
- „Viele in der Partei schämen sich“
Wegen der Kritik von SPD-Parteichefin Saskia Esken an seinem Essay über Identitätspolitik hatte Wolfgang Thierse seinen Parteiaustritt angeboten. Dem ehemaligen Bundestagspräsidenten ist eine Welle der Solidarität aus der eigenen Partei entgegengeschwappt. Aber wer kauft der SPD jetzt noch das Wahlkampfmotto „Respekt“ ab?
Wolfgang Thierse hat 20 Jahre lang die Grundwertekommission der SPD geleitet. Der Germanist und Katholik gehörte zu den Wegbereitern der Wende in der DDR. Er war Bundestagspräsident und Bundestagsvizepräsident.
Herr Thierse, auf einer Skala von null bis Hengameh Yaghoobifarah, wie woke sind Sie?
Mit mir müssen Sie in der alten deutschen Sprache reden. Sonst verstehe ich Sie nicht.
Das heißt, Sie wissen nicht, was „woke“ bedeutet, und Sie kennen auch Hengameh Yaghoobifarah nicht?
Doch, ich kenne beides. Aber ich bin an einer Stelle leicht störrisch, wie Sie merken. Ich möchte mich nicht immerfort dem Sprachgebrauch anderer unterwerfen müssen. Wir haben eine sich gewiss verändernde, verbindende Sprache, der ich mich gerne bediene. Vielleicht habe ich einen Germanistenschaden. Ich bin ja Germanist von Beruf.
Für Saskia Esken und Kevin Kühnert sind Sie offenbar nicht woke genug. Nach Ihrem FAZ-Gastbeitrag über die Gefahren der sogenannten Identitätspolitik haben sich die beiden gegenüber der Queer-AG in der SPD dafür entschuldigt, dass „einzelne Vertreter der SPD ein rückwärtsgewandtes Bild“ haben. Was haben Sie gedacht, als Sie das gehört haben?
Da überlegte ich kurz: Wen könnten sie gemeint haben? Da aber nach dem jour fixe der Grundwertekommission und des Kulturforums nur ein einziger Text zum Thema Identitätspolitik erschienen ist, nämlich mein Essay in der FAZ, musste ich annehmen, dass ich gemeint war. Ich hatte den Eindruck: Meine Parteivorsitzende distanziert sich öffentlich von mir. Deshalb hab ich zurückgefragt und sie gebeten, mir ebenso öffentlich mitzuteilen, ob mein Bleiben in der SPD schädlich ist oder nützlich.
Sie sagen das so unbeteiligt. Haben Sie sich gar nicht geärgert?
Nein, nicht so sehr. Da hatte ich ja schon den Shitstorm überstanden, der nach der Veröffentlichung meines Gastbeitrags über mich hereinbrach, organisiert vom Lesben- und Schwulenverband. Wissen Sie, da zuckt man kurz zusammen und denkt: Was hab ich da nur geschrieben?
Sie waren einen Moment über sich selbst erschrocken?
Ja, und dann habe ich schwule Freunde gefragt: Lest doch bitte nochmal meinen FAZ-Essay. Ob da irgendeine Spur von Homophobie durchschimmert. Sie lasen das und teilten mir mit: Nein, nichts. Wir unterstützen ausdrücklich, was Du geschrieben hast. Ich bin der Überzeugung, dass ich einen zutiefst sozialdemokratischen und grundvernünftigen Text geschrieben habe. Deswegen erschien mir die Distanzierung von Saskia Esken unangemessen.
Frau Esken hat hinterher behauptet, sie hätte Sie gar nicht gemeint. Kaufen Sie ihr das ab?