
- Wer cancelt hier wen?
Die Tageszeitungen „New York Times“ und „Le Monde“ liefern sich seit der Enthauptung des französischen Lehrers Samuel Paty einen Schlagabtausch zum Thema Cancel Culture. Jedes Blatt wirft dem anderen vor, es zensiere zwar andere, sei aber nicht zur Selbstkritik fähig. Aber stimmt das wirklich?
Es sind zwei linksliberale Zeitungen, offen, tolerant und weltläufig. Aber sie können auch anders. Blind für seinen Rassismus sei Frankreich, „unfähig, sich einer veränderten Welt anzupassen“, schreibt die New York Times an die Adresse jenes Landes, „das früher eine Großmacht war“. Le Monde kontert, die USA behinderten die Redefreiheit und würden langsam „zerstört“ durch die politische Korrektheit und die so genannte Cancel Culture.
Aber spulen wir an den Anfang zurück. Am 16. Oktober des vergangenen Jahres wurde der französische Geschichtslehrer Samuel Paty von einem jungen Tschetschenen brutal ermordet, weil er Mohammed-Karikaturen des Satiremagazins Charlie Hebdo im Unterricht gezeigt hatte. Die New York Times – die aus Rücksicht auf die Gefühle ihrer Leser keine Karikaturen mehr bringt – titelte spontan: „Die französische Polizei schießt und tötet einen Mann nach einer tödlichen Messerattacke in der Straße.“ Das klang schon fast nach einem jener polizeilichen Schnellschüsse, wie sie in den USA vorkommen. Dass Paty enthauptet worden war, mussten die Leser dem Wort „Messerattacke“ entnehmen.