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Neuwahlen kämen für Benjamin Netanjahu zur Unzeit / dpa

Israels Parlament stimmt für Auflösung - Machtspiele mitten in der größten Krise seit Jahrzenten

Israels Parlament hat für die eigene Auflösung gestimmt. Das Zweckbündnis der Likud- und der Blau-Weißen-Partei, von Beginn an durch Misstrauen und Machtkämpfe geprägt, steht vor dem Ende. Ob es nun Neuwahlen gibt oder nicht: Verlierer ist die israelische Gesellschaft.

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Mareike Enghusen berichtet als freie Journalistin über Politik, Wirtschaft und Gesellschaft im Nahen Osten, vornehmlich aus Israel, Jordanien und den Palästinensergebieten. Sie hat Politik- und Nahostwissenschaften studiert und ihre journalistische Ausbildung an der Henri-Nannen-Schule absolviert.

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Drei Wahlen in einem Jahr und quälend lange Verhandlungen waren nötig, um Israel eine Regierung zu verschaffen – und nun steht die Koalition sieben Monate nach ihrer schweren Geburt schon wieder vor dem Aus. Während die Covid-19-Infektionszahlen erneut steigen, während die Wirtschaft am Boden liegt, während das Vertrauen der Bürger in ihre gewählten Vertreter schwindet, nimmt in Jerusalem ein neues Politdrama seinen Lauf. Aller Wahrscheinlichkeit nach wird es in Neuwahlen münden, den vierten in nur zwei Jahren.

Am vergangenen Mittwoch hatte die Knesset, Israels Parlament, für ihre eigene Auflösung gestimmt. Es waren Politiker der regierenden Koalition, die dem Antrag des Oppositionsführers Yair Lapid eine knappe Mehrheit verschafften: Sowohl die Abgeordneten der linken Arbeitspartei als auch jene des zentristischen Blau-Weiß-Bündnis, eine der Säulen der Koalition, votierten dafür. Damit ist die Auflösung der Knesset noch keine beschlossene Sache: Der Antrag muss nun in einem Ausschuss debattiert und anschließend in drei weiteren Abstimmungsrunden bestätigt werden. Doch dass diese Regierung noch zu retten ist, glaubt in Israel kaum jemand mehr. Führende Politiker der Koalition, formal noch Verbündete, sind bereits in den Wahlkampfmodus gewechselt und attackieren einander auf allen Kanälen.

Misstrauen und Machtkämpfe von Beginn an

Von Beginn an hatten Misstrauen und Machtkämpfe das Zweckbündnis zwischen dem rechten Likud des Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu und der Blau-Weiß-Partei des früheren Armeechefs Benny Gantz untergraben. Nur unter dem Eindruck der Pandemie, die rasches und entschlossenes Handeln erforderte, hatte sich der Politneuling Gantz überhaupt zur Zusammenarbeit mit Netanjahu bereiterklärt, den zu stürzen er zuvor zu seiner Mission erklärt hatte. Der Bruch seines wohl wichtigsten Wahlversprechens kostete Gantz nicht nur Glaubwürdigkeit, sondern auch Teile seiner eigenen Partei: Fast die Hälfte der Blau-Weiß-Abgeordneten zog sich aus Protest in die Opposition zurück.

Das Koalitionsabkommen sieht vor, dass Gantz nach anderthalb Jahren das Amt des Regierungschefs von Netanjahu übernimmt. Viele Israelis, allzu vertraut mit Netanjahus Talent zu politischen Ränkespielen, glaubten von Anfang an nicht daran. Nach einer ermüdenden Reihe von Konflikten, Intrigen und Machtspielen scheint nun auch Gantz den Glauben an eine fruchtbare Zusammenarbeit mit dem Lager des Premiers verloren zu haben. 

Neuwahlen sind wahrscheinlich

Der jüngste Streit zwischen den beiden dreht sich um den Staatshaushalt: Laut Koalitionsvereinbarung müsste die Regierung ein Zwei-Jahres-Budget für 2020 und 2021 verabschieden. Netanjahu jedoch will mit Verweis auf die außergewöhnliche Lage angesichts der Pandemie zwei separate Budgets beschließen, während Gantz auf der ursprünglichen Abmachung besteht. Gibt es keine Einigung bis zum 23. Dezember, kommt es automatisch zu Neuwahlen. 

Netanjahu drängt Gantz nun zum Kompromiss. Analysten gehen jedoch davon aus, dass er selbst Neuwahlen anstrebt, in der Hoffnung, anschließend eine Koalition aus rechten und religiösen Parteien bilden zu können. Eine solche Regierung könnte Netanjahu Immunität vor strafrechtlicher Verfolgung gewähren und ihn damit vor dem Gerichtsprozess bewahren, dem er sich wegen Verdacht auf Untreue, Betrug und Bestechlichkeit stellen muss. Laut aktuellen Umfragen käme eine rechts-religiöse Koalition schon heute auf eine Mehrheit.

Für Netanjahu kämen Neuwahlen zur Unzeit

Allerdings würde Netanjahus Likudpartei derzeit mehrere Mandate verlieren, während die rechte Yemina-Partei erheblich hinzugewinnen würde – und deren charismatischer Vorsitzender Naftali Bennett, von lokalen Medien schon als zukünftiger Premier gehandelt, könnte Netanjahu langfristig gefährlich werden. Deshalb, so vermuten viele, wolle Netanjahu die Wahl noch um einige Monate herauszögern, bis ein Impfstoff gegen Covid-19 die schlimmsten Auswüchse der Gesundheits- und Wirtschaftskrise lindern und ihm selbst damit bessere Aussichten verschaffen würde.

Ausgerechnet Gantz wiederum, der nun das Ende der Koalition einleiten will, hätte im Falle von Neuwahlen am meisten zu verlieren: Lediglich neun bis zwölf Mandate sagen die Umfragen seiner Partei voraus, ein tiefer Fall seit der letzten Wahl, die ihr 33 Sitze bescherte. Sein Votum für die Auflösung der Knesset scheint von verzweifeltem Pragmatismus getrieben zu sein: Wenn es ohnehin zu Neuwahlen kommen muss, so scheint sein Kalkül zu lauten, dann lieber so schnell wie möglich, bevor Blau-Weiß in den Umfragen noch tiefer rutscht. Dazu passt, dass die Partei kürzlich drei sozialliberale Gesetzesvorhaben angekündigt hat, die in Netanjahus Lager auf Widerstand stoßen dürften, darunter die Ausweitung der Rechte homosexueller Paare. Offenbar versucht Blau-Weiß, mit Blick auf baldige Wahlen ihr soziales Profil zu schärfen und zumindest ein paar frühere Anhänger zurückzulocken.

Noch könnten die regierenden Parteien eine Neuwahl abwenden. Am Sonntag soll Gantz sich mit Finanzminister Israel Katz von der Likudpartei treffen, um noch einmal über den Staatshaushalt zu sprechen. Doch selbst wenn die beiden Lager dieses Mal noch rechtzeitig einen Kompromiss finden, dürfte es sich dabei um kaum mehr handeln als eine lebensverlängernde Maßnahme für ein hoffnungslos dysfunktionales Politbündnis. Das neue Jahr, davon ist in Israel fast jeder überzeugt, bringt eine neue Wahl. Wer immer sie gewinnen wird, ein Verlierer steht bereits fest: die Gesellschaft und ihr Vertrauen in eine politische Klasse, die selbst inmitten der größten Krise seit Jahrzehnten vor allem mit sich selbst beschäftigt scheint.

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Ernst-Günther Konrad | Sa., 5. Dezember 2020 - 09:14

Regierungen kommen und Regierungen gehen. Mögen die Israelis entscheiden, wer für sie als Bürger den mehrheitlichen Volkswillen umsetzt. Ob es zu Neuwahlen kommt ziehen sie ja selbst in Zweifel. Egal, was da passiert, ein weiteres Land in denen die politischen Parteien total zerstritten nur auf persönliches Kalkül getrimmt sind und natürlich auch dort, Posten- und Machterhalt. Leider steht im Artikel nichts darüber, was die Bürger wollen und wie sie zu allem stehen. Die bekommen dort innenpolitisch nie Ruhe, so lange keine nachhaltig kompromissbereite Koalition entsteht. Und bei allem droht der Iran und die Hisbollah dem ganzen Volk dort. Ich habe den Eindruck, dass dort einige Hardliner - vor allem Netanjahu- permanent die diffuse politische Sitaution am Köcheln hält. Wir werden sehen.

Heidemarie Heim | Sa., 5. Dezember 2020 - 11:41

Toll! Und Danke liebe Frau Enghusen für Ihre guten Erklärungen bezüglich der schwierigen Sachlage! Da merkt man immer wie wenig man von anderen Ländern und Regierungen weiß bzw. wie beengt der eigene Horizont;) Dieses politische Elend wie ich es mittlerweile persönlich benenne droht uns in wenig mehr als einem Monat des Wahljahres 2021 trotz oder mit Corona und Krise auch. Eher verärgert als schadenfroh sehe ich hier wie dort meine Ansicht bestätigt, die ich ebenso bei uns häufig vertrat, was augenscheinlich inkompatible Koalitionspartner auf Teufel komm raus zum Zwecke eines Macht-Erhalts oder die Erlangung desselben betreffen. Erst bekämpft man sich bis aufs Blut und erzählt dem Wähler was vom eigenen Pferd;), um sich dann hinterher in vollendeter neu gebildeter Einheit und Harmonie dem verdutzten Bürger präsentierend, meist das genaue Gegenteil von dem zu machen, was man vorher vollmundig ankündigte. Ich glaube hier wie dort müssten die Wähler selbst ein Zeichen setzen! Shalom! LG