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Wird nach pflanzlichen Fleischersatzprodukten Laborfleisch der neue Renner? / dpa

Auf zu neuen Buletten? - Die neue Hackordnung

Fleischersatz-Burger aus pflanzlichen Zutaten bekommt man heute in jedem Supermarkt. Kommende Woche stimmt das EU-Parlament ab, ob falsches Fleisch überhaupt so genannt werden darf. Tatsächlich könnte schon bald auch echtes, kultiviertes Fleisch aus dem Labor die alte Fleischindustrie stürzen.

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Ferdinand Dyck schreibt über Essen und Trinken, zuhause braut er eigenes Bier

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Die ersten Berichte vom Ausbruch jener Revolution, die das globale Lebensmittelsystem auf den Kopf stellen soll, liegen erst wenige Jahre zurück. In einem Londoner Fernsehstudio setzt die Ernährungsforscherin Hanni Rützler am 6. August 2013 ihr Messer an eine braun gebrannte Scheibe, die ausschaut wie eine handelsübliche Rindfleischfrikadelle. Höchstens ein wenig feiner gewolft wirkt das Fleisch in der Internetübertragung, womöglich auch eine Spur magerer. Doch es ist Fleisch, da gibt es – optisch zumindest – kein Vertun.

Aber die Sache steht komplizierter: Die Muskelzellen in der Frikadelle stammen zwar von einem Rind. Nur geschlachtet wurde es nicht. Dem Tier wurde per Biopsie ein Stück Muskelgewebe aus der Schulter geschnitten. Aus daraus gewonnenen Stammzellen wuchsen in einem Bioreaktor in einer Nährflüssigkeit neue Muskelfasern. Diese wurden in mühevoller Handarbeit zu einem Stück Fleisch modelliert, durch den Wolf gedreht, zur Scheibe geformt und gebraten. Auch wenn man sogenanntes „kultiviertes Fleisch“ oder „In-Vitro-Fleisch“ – auch „Laborfleisch“ genannt – selbst sieben Jahre später noch nirgends kaufen kann und es bislang wohl erst ein paar Dutzend Menschen weltweit gekostet haben: Schon bald könnte es schwer werden, dem Thema noch zu entkommen.

In den nächsten zwei bis vier Jahren, so bestätigen mehrere Hersteller, sollen die ersten Produkte für Konsumenten erhältlich sein, auch in Europa. Der Plan: Kultiviertes Fleisch soll so günstig werden, dass es mit jenem von der Weide und aus den Mastställen konkurrieren kann. Neben dem Versprechen einer deutlich besseren Umweltbilanz und ethischer Unbedenklichkeit – wo kein Tier, so die Logik, da keine Probleme mit dem Tierwohl – soll dieser Preis die Verbraucher überzeugen, irgendwann hauptsächlich Fleisch aus dem Bioreaktor zu essen. 

Sturz der alten Fleisch-Ordnung?

Das mag arg ambitioniert klingen. Doch die Lebensmittelbranche nimmt die Sache ernst. Sie hat gerade erst erlebt, wie sehr sich viele Leute nach Alternativen zum konventionellen Massenfleisch zu sehnen scheinen. Nicht ohne Grund gibt es heute in fast jedem Supermarkt Burger und Würste aus pflanzlichem Fleischersatz. Dabei hatte von denen vor acht Jahren auch noch keiner gehört. Anderthalb Jahre vor der Verkostung des In-Vitro-Burgers in London, im März 2012, erscheint ein Artikel in der New York Times. „Ein Hühnchen ohne Gewissensbisse“, lautet die Überschrift. Im Text darunter schwärmt Mark Bittman, einer der einflussreichsten Food-Journalisten der USA, von einer Hühnerbrust, die keine ist. Als einer der ersten Menschen durfte Bittman damals ein Produkt verkosten, für das ein Pulver aus pflanzlichen Zutaten – unter anderem Soja, Erbsenproteinen und Karottenfasern – mit Wasser verrührt und unter Druck in einer Maschine in Form gebracht wurde. 

Diese „chicken-free strips“, die „hühnchenfreien Streifen“ von damals stammten von einer Firma namens Beyond Meat. Deren Produkte findet man nach Angaben des Unternehmens mittlerweile in knapp 60 000 Läden, Restaurants und Kantinen weltweit. Auch Dutzende weitere Hersteller bieten heute „plant based meat“ an, wie sie es nennen. Das hat nicht mehr viel zu tun mit den grauen Seitanstreifen und trockenen Grünkernfrikadellen, wie es sie schon lange im Reformhaus gibt. Die technologisch komplexen, hochverarbeiteten Konstrukte aus pflanzlichem Eiweiß, Fett und Nährstoffen kommen dem sensorischen Erlebnis, Fleisch zu essen, tatsächlich immer näher. Dem Verbraucher scheint es zu schmecken. Seit etwa zwei Jahren legen die Hersteller schwindelerregende Wachstumszahlen vor. Um 30 Prozent stieg der Absatz 2019 in den USA, in der Anfangsphase der Covid-19-Pandemie zogen die Verkäufe noch einmal drastisch an: um gut 260 Prozent zwischen März und Mai, schätzt das Marktforschungsunternehmen Nielsen. Im asiatisch-pazifischen Raum dürfte der Absatz im gesamten Jahr 2020 um 11 bis 17 Milliarden Dollar zulegen und sich damit ungefähr verdoppeln, so das Marktforschungsunternehmen Euromonitor International.

Es ist nicht übertrieben zu sagen, dass beides – der Siegeszug der Fleischersatzprodukte und der nahende Markteintritt des kultivierten Fleisches – den Managern großer Fleischkonzerne gerade Sorgenfalten ins Gesicht treibt. Sie bangen um ihr Billionengeschäft. Denn die Macher hinter dem neuen Fleisch haben nicht weniger als einen Sturz der alten Ordnung im Sinn. Sie wollen nicht mehr bloß die Öko- und Veganernische bedienen. Sie drängen mit ihren Produkten in die Fleischtheken der Supermärkte. Sie planen, das tote Tier als Ursprung von Steak, Schnitzel und Bratwurst abzuschaffen.

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Bernd Muhlack | So., 18. Oktober 2020 - 18:10

"Gerne. Natur oder Petrischale?"

Nun ja, ein langer Artikel, man kann ihn sicherlich reduzieren, "in-vitro-fertilisieren".

Die Discounter, Supermärkte müllen die potentiellen Konsumenten wöchentlich zuverlässig mit ihren Katalogen zu - auch als APP.

Ne halbe Sau für schlappe 9,99 €; argentinisches Rindersteak 300 gr. für 2,49 € usw. usf.
Natürlich auch "NEW FOOD"
"Das isst die Zukunft!"

Wenn ich mir die Kunden beim Kaufland-Parkplatz betrachte, liege ich zu 80 % richtig bei der Einschätzung ihres Einkaufs.
Von den adipösen Jogginghosenträgern bis zur asketischen ewig jungen Falterina ist alles im Angebot.

Es trifft sicherlich zu, dass eine explodierende Weltbevölkerung (Afrika) nicht wie bisher zu ernähren ist. Aber warum und vor allen Dingen wo "explodiert" denn dieses Wachstum?

Fleisch, also totes Tier, ist kein Zwang.
Autos, also Klimakiller, sind kein Zwang.
Fliegen ist sowieso krass ungut.

Es lebe die totale Kontrolle, das Bestimmen, Regeln der Guten für den "Untertan."

Hannes Seiwert | So., 18. Oktober 2020 - 23:40

Sie schreiben: "Soja, das auch deutsche Schweine fressen, wird dort angebaut, wo in Brasilien und Indonesien einst Regenwald wuchs."

Der Zusammenhang zwischen Schweinemast in DE und Sojaanbau sowie Regenwaldrodung in Indonesien scheint mir frei erfunden. Denn
1) Weniger als 1 % der weltweiten Sojaproduktion findet in Indonesien statt.
2) Indonesien verbraucht deutlich mehr Soja als es selbst anbaut, dieser wird größtenteils aus den USA importiert.
3) Der Sojaanbau in Indonesien hat in den letzten Jahren weiter abgenommen.
(siehe z.B. https://ussoy.org/indonesia-attache-office-sees-larger-soy-imports-feed…)

Yvonne Stange | Mo., 19. Oktober 2020 - 10:55

.... ist auf jeden Fall positiv zu bewerten. Wir sind seit vielen Jahren Vegetarier und seit einigen Jahren Veganer - nicht aus gesundheitlichen, sondern aus ethischen Gründen. Solange der Mensch seine fühlenden Mitgeschöpfe quält, schlachtet und ißt, solange wird er auch keine Hemmungen haben, sich gegenseitig zu killen. Aber die Masse denkt leider nicht darüber nach. Ich werte die Entwicklung sehr positiv! Endlich.

Was damals für uns Menschen als utopisch aufgenommenen wurde, ist heutzutage schon längst Realität geworden.
Aber gehen wir wirklich den Weg zu etwas Höheren & Besseren?
Ich habe meine Zweifel. Und ich glaube auch nicht, dass Gottes Spiel & Inhaltes es ist, wie bei unseren menschlichen PC-Strategiespielen als Ziel zu haben, so viele Menschen wie möglich auf der Erde zu generieren bzw. anzusiedeln.
Und hätte Gott gewollt, dass wir Menschen Wiederkäuer werden, hätte er vom Gebiss bis zum Magen alles so erschaffen.
Aber wir Menschen sollten wieder mehr Respekt & Demuth bekommen. Wir sind nicht annähernd Gott. Auch nicht in der "Größe", außer in unseren Anmaßungen, welches das marxistische Gedankengut kalaschnikowartig verbreitet.
Und diese Gier nach/von Größe (egal wie man sie nennt) wird uns Menschen auf die Füße fallen.