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Ankunft des russischen Raketenabwehrsystem S-400 in Ankara / dpa

Test mit russischem Raketenabwehrsystem - Die Türkei provoziert ihre Nato-Partner

Die Türkei hat das russische Raketenabwehrsystem S-400 getestet – die USA und Nato scheinen das einfach hinzunehmen. Damit bestärken sie den türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan in seiner konfrontativen Politik.

Autoreninfo

Günter Seufert ist freier Journalist, Soziologe und hat mehrere Bücher zur Türkei veröffentlicht. Außerdem ist er bei der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin tätig.

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Die Türkei hat laut Medienberichten erstmals das russische Raketenabwehrsystem S-400 getestet. Drei Abfangraketen des Systems hätten die vorhergesehenen Ziele erfolgreich getroffen. Das berichtete die russische Nachrichtenagentur TASS am 16. Oktober unter Berufung auf diplomatische Kreise. Dass dem so ist, daran haben drei in der Sache versierte Mitglieder des US-Senats keine Zweifel. Der republikanische Vorsitzende des Außenpolitischen Ausschusses, Jim Risch, und der Führer der demokratischen Senatoren des Gremiums, Bob Menendez, sind sich ebenso sicher wie der Vorsitzende des Verteidigungsausschusses, James Inhofe, dass die letzte Stufe der Aktivierung mit scharfer Munition erfolgt ist. 

Die Chronologie der Aufrüstung

Tatsächlich fügen sich die einzelnen Steine des Puzzles zu diesem Bild zusammen. Mitte Juli 2019 trafen die ersten Komponenten des russischen Boden-Luft-Raketen (SAM)-Systems in Anatolien ein. Anfang September desselben Jahres sandte Ankara die für Betrieb und Unterhaltung der neuen Waffe vorgesehenen Mannschaften zur Ausbildung nach Russland. Ende November 2019 aktivierte das türkische Militär das Radargerät des Systems und verfolgte damit eigene Jets der Reihen F-4 und F-16. So vergewisserte sich Ankara, dass die russischen S-400 die Flieger amerikanischer Bauart tatsächlich aufspüren können. Im Januar 2020 trafen schließlich auch die Abfangraketen ein, sodass seit diesem Zeitpunkt – rein technisch – das System scharf gestellt werden konnte. Am 2. Oktober 2020 erschien ein detaillierter Bericht, der unter Verweis auf angeblich offizielle Dokumente des türkischen Präsidialamts und des Generalstabs den scharfen Test der S-400 Flugabwehrbatterien für die beiden Wochen zwischen dem 5. und 16. Oktober ankündigte. 

Die Sorge der US-Amerikaner

Am 7. Oktober richteten die beiden US-Senatoren Chris van Hollen von den Demokraten und der Republikaner James Lankford einen Brief an ihren Außenminister Mike Pompeo. Ihnen lägen äußerst glaubwürdige Berichte darüber vor, dass die Türkei das Radargerät der S-400 dazu genutzt habe, die Flugbewegungen griechischer F-16-Jets zu verfolgen. Die Jets hatten im östlichen Mittelmeer mit Frankreich und Italien sowie mit der Republik Zypern ein Manöver durchgeführt. Damit habe die Türkei das System gegen Flugzeuge von Mitgliedern der Nato genutzt. Die Aktivierung des russischen Radars auf US-amerikanische F-16, heißt es in dem Brief, verstärke die Sorge, dass Russland an sensible Daten amerikanischen Fluggeräts gelangen könnte. 

Nur fünf Tage später, am 12. Oktober, sperrte Ankara offiziell den Luftraum über der türkischen Provinz Sinop am Schwarzen Meer, wo nach dem genannten Bericht vom 2. Oktober die Aktivierung des S-400 mit scharfer Munition erfolgen sollte. Nach dem Test wurde in den sozialen Medien der Türkei die erfolgreiche Aktivierung begrüßt. Reuters zitierte einen türkischen Analysten, der die Flugbahn der Geschosse und die Rauchentwicklung als mit S-400 Abschüssen übereinstimmend erklärte. Das türkische Verteidigungsministerium verweigerte eine Stellungnahme. Doch der Chef des Präsidiums für die Verteidigungsindustrie (SSB) im türkischen Präsidialamt, Ismail Demir, hatte nur zehn Tage vor dem Test eingeräumt, dass Meldungen, wonach die Türkei die Aktivierung des System verschoben habe, nicht den Tatsachen entsprächen.

Nato und USA bleiben still

Angesichts dieses eindeutigen Bildes verwundert es, dass sich die Nato und die USA bisher zurückhalten. Die Nato vermeidet es, in ihrer Email-Botschaft zur Sache preiszugeben, ob ihres Wissen der Test nun stattgefunden hat oder nicht. Sie sagt nur: „Jeglicher Test des Luftverteidigungssystems, so er bestätigt ist, wäre bedauerlich.“ Besonders verwirrend ist die Bemerkung, die Türkei sollte bedenken, dass das System ein Risiko für Flugzeuge der Allianz darstellen kann. Denn für die staatliche türkische Nachrichtenagentur Anadolu sind die S-400 darauf ausgelegt, primär westliches Fluggerät zu jagen. Das Weiße Haus schweigt bislang zu dem Vorfall. Der Sprecher des Pentagon, Jonathan Hoffman und die Sprecherin des US Außenministeriums Morgan Ortagus zogen sich auf die Position zurück, der Test sei bislang nicht bestätigt worden. Doch sollte er stattgefunden haben, dann würde das mit Sorge betrachtet und verurteilt. 

Sanktionen bisher leere Drohung

Es scheint ganz so, als würden USA und Nato auch nach erfolgreicher Aktivierung des Systems an ihrer Beschwichtigungspolitik Ankara gegenüber festhalten. Seit dem Kauf der S-400 Ende 2017 droht Washington Ankara mit Sanktionen im Rahmen des „Countering America's Adversaries through Sanctions Act“. Doch US-Präsident Donald Trump hat sich bisher geweigert, das Gesetz, das „signifikante Transaktionen“ mit der russischen Rüstungsindustrie sanktionieren soll, gegen die Türkei anzuwenden. Als im Juli 2019 Russland der Türkei die ersten Komponenten lieferte, verrückte Mike Pompeo das Kriterium für die Anwendung des Gesetzes, das sich bereits vorher vom „Erwerb“ des S-400 in Richtung „Lieferung“ verschoben hatte, auf die „Aktivierung“ des Systems. Zwar schloss der US-Präsident als Reaktion auf die Lieferung der ersten Komponenten die Türkei aus dem Programm für das Tarnkappenflugzeug F-35 aus. Doch vorläufig führte das nur zum Abbruch der Ausbildung türkischer Piloten für dieses Flugzeug, von dem die Türkei 100 Stück erwerben wollte. Der gleichzeitig angeordnete Ausschluss türkischer Firmen aus der Produktion des Fliegers ist noch nicht umgesetzt. Türkische Firmen seien, so wie am Anfang vorgesehen und ohne Abstriche, noch immer im Programm, sagt Ismail Demir vom Präsidium der türkischen Rüstungsindustrie. Und die Senatoren van Hollen und Lankford werfen in ihrem Brief Pompeo vor, das Pentagon habe sich viel zu viel Zeit gelassen, Ersatz für türkische Firmen zu finden. Das habe die Türkei ermuntert, das System zu testen.

Perfektes Timing 

Diesem Urteil muss man sich anschließen. Erneut gelingt es der Türkei, die Schwächen der USA auszunutzen und von der Angst der Nato zu profitieren, Ankara könne sich Moskau noch mehr annähern. Der Zeitpunkt des Tests ist gut gewählt: Die USA stehen kurz vor der Präsidentenwahl und haben wenig Zeit und Energie, sich mit der Türkei zu beschäftigen. Auf sie glaubt Ankara keine Rücksicht nehmen zu müssen. Der Test ist ein Signal in Richtung Moskau, demonstriert er doch, dass die Türkei der Zusammenarbeit mit Russland strategische Bedeutung beimisst und Russland deshalb auf die Aktionen der Türkei in Aserbaidschan nicht überreagieren sollte.
 

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Romuald Veselic | Do., 22. Oktober 2020 - 17:07

Auf dem Gebiet diesen geographischen Erdteils, liegt Türkei (Erbe des Osmanischen Reiches [Kalifats]), das durch ihre erbarmungslosen Eroberungszüge, für Jahrhunderte, Osteuropa mit Kriegen und Schrecken überzogen hatte. Und sich dafür bis heute nicht entschuldigte. Den Völkermord will ich hiermit nicht weiter kommentieren.
Die Türkei gehört nicht zu Nato, EU, etc... Nicht unter dem aktuellen Präsidenten, der es auf Kriege ankommen ließ. Nicht Donald T., sondern Erdogan ist "Trump".

Andre Möller | Do., 22. Oktober 2020 - 19:21

Das Fla-Raketensystem S-400 ist ein strategisches Lufterteidigungssystem. Kein Angriffsmittel. Griechenland hat das S-300 und nutzt es ohne das jemand Angst davor hätte, wie viele andere russische Waffen und militärisches Gerät der NVA. Der Punkt ist, dass das S-400 System das modernste und effektivste Luftverteidigungssystem ist, das es gibt und eingebettet in eine ausgebaute Terretorialverteidigung jeden Luftangriff abwehren kann. Das Griechen und Nato jetzt Schwierigkeiten damit haben verwundert, Radarsysteme verfolgen auch so jede Flugbewegung. Das griechische S-300-Radar tut nichts anderes mit türkischen Flugzeugen. Aber Erdogan ist wohl doch nicht der große Idiot, für den er hier immer hingestellt wird. Zusammen mit der Erdgaserkundung und den Expeditionen in Libyen und Azerbaidshan ist das natürlich ein hartes Kräftemessen mit der Nato. Er könnte am Ende erfolgreich sein. Die Türkei hat halt eigene Interessen, die sie zielstrebig verfolgt, so what?

Clara Schwarze | Do., 22. Oktober 2020 - 23:05

Erdogan ist eben wohl doch ein deutlich besserer Außenpolitiker, als immer dargestellt. Das hier ist schon ziemlich geschickt eingefädelt und vielleicht erinnert sich auch daran, dass diese Spaltung zwischen West- und Ostchristen immer eine Machtbasis der Osmanen war. Und man fragt sich v.a. auch, wo diese Entwicklung hinführt.
Sie ist für Deutschland vermutlich ziemlich besorgniserregend - gerade weil unsere Politik betont nicht hinsieht und nichts im Kopf hat als den Osten zu bekämpfen.

Gerhard Lenz | Fr., 23. Oktober 2020 - 13:12

Antwort auf von Clara Schwarze

die Spaltung zwischen Katholiken, Protestanten und Orthodoxen, spielt höchstens bei eingefleischten Kirchgängern noch eine Rolle.
Ob Autokraten wie ein Erdogan davon profitieren, wage ich zu bezweifeln. Im Übrigen sind Kreuzzüge zumindest bei demokratisch gesinnten Zeitgenossen etwas außer Mode geraten.

Erdogan ist so ein skrupelloser Außenpolitiker - das Wort Brillanz würde ich hier nicht gebrauchen - weil er ohne jegliche Rücksichtnahme vorgeht; die Europäer interessieren ihn nicht mehr, des Rückhalts der US-Amerikaner kann er sich aus strategischen Gründen sicher sein, und ein Putin, der ihn beispielsweise in Armenien oder Syrien die Stirn bieten könnte, ist viel zu viel mit seinen eigenen Machtspielchen beschäftigt.

Es ist niemand da, der den Despoten stoppen könnte. Dass sich das türkische Volk von ihm abwendet, ist zweifelhaft.

Nationaler Glanz, den Erdogan wie andere Autokraten gerne vorspiegelt, verbunden mir religiösem Eifer, sind zusammen ein wunderbares Narkotikum.

Ernst-Günther Konrad | Fr., 23. Oktober 2020 - 07:48

Die zahnlose Nato ist genauso unentschlossen und unfähig eine klare Position zur Türkei zu beziehen, wie die EU auch. Also auch da nur Bestätigung dessen, was alle sehen, hören und denken können. Die USA ist nicht die Nato. Sie wäre im Gefahrenfall erstmal weit weg und nicht von Kriegshandlungen vor der eigenen Haustür betroffen. Wenn die Türken die Systeme der USA nicht mehr bekommen oder nicht mehr wollen, man hat sich alternativ versorgt. Die Ausbildung läuft also weiter? Naja, dann ist ja alles gut. Jetzt ein bisschen Aufregung, Verärgerung, etwas diplomatisches Erzürnen und weiter gehts im Text. Erdogan ist ein Despot, ein übler Islamist und Menschenverächter, aber er ist nicht dumm. Er kennt die Schwächen der anderen alle und aus seiner Sicht ist es nur folgerichtig, wenn er genau diese Schwächen ausnutzt. Solange die NATO sich nicht selbst verteidigen kann, bleibt sie ein ausgestopfter Tiger. Wenn das Füllmaterial alle und unbrauchbar ist, dann eben noch ein Bettvorleger.

Es könnte auch einen Deal zwischen der Türkei und der USA geben wonach die USA sich das System genau ansehen darf. Wenn man bedenkt, dass die Russen das System in Syrien scharf gestellt haben und damit Israel bei Flügen über Syrien einschränken, fallen einem schon mögliche Interessenten für dieses Wissen ein. Und was ist mit China? Nutzen die auch das russische System?