neues schreiben wird.
Zu den Feiertagen wird es sicher online Gottesdienste der größeren Gemeinden geben.
Mal sehen, was die Thomaskirche in Leipzig macht oder die Kreuzkirche in Dresden...
Ich habe so meine Kirchen im Lande
Bleiben wir ruhig, gefasst und besonnen.
Kurz vor dem "Gipfel" geht mir auch leicht die Puste aus, einatmen, ausatmen, weitergehen.

Sie sehen es klar.
Was ist das für ein Theatermann, der froh ist proben zu „dürfen“ – unfaßbar egoistisch und liebedienerisch. Meines Wissens hat das Virus kein einziges Verbort ausgesprochen. Vielleicht sollte man ihm Friedrich Schiller empfehlen – z.B. Wilhelm Tell, Die Räuber – solche Stücke passen besser in die Zeit.