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Louise Glück / dpa

Literaturnobelpreis an Louise Glück - Das Versmaß von Flora und Fauna

Der Literaturnobelpreis 2019 an Peter Handke war für viele ein Skandal. Nun hat das Komitee endlich wieder eine Wahl getroffen, die vor allem ästhetisch und weniger politisch motiviert ist. Der Literaturnobelpreis 2020 geht an Louise Glück.

Autoreninfo

Björn Hayer ist habilitierter Germanist und arbeitet neben seiner Tätigkeit als Privatdozent für Literaturwissenschaft als Kritiker, Essayist und Autor.

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Diesmal keine Skandale, nicht einmal ein Politikum. Denn der diesjährige Nobelpreis geht nicht vorrangig an eine Autorin, die sich in gesellschaftliche Grabenkämpfe einmischt, sondern an eine Stilistin: Louise Glück. Geboren 1943 in New York, hat sich die Schriftstellerin insbesondere als Lyrikerin einen Namen gemacht. Allein das muss man schon als die Überraschung des Tages ansehen: Nach Peter Handke, der durch die Prämierung zuletzt mehr Anfeindungen als Ruhm erhielt, nach Olga Tokarczuk, die die Auszeichnung mitunter wohl auch für ihre Position als osteuropäische Autorin erhielt, hat sich das Komitee nun für eine Poetin entschieden.

Bekenntnis zur Poesie

Dieses Bekenntnis bedeutet daher vor allem eines: Ein Lobpreis für das Ästhetische, die textliche Qualität als Selbstzweck. Unterstrichen wird dieser Eindruck überdies dadurch, dass der Nobelpreis auch nicht an die eigentliche Favoritin in dieser Gattung ging, nämlich die Dichterin Ann Carson. Also eine Wahl der Außenseiterin?

Auf den ersten Blick ja. Dagegen spricht allerdings der Fokus der Arbeiten Glücks. Denn schon bevor die Gesellschaft vom Sturm der „Fridays for Future“-Bewegung erfasst worden ist, setzte sich die Schriftstellerin mit dem Einfluss des Menschen auf die Natur auseinander. Immer wieder behandeln ihre Miniaturen die wilden, ungebändigten Kräfte der Flora und Fauna. Statt Pflanzen und Tiere dabei als passive Opfer humaner Interventionen zu begreifen, leiht sie ihnen ihre Stimme, verhilft dem grünen Leben zur Selbstermächtigung. Kurzum: die Natur offenbart sich als Akteur.

Aufwertung einer vergessenen Gattung

In einer Epoche der Klimakrise stellt diese Aufwertung der Ökosphäre eine mehr als zeitgemäße Konzeption dar. Zum einen fängt Glück die Beklemmung im Angesicht einer zu lange verdrängten, bevorstehenden Katastrophe ein, indem sie konstatiert: „Zeit verging, verwandelte alles in Eis. / Unter dem Eis regte sich die Zukunft.“ Zum anderen weiß sie die Natur zu retten, indem sie deren Schönheit in elegante Versen bannt: „Die Wolken schienen / zu verharren, wo sie waren, / wie ein Gemälde des Meers, stiller als wirklich.“

Geht man also von den Themen unserer Tage aus, erweist sich die Wahl der Stockholmer Jury als treffend und präzise. Doch was bedeutet der Preis für Glück insgesamt? Erfreulich ist natürlich Aufwertung der von der Öffentlichkeit sicherlich am sträflichsten missachteten Gattung Lyrik, wie sie vor einigen Jahren bereits mit der Vergabe an den damals international ebenso nicht allzu bekannten Poeten Tomas Tranströmer eingeleitet wurde.

Wo bleibt der Süden?

Was jedoch bei jeder Prämierung ebenfalls Beachtung finden muss, sind all jene, die wiedereinmal leer ausgegangen sind. Seit Jahren stehen Namen wie die Kanadierin Margaret Atwood oder Thomas Pynchon auf der Favoritenliste. Dass nun eine US-amerikanische Autorin honoriert wurde, vergrößert nicht die unbedingt Chancen dieser beiden amerikanischen Dauerkandidaten, in den kommenden Jahren mit der höchsten Auszeichnung, die die literarische Welt zu vergeben hat, bedacht zu werden. Hinzu kommt, dass der Preis erneut im Norden bleibt. Sowohl Asien mit dem Bestsellerautor Haruki Murakami wie auch Afrika mit Ngũgĩ wa Thiong’o gehen leer aus - wiedereinmal.

Autoren aus dem Süden den Preis zuzusprechen, wäre indes ein nicht zu vernachlässigendes, mithin auch politisch wichtiges Signal gewesen. Aber es gibt eben schlichtweg kein Nobelpreis-Jahr ohne Mäkelei. Sie gehört gewissermaßen zur DNA des Preises. In diesem Jahr dürften die kritischen Kommentare aber weniger und leiser werden. Denn 2020 ist er endlich mal wieder zu einem Gütesiegel für die Literatur geworden. Zum Glück!

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Holger Jürges | Do., 8. Oktober 2020 - 16:35

und die Aufwertung einer vergessenen Gattung: Diesen aus meiner Sicht erfreulichen Anlass möchte ich nutzen, um den Lesern zwei Naturgedichte von mir zu präsentieren:

Frühester Morgen

Noch schläft der Wald so leise -
einsam träumet alle Welt.
Stille lauscht auf eine Weise,
als ginge Gott durch Weg und Feld.

Weit fort des Tages Trubel,
weit fort ist aller Kummer
du spürst, ein milder Jubel
entspringt des Herzens Schlummer.

Wundersam entsteigt dem Feld
Nebel, hin zum Sonnensaum;
die Erde in den Lüften hält,
ihren schweigend lieben Traum.

Nachtspaziergang

Hinüber über Baches Steg
schreite ich in kühler Nacht;
es schimmert hell ein Streif am Weg,
der hin zum Wanderer lacht.

Die Ruhe in den hohen Zweigen
streift ganz leis ein schläfriger Wind;
es ist, als wollte in diesem Reigen
Mondschein liebkosen das Erdenkind.

Hinter den Erlen schläft ein See,
dessen Glanz mir alle Sehnsucht stillt,
und am Ufer beugt sich ein Reh,
als küsste es sein Spiegelbild.

Ein Dankeschön Herr Jürges an Sie für die beiden Gedichte und die schöne Stimmung die sie hervorrufen.

Ich bin eigentlich kein Lyrik-Fan, also ein absoluter Laie. Dies vorausgeschickt, komme ich nicht umhin, zu sagen: Sie haben wirklich schöne Gedichte geschrieben, die die Stimmung am Morgen und am Abend wunderbar wiedergeben. Danke!

Änderungen vorschlagen.
Das ist nicht despektierlich gemeint.
Ein bisschen klingt es wie aus einer längst versunkenen Zeit, aber warum sollte die nicht noch durch Sie zu uns sprechen.
Nur eine Sache, Sie belassen Worte zu sehr grammatikalisch richtig, aber von der Melodie/Dynamik des Gedichtes her "falsch".
Vielleicht müßte ich Sie lesen hören, um zu spüren, wohin Sie sprachlich wollen.
Für mich wäre "schläfriger" zu sperrig, schläf´ger besser, statt "liebkosen" nur kosen.
Ich habe früher Worte nicht belassen und fand sie danach stimmiger.
Die Stimmung Ihrer Gedichte ist wunderschön.
Zugegeben lebe ich in Tages- und Jahreszeiten mindestens so sehr wie im Kirchenkalender...
Dass es auch turbulenter zugehen kann, lese ich in den "Hamish Macbeth" Krimis der Autorin M.C. Beaton, bei denen der Slang der Dorfbewohner Teil des Großen und Ganzen ist.
Sollten Poeten herrschen?
In gewisser Weise schon, denn dann gäbe es keine Herrschaft?

...für die schönen Kommentare geht an Alle.

Liebe Frau Seehrt-Irrek, auch (oder gerade deshalb) wenn wir beide wohl trefflich über Politik streiten könnten, freuen mich Ihre Worte sehr. - Wissen Sie, ich achte (nicht immer aber doch eher häufig) auf´s Reimschema - sprich auf die Metrik; deshalb mögen manche Worte nicht in den Ohren Aller huntertprozentig das Optimum treffe; Sie haben aber sehr recht damit, dass beim Vorlesen einiges relativiert wird. - In den vielen Lesungen die ich abgehalten habe, war es stets mein Wunsch, das jeweilige Gedicht in einer Weise zu vollbringen, dass ein harmonisches Ganzes daraus wird. - Haben Sie noch einen recht schönen Tag...

M.C. Beaton habe ich selbstverständlich im Original gelesen wie früher auch Agatha Christie, wie es sich bei Jane Austen empfiehlt und wahrscheinlich auch den vielen Nominierten, die jetzt noch keine Beachtung fanden.
Gemälde sind verständlicher?
Vielleicht auch nur dann, wenn man weiss, wovon sie sprechen und von wo aus.
Danke für den Artikel.
Ich habe sicherheitshalber auch mal selbst herumgeschaut.