
- Alte und Schwache zuerst!
In den Alten- und Pflegeheimen haben die Corona-Impfungen begonnen. Das hat die ethische Frage aufgeworfen, ob Menschen Vorrang haben sollen, die ohnehin nicht mehr lange leben. Eine Gesellschaft, die in ihrer Mitte noch von Zweifeln geplagt wird, sollte sich diese Fragen gefallen lassen.
Jede Rettung folgt ihren eigenen Regeln. Als am 25. Februar 1852 die H.M.S. Birkenhead, ein britischer Raddampfer, der Truppen von Südirland nach Kapstadt transportieren sollte, mit einer Geschwindigkeit von acht Knoten einen Felsvorsprung drei Meilen vor der südafrikanischen Küste rammte, da wurde in den verbleibenden 25 Minuten bis zum vollständigen Untergang eine Order geboren, die seither jeden besseren Katastrophenfilm schmückt: Es ist der sogenannte „Birkenhead Drill“. Er rettete in dieser sternklaren Nacht am Kap der Guten Hoffnung das Leben von sieben Frauen und dreizehn Kindern, während 441 Männer in den Fluten ertranken.
„To stand and be still / to the Birken’ead Drill / is a damn tough bullet to chew“, dichtete noch Jahre später der englische Schriftsteller Rudyard Kipling über eine Order, die besonders dem männlichen Teil der Bevölkerung eine Menge abverlangt hatte, ließ sie sich doch auf die kurze Formel „Frauen und Kinder zuerst!“ bringen. In der Theorie sollte diese Priorisierung das natürliche Recht des Stärkeren durch einen karitativen Impuls ersetzen, denn andernfalls wäre man auf Hoher See wirklich und ausschließlich in Gottes Hand gewesen. Praktisch indes blieb die Realität auch nach dem „Birkenhead Drill" die gleiche: Eine Untersuchung der Universität Uppsala aus dem Jahr 2019 brachte zutage, dass von 18 untersuchten Schiffsunglücken nur sieben identifiziert werden konnten, bei denen tatsächlich proportional mehr Frauen und Kinder denn Männer überleben konnten.