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Hat sich Russlands Präsident Wladimir Putin in der Außenpolitik verzettelt? / dpa

Wohin steuert Russlands Außenpolitik? - „In Moskau wurden die Folgen des Falls Nawalny unterschätzt“ 

Covid-19, Proteste, Nawalny und Wirtschaftskrise: Es ist ein turbulentes Jahr für den Kreml. Doch anders als in anderen Krisen hält er sich diesmal zurück. Experten sprechen von einer strategischen Wende in der Außenpolitik. Doch stimmt das wirklich?

Autoreninfo

Simone Brunner lebt und arbeitet als freie Journalistin in Wien. Sie hat in Sankt Petersburg und in Wien Slawistik und Germanistik studiert und arbeitet seit 2009 als Journalistin mit Fokus auf Osteuropa-Themen.

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Andrej Kortunow ist Direktor des regierungsnahen Russian International Affairs Councils (RIAC) in Moskau, das 2011 unter dem Präsidenten Dmitrij Medwedew gegründet wurde. Der Historiker gilt als ausgewiesener US-Experte, seine außenpolitische Expertise wird auch in russischen Regierungskreisen geschätzt.  

 „Russland hat seine Politik im postsowjetischen Raum geändert“, schrieb Ihr Kollege Wladimir Frolow zuletzt in einem Beitrag. Hat er Recht? 
Die Situationen in den Nachbarländern sind zwar alle für sich genommen sehr unterschiedlich, aber ich denke schon, dass sie sich aus russischer Sicht in eine allgemeine, gemeinsame Richtung einfügen: Dass es keinen wirklichen Wunsch mehr gibt, sich direkt in die Probleme anderer Länder einzumischen. Fakt ist, dass die Expansion in andere post-sowjetische Staaten inzwischen nicht mehr als gewinnbringende Aktiva, sondern als kostenintensive Passiva angesehen wird.  

Das müssen Sie erklären. 
Das bedeutet, dass man für jede Expansion bezahlen muss. Und zwar sehr viel. Sowohl ökonomisch als auch politisch, mit neuen Sanktionen und einer Verschlechterung der Beziehungen zum Westen. Dazu schein der Kreml nicht mehr bereit zu sein – zumindest vorerst.    

Zuletzt schien es aber noch so, als würde Moskau keine Gelegenheit auslassen, um sich militärisch zu engagieren  – Stichwort Ukraine, Syrien, Libyen. Was hat sich geändert? 
Russland leidet natürlich wie andere Länder unter der Pandemie. Die Ölpreise fallen. Es gibt innenpolitische Probleme, die Proteste in Fernost, die Wirtschaftskrise. Außerdem funktioniert der so genannte „Krim-Konsens“ nicht mehr, wonach die russische Bevölkerung bereit ist, ihre Lebensqualität für außenpolitische Siege oder das, was sie dafür hält, zu opfern. Die Außenpolitik kann nicht mehr die Quelle der Legitimität für die russische Führung sein. Die russische Führung ist gezwungen, sich mehr um innenpolitische Probleme als außenpolitische Fragen zu kümmern. 

Die Rhetorik ist derweil oft die alte. Als zuletzt bei den Präsidentschaftswahlen in der Republik Moldau nicht der russlandfreundliche Kandidat Igor Dodon, sondern seine Gegenkandidatin Maia Sandu gewann, sprach Sergej Naryschkin, Chef des russischen Auslandsgeheimdienstes SWR, von einer US-Einmischung und warnte vor einer „Farbrevolution.“ 
Es ist klar, dass der Chef des Auslandsgeheimdienst die Dinge anders sieht als das Außenministerium. Es mag unterschiedliche Standpunkte geben, aber Außenpolitik gibt es nur eine. Die maßgeblichen Entscheidungen in dieser Frage werden bei uns ganz oben getroffen. Aber ich denke, dass diese Rhetorik auch zeigt, dass das letzte Wort über eine neue Außenpolitik noch nicht gesprochen wurde. Es gibt noch viele Ungewissheiten. Wie hart wird die US-Administration gegen Russland vorgehen? Wer wird der nächste deutsche Kanzler? In dieser Situation ist es schwer, eine Strategie zu entwerfen. 

Die große außenpolitische Wende sehen Sie also nicht? Nur ein „window of opportunity“? 
Es gibt immer Möglichkeiten. Die Frage ist natürlich, wie groß die Bereitschaft für eine wirkliche Veränderung ist. Im Kreml hat man große Hoffnungen auf den Herbst gesetzt: dass wieder ein normaler Normandie-Gipfel über die Ukraine-Krise stattfinden wird, dass der französische Präsident Emmanuel Macron nach Moskau kommt und dass man bei Nord Stream 2 alles auf Schiene bringt. Viele Hoffnungen, die sich am Ende nicht erfüllt haben. Das liegt wohl einerseits am Fall Alexej Nawalny, dessen Auswirkungen hier in Moskau völlig unterschätzt wurden. Andererseits an Belarus, das viel Aufmerksamkeit bekommen hat. Es ist ein schwieriges Jahr für den Kreml. 

Befürworter der bisherigen Außenpolitik würden wohl dagegen halten, dass Moskau international wieder mitmischt und am Verhandlungstisch sitzt, wie etwa in Syrien. 
Natürlich, gerade im Nahen Osten ist Russland innerhalb kürzester Zeit von einem marginalen Player zu einem wichtigen Player geworden. Das Gewicht von Russland ist dort sehr gewachsen. Zugleich stelle ich die Frage: Wo ist unsere Exit-Strategie? Wir sind schon fünf Jahren involviert, aber die Lage ist noch immer instabil, und ein Ende ist nicht in Sicht.

Wenn der Krieg irgendwann vorbei sein wird: Wer wird für den Wiederaufbau zahlen? Das muss wohl jemand mit größeren finanziellen Möglichkeiten sein als Russland. Russland kann zwar den Krieg, aber nicht den Frieden gewinnen. Es ist natürlich gut, wenn man zum Verhandlungstisch geladen wird. Aber am Ende zählt nicht so sehr, wo du sitzt, sondern nur, was du erreicht hast. Der Tisch, an dem über Belarus entschieden wird, ist viel wichtiger für Russland als der über Syrien. Die Kunst der Außenpolitik besteht darin, Prioritäten zu setzen. 

Welche Szenarien verfolgt der Kreml für Belarus
Alexander Lukaschenko ist eine lame duck. Er muss gehen. Aber wie, ist noch nicht ganz klar. Das bevorzugte Szenario aus Kreml-Sicht: ein kontrollierter Machttransfer auf einen jüngeren Kandidaten, mit dem Moskau gut verhandeln kann. Szenario zwei: Die Straßenproteste setzen sich durch, und es kommt zu Neuwahlen. Das ist schlechter für den Kreml, weil es weniger Kontrolle gibt. Aber wenn das heißt, dass Belarus dadurch im geopolitischen Orbit von Moskau bleibt, als Teil des Unionsstaates, dann könnte man wohl selbst damit leben. Aber mir scheint, die Instinkte im Kreml gehen eher dahin, Lukaschenko weiter zu unterstützen.  

Sie haben die USA angesprochen. Welche Erwartungen gibt es in Moskau an den designierten US-Präsidenten Joe Biden
Trump war Putin näher, als Biden. Nicht unbedingt wegen seiner Politik, sondern wegen seiner Weltsicht. Trump und Putin sind Isolationisten und Anhänger einer transaktionistischen Politik. Biden wird hingegen versuchen, die transatlantische Einheit zu betonen. Er wird über Werte und Multilateralismus sprechen. All das, was Putin für leeres Gerede hält. In der Praxis kann das aber auch Vorteile haben.  

Welche? 
Etwa bei den gemeinsamen Interessen bei der Rüstungskontrolle. Obwohl die Verhandlungen nicht leicht sein werden, weil uns viele Streitpunkte trennen – wie die Frage des nuklearen Potentials von Drittstaaten. Da gibt es Fallstricke. Positiv sehe ich zudem die Professionalität des Biden-Teams und die Rückkehr zu einer logischen, nachvollziehbaren Außenpolitik.  

Und die Nachteile?  
Biden wird mehr Wert auf Menschenrechte legen. Möglich, dass dadurch die Opposition in Russland, aber auch Russland-Gegner außerhalb des Landes, in erster Linie in der Ukraine, unterstützt werden, vielleicht auch in Georgien oder der Republik Moldau. Oder die Opposition in Belarus. Ein Fragezeichen sind die Sanktionen: Wird Biden die Trump-Linie weiterführen? Oder wird er den Sanktionsdruck auf Russland erhöhen?  

In der Staatsduma knallten die Sektkorken, als Trump gewählt wurde. Erwartungen, die sich wohl nicht erfüllt haben?  
Es war schon früh klar, dass Trump ein schwacher Präsident sein wird, der punkto Russland wenige Handlungsspielraum hat. Deswegen wird auch bei Biden nicht die Frage sein, wie anti-russisch oder pro-russisch er ist. Sondern die Frage, ob er die Spaltung im Land überwinden kann. Wenn nicht, dann wird es vier Jahre so weitergehen wie unter Trump. Die ganz großen Sprünge wird es ohnehin wohl auch unter ihm nicht geben, sondern erst, wenn eine neue Generation an die Macht kommt, in Russland wie in den USA. 

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Dorothee Sehrt-Irrek | So., 6. Dezember 2020 - 13:05

Russland?
Für mich nur schwer vorstellbar nach dem Interview.
Russland hätte den Nawalny-Fall unterschätzt?
Doch nur, wenn der auf das Konto Putins ginge.
Dann würde ich allerdings von einer mich erschreckenden Tollpatschigkeit und sinnlosen Verrrohung russischer Politik ausgehen, denn wer bitte ist Nawalny in Russland, dagegen für auswärtige Leute, die vor allem in Kategorien des regime change denken?
Ich empfand schon, vor allem nach dem evtl. Niedergang unter Jelzin, eine Art kontrollierten "Übergang" durch Putin.
Das wird er jetzt "alleine" machen müssen, denn ich sehe derzeit niemanden auf einem auch nur annähernden aussenpolitischen Niveau im Rest der Welt, ausser vielleicht China.
Das liegt aber daran, dass es sich wie bei Russland, um deren nationale Selbstbestimmung handelt.
Aussenpolitisch stehen beide Großreiche samt Satelliten m.E. wieder auf der "Speisekarte".
Das ist nicht meine Art.
Ich wünsche beiden Großreichen, dass sie ihre eigene Transformation friedlich bewätigen.

Tomas Poth | So., 6. Dezember 2020 - 13:35

Staaten haben Interessen und ihre Außenpolitik wird von diesen Interessen bestimmt.
Ein wesentliches Interesse ist das eigene Territorium zu schützen und Eingriffe/Übergriffe vom Ausland her zu unterbinden.
Im Innern ist es wichtig eine gute Versorgung der Bevölkerung zu erreichen/erhalten damit diese nicht von der Fahne geht.
Jeder Staat muss seine Kräfte so einteilen das Gefahren von außen neutralisiert werden und im Innern nicht entstehen.
Russland hat von daher eingeschränkte Möglichkeiten nach außen zu expandieren, ihm fehlt die wirtschaftliche Kraft Zugewinn durchzuführen und danach auch zu halten.
Russlands Größe ist seine Stärke und Schwäche zu gleich.
Die Beziehung zu Belarus und Ukraine zeigen die Möglichkeiten und Begrenzungen Russlands.

Christoph Kuhlmann | So., 6. Dezember 2020 - 13:36

Vermutlich haben alle Beteiligten die Nase voll von diesen schwelenden Konflikten, welche zu einem permanenten Handelsboykott und mangelnden Fortschritten bei der Konfliktbewältigung vor Ort führen. Doch ist wenigstens an eine Rückgabe des Donezkbeckens zu denken. Die Milizen dort könnten sich ohne Waffenlieferungen aus Russland nicht lange halten. Welche Einnahmen haben sie denn? Dasselbe in Syrien. Ein Friedensvertrag mit Territorien für die Sunniten wäre dringend notwendig steht aber nicht zur Debatte. Moldawien hat eine westlich orientierte Präsidentin gewählt und die Lage in Weißrussland ist für Russland mehr als kritisch. Statt Expansion zeichnet sich langsam ein weiterer Rückschritt ab. Ein weiterer Einmarsch mit obskuren Kräften würde Russland die letzten Sympathien im Westen kosten. Unter dieser Bedingung wäre North Stream 2 nicht mehr zu halten. Die Energieimporte aus Russland müssten generell überdacht werden. Ohne Demokratisierung dieses Landes bleibt alles Stückwerk.

Ernst-Günther Konrad | So., 6. Dezember 2020 - 14:36

Egal, was Putin macht oder nicht macht, was er oder seine Minister sagen oder eben nicht sagen. Aus allem wird versucht etwas gegen ihn zu kreieren. Der Mann ist sicher kein Heiliger und folgt seiner inneren Einstellung. In neutralen Medien liest man durchaus, dass die meisten Menschen in Russland hinter seiner Politik stehen, natürlich gibt es auch Kritiker. Anders als Trump, der via Twitter auf alles und jeden "geschossen" hat, dürfte sich Putin einfach sagen, egal was die alle behaupten, wir sagen nichts oder nicht mehr viel und machen im Stillen unser Ding. So gelingt es ihm auch brenzligen Themen der ihm kritisch gegenüber stehenden Auslandspresse die Munition zu nehmen. Antwortet er nichts, gibt es zwar auch Spekulationen, die oft genug im Sand verlaufen, weil sie das bleiben was sie sind, häufig nur Provokationen und Übergriffigkeit. Wozu soll er sich noch groß äußern. Er wartet ab, was nach Angela kommt, wann sich die EU zerlegt hat und die NATO ist eh kein Gegner und die USA?

ihm eine große Akzeptanz in der Bevölkerung bestätigen oder, wie im Kommentar, einen souveränen Umgang mit -Zitat - Provokationen und "Übergriffigkeit", heißen eben oft Russia Today oder Sputnik, oder werden von irgendwelchen Putin-Fans betrieben.
Eine kritische Auseinandersetzung mit Putin ist bei den "Neutralen", die in Sachen Putin in etwa so neutral sind wie der Kreml selbst, selbstverständlich nicht zu erwarten. Nur unbegrenzte Lobhudelei für einen aufrechten Nationalisten, der für streng konservativ-nationalistische Wertes steht und alles dafür tut, die EU und andere Staaten zu destabilisieren.
Hat Moskau die Affäre Nawalny unterschätzt? Die Frage ist eigentlich irrelevant. Putin wird sich, wie andere Autokraten und Diktatoren anderswo, nicht von Kritik beirren lassen.
Die Opposition im eigenen Land lässt er sowieso niederknüppeln, steckt sie ins Gefängnis, lässt sie im Ausland ermorden oder verfrachtet sie nach Sibirien.
Was seine deutschen Fans aber nicht weiter stört.

Gerhard Schwedes | So., 6. Dezember 2020 - 21:05

Russland ist und bleibt ein europäischer Staat. Und als solcher muss man es anders betrachten als einen afrikanischen oder einen hinter dem x-ten Breiten- und Längengrad liegenden. Was sich Putin und sein Land alles in den Jahren seiner Regierung geleistet hat, das geht unter die europäische Gürtellinie, was nicht akzeptabel und nicht zu vergessen ist. Putin ist ein Nichtsnutz von einem Präsidenten. Ein Verbrechen reiht sich da an das andere. Er hat Blut an seinen Händen. Und dafür hat man zu zahlen. Vergessen und Putin drücken und herzen, wie es so mancher Politiker tut, der sich nicht genug damit tun kann, seinem eigenen Volk gegenüber moralgeschwängert daherzukommen? Da bin ich ausnahmsweise einmal bei den Grünen, obwohl sie verschrobene Migrations-, Europa-, Energiewendepolitiker und Sprachverhunzer sind. Sie zeigen gegenüber Russland wenigstens klare Kante. Da liegen sie ausnahmsweise einmal richtig. Noch einmal: Putin muss man fühlen lassen, was er alles verbroche hat.

Juliana Keppelen | Mo., 7. Dezember 2020 - 15:36

Antwort auf von Gerhard Schwedes

"Putin muss man fühlen lassen was er alles verbrochen hat".
Nur damit ich das nachvollziehen kann, bitte benennen sie die Verbrechen, wenn möglich chronologisch und vor allem die Verbrechen die andere Staaten zum Bspl. die Westlichen niemals getan haben noch tun werden, die so schrecklich sind, dass man das Russland unbedingt spüren lassen muss.