
- Der Wahn aus dem Valley
Lange Jahre wurde die Digitalisierung mit großen Verheißungen gottgleich auf einen Sockel gehoben. Jetzt offenbart sie ihre dunkle Seite. Sie ist geprägt von Süchten, Hass und einer besorgniserregenden Machtkonzentration.
Mitten in Barcelona, geschützt von der Plaça d’Eusebi Güell und den 600 Jahre alten Klosteranlagen von Pedralbes, liegt eine alte Kapelle. Eingeklemmt von zwei schmalen Türmen, erstreckt sich ihr Langhaus bis direkt vor die gläsernen Fassaden der Polytechnischen Universität. Torre Gerona, Turm von Girona, heißt das eigentlich unspektakulär daliegende Gotteshaus, das mit seinem Namen auf jene nordkatalonische Metropole verweist, in der seit dem späten Mittelalter die Kathedrale Santa Maria de Gerona bis kurz vor den Himmel ragt. Torre Gerona selbst ist wesentlich kleiner. Unter seinem roten Ziegeldach erstreckt sich das einst zu einem Kloster gehörende Gemäuer auf einer Grundfläche von gut 170 Quadratmetern.
Wer sich indes ins Innere der von lautem Verkehrslärm umspülten Kapelle hineinwagt, der wird nach wenigen Schritten von einem Wunder überwältigt. Denn kurz hinter der Apsis liegt eines der letzten Heiligtümer unserer Zeit: Mare Nostrum – ein im Jahr 2004 erstmals ans Netz gegangener Supercomputer, der, geformt aus unzähligen Servermodulen, in einer Art gläsernem Schrein auf einer Plattform, 70 Zentimeter oberhalb des Kappellenbodens ruht. Jedem Besucher stockt hier der Atem. Dieser gewaltige Computer hat einen Marktwert von 223 Millionen Euro und eine Rechenkapazität von 200 Petaflops, das entspricht einer Leistung von 200 Billiarden Rechenoperationen pro Minute. Damit belegt das von lauten Lüftungsanlagen umgebene Monstrum, das an diesem heiligen Ort Assoziationen an die Kaaba in Mekka weckt, im nach oben offenen Ranking der globalen Rechengiganten einen der fordersten Ränge.
Anfangs waren es vermutlich nur Platzgründe, die dazu geführt hatten, dass das benachbarte Barcelona Supercomputer Center (BSC) seinen Großrechner ausgerechnet in einer leeren Kapelle unterbringen ließ, doch mehr und mehr wurde er an diesem Ort zu einem modernen Götzenbild – derart mysteriös, dass ihn Bestsellerautor Dan Brown vor einigen Jahren sogar in einem seiner Romane verarbeitet hat.
Digitalisierung als Religionsersatz
„In Torre Gerona huldigen wir der letzten Superideologie unserer Zeit“, glaubt Marie-Luise Wolff, die sich der Faszination solch geheimnisumwitterter Orte nicht entziehen kann. Die 62-jährige Unternehmerin, die seit sieben Jahren als Vorstandsvorsitzende des Darmstädter Energieversorgers Entega AG arbeitet, weiß, wie sehr die Digitalisierung in den vergangenen drei Jahrzehnten zu einer Art Religionsersatz geworden ist. In den neunziger Jahren war Wolff Marketingleiterin beim Technologieriesen Sony. Sie kennt sich also bestens aus mit den großen Versprechungen der Tech-Industrie.
Das aber, was die zierliche Managerin mit der auffallend großen dunklen Brille heute über die bunte IT-Branche denkt, wirkt geradezu ketzerisch. Wolff nämlich glaubt, dass die binären Codes und Algorithmen im Inneren von Datenkolossen wie Mare Nostrum längst nicht mehr Lösungen für die Probleme der Zukunft bereithielten, sie seien vielmehr Götzen einer quasireligiösen Verehrung geworden. „Ja, wir beten die Digitalisierung an. Wir überhöhen ihre Errungenschaften – Social Media, Videotelefonie oder Virtual Reality – und überfrachten sie mit irrationaler Zauberkraft.“
Sinnlose Technikspielzeuge
In der Wirtschaft, dem Feld, auf dem sich die couragierte Managerin mit der sportlichen Kurzhaarfrisur tagtäglich bewegt, hat eine derartige Digitalisierungsskepsis zurzeit wenig Konjunktur. Dabei hat der blinde Glaube an die Cyberideologie laut Wolff längst zu irrationalen Entwicklungen geführt: Hedgefonds etwa investierten nicht mehr in Projekte, die an innovativen Herausforderungen arbeiteten, sie engagierten sich lieber für sinnlose Technikspielzeuge. Wolff erhebt gegen diesen Trend Einspruch. Ihre Zweifel und Fragen hat sie gerade in einer provokanten Schrift zu Papier gebracht. Titel: „Die Anbetung“, eine Art Schwarzbuch der digitalen Beschleunigung.
Denn Unternehmen, so ist Wolff in alter mittelständischer Tradition überzeugt, haben Verantwortung. Sie müssten Lösungen für die realen Probleme der Menschen finden – für Klimawandel, Armut oder Pandemiebekämpfung. Das aber, was die globalen Plattformkonzerne mit Vorzeigeunternehmen wie Facebook, Amazon und Google in den vergangenen zwei Jahrzehnten geleistet hätten, sei oftmals das glatte Gegenteil. Man gebe sich revolutionär, ohne wirklich zu revolutionieren: „Die Tech-Konzerne bieten digitale Gimmicks ohne Lösungskompetenzen und gefährden mit vielen ihrer Entwicklungen das Fundament unserer Bildung, unseres Denkens, unserer psychischen Gesundheit, ja unserer Demokratie.“