
- Schluss mit Druschba*
Berlin beendet die Ära vertrauensvoller, langjähriger freundschaftlicher Beziehungen zu Moskau, die Gorbatschow eröffnet hat. Auch Moskau blättert die historische Seite um. Damit wird die Situation einfacher, aber gleichzeitig auch risikoreicher.
*Druschba, deutsch transkribiert, heißt auf Russisch Freundschaft
Der Fall der Vergiftung von Alexej Nawalny ist ein Wendepunkt in den deutsch-russischen Beziehungen. Die Einzelheiten des Falles, die noch weitgehend unklar sind, sind nicht mehr wichtig. Im September 2020 traf Berlin eine grundlegende Entscheidung der deutschen Außenpolitik: Deutschland wird gegenüber Russland keine Sonderpolitik mehr betreiben. Es wird nicht mehr versucht, die Motive der anderen Seite zu verstehen, gegenseitiges Verständnis und zumindest minimale Zusammenarbeit anzustreben. Weder wird Berlin als Dolmetscher aus dem Russischen in westliche politische Sprachen fungieren, noch wird es als Verantwortlicher für die Beziehungen zu Russland in Moskau die Positionen seiner Verbündeten erläutern.
Diese besondere Rolle, die die Bundesrepublik und ihre Kanzlerin in den letzten Jahren gespielt haben, gehört der Vergangenheit an. Jetzt steht Deutschland in derselben Beziehung zu Russland wie jeder andere in Westeuropa auch. Auf der Ebene der Rhetorik bedeutet dies eine grundsätzliche Ablehnung der Außen- und Innenpolitik des Kremls, harsche Kritik an konkreten Schritten Moskaus und große Solidarität mit den osteuropäischen Nachbarländern. Auf wirtschaftlicher Ebene erwarten viele, dass die Nord-Stream-2-Pipeline aufgegeben wird. Auf jeden Fall scheint die Ära der großen russisch-europäischen Energieprojekte vorbei zu sein. Auf diplomatischer Ebene wird es wahrscheinlich zu einer erheblichen Einschränkung der offiziellen Kontakte und möglicherweise zu einer Aussetzung des Dialogs auf höchster Ebene kommen.
Putin wird sich erinnern
Es ist unwahrscheinlich, dass der russische Präsident Wladimir Putin in dem Moment, als er die Notfallevakuierung Nawalnys von Omsk nach Berlin genehmigte, eine solche Wendung der Ereignisse vorausgesehen hat. Eher ist vom Gegenteil auszugehen: Er setzte auf das Zusammenspiel mit Angela Merkel, auf einen gemeinsamen Ausweg – mit Hilfe Deutschlands – aus einem unangenehmen Zwischenfall ohne neue Verluste für Russlands Ansehen.
Man kann versuchen, sich vorzustellen, wie Putin auf Merkels Aussage über die Vergiftung Nawalnys mit Nowitschok reagiert hat. Ein Schlag in den Rücken ist das Sanfteste, was einem in den Sinn kommt. Persönliche Beziehungen zu ausländischen Führern sind für Putins außenpolitischen Kurs von entscheidender Bedeutung. Auf der anderen Seite ist für einen rational denkenden russischen Präsidenten auch ein negatives Ergebnis eine Folge. Und er wird sich an dieses Ergebnis erinnern.
Freundschaft ist Vergangenheit
Damit beendet nicht nur Berlin eine Ära vertrauensvoller, langjähriger freundschaftlicher Beziehungen zu Moskau, die Gorbatschow eröffnet hat. Auch in Moskau wird diese Seite umgeblättert. Was vor 30 Jahren, zum Zeitpunkt der Wiedervereinigung Deutschlands, nicht nur als historische Versöhnung, sondern auch als Garant für künftige freundschaftliche Beziehungen und eine enge Zusammenarbeit zwischen beiden Völkern und Staaten gesehen wurde, gehört heute der Vergangenheit an.
Die Gegenwart nun erinnert an das, was lange vergessen schien. Auf dem Gebiet der Rhetorik, wo die russische Seite ihre Empörung nicht verbirgt, werden die deutschen Anklagen gegen Russland mit der Brandstiftung des Reichstags durch die Nazis verglichen: Damals gab Berlin die Schuld dafür der Komintern und Moskau. Im politischen Bereich wird der Kreml wahrscheinlich keine unmittelbaren drastischen Schritte unternehmen, aber von nun an wird er Deutschland als einen nicht eigenständigen, von den USA kontrollierten Staat betrachten. Wie die amerikanischen Partner werden von nun an auch die deutschen Partner nur noch „sogenannte Partner“ genannt.
Hybrider Nullsummenkrieg mit den USA
Diese Entwicklung wird Konsequenzen für die Situation im Donbass sowie für den Konflikt in Belarus haben, der in eine langwierige Phase eingetreten ist. Der Wert der Zusammenarbeit mit Berlin und Paris in diesen Fragen – im Normandie – wie im bilateralen Format – nimmt ab, während der Dialog mit Washington über die Ukraine und Weißrussland längst auf dem Niveau gegenseitiger scharfer Warnungen und harter Repliken angekommen ist.
Damit wird die Situation einfacher und gleichzeitig risikoreicher: Russland erwartet nichts mehr von Europa, und deshalb ist es nicht nötig, auf Europas Meinung oder Interessen zu achten. Mit den Amerikanern wird seit langem ein hybrider Nullsummenkrieg geführt. Und es gibt immer weniger hemmende Faktoren in diesem Kampf.
Endgültiges Urteil für Nord Stream 2
Der Zusammenbruch der russisch-deutschen Sonderbeziehungen ist der letzte und mächtigste in einer Reihe von Rückschlägen für Russlands Positionen in Europa. In den letzten Jahren kam es in einer Reihe von Ländern zu aufsehenerrgenden Korruptionsskandalen, die führende Politiker, die zur Zusammenarbeit mit Moskau neigten, aus dem Sattel hoben. In Frankreich waren es die Präsidentschaftskandidaten Dominique Strauss-Kahn und Francois Fillon, in Italien Vizepremier Matteo Salvini, in Österreich – Vizekanzler Heinz-Christian Strache.
In anderen Ländern – Spanien, Griechenland, Bulgarien, Montenegro, Tschechien, der Slowakei und Norwegen – wurden russische Verschwörungen oder Spione aufgedeckt, was zu einer Abkühlung der Beziehungen zu Russland führte. Schließlich erhielt der Skandal der Vergiftung von Sergej Skripal und seiner Tochter im englischen Salisbury eine geradezu universellen Bedeutung.
Westliche „Kollegen“, wie es jetzt in Russland heißt, haben strategisch gearbeitet und ihre Hälfte des Feldes von feindlichem Einfluss gesäubert. Infolgedessen gibt es in Europa praktisch keine Staaten mehr, deren Regierungen Russland gegenüber eine neutrale bis positive Haltung einnehmen. Die Entscheidung von Merkel, die Frage nach dem Schicksal von Nord Stream 2 auf die Ebene der Europäischen Union zu verlagern, wirkt vor diesem Hintergrund wie ein endgültiges Urteil.
Spektakulär, aber langfristig wirkungslos
Spezialoperationen – unsere eigenen oder die von anderen – haben den Sinn, die Situation mit einem spektakulären Schlag zu eigenen Gunsten zu verändern. Strategisch gesehen ist der Erfolg von Spezialoperationen jedoch nicht immer langfristig. Häufig sind sie eher spektakulär als wirksam.
Der Fall Skripal ereignete sich zu einer Zeit, als in einigen europäischen Ländern – vier Jahre nach der Ukraine-Krise! – der Wunsch bestand, die Sanktionspolitik auf den Prüfstand zu stellen. Das Ergebnis: Die Überprüfung wurde verschoben. Der Fall Nawalny ereignete sich, als der Wunsch aufkam, eine neue harte Teilung Europas zu vermeiden, nun als Folge der amerikanisch-chinesischen Konfrontation.
Emotionen zügeln
Das Pathos dieses Artikels liegt nicht darin, dass beide Vergiftungen Provokationen der ein oder anderen Seite sind. Es geht darum, dass ungeachtet der Skandale und anderer Hindernisse wichtige europäische Interessen, auch die Deutschlands und Russlands, Zusammenarbeit und Kooperation erfordern. Skandale können diese Interessen von Zeit zu Zeit dämpfen, aber nicht unterdrücken. Deshalb sollte man die Emotionen zügeln und die Dinge in einem breiteren Rahmen betrachten.
Jeder im euro-atlantischen Raum muss sich daran erinnern, dass die russisch-deutsche Aussöhnung ein ebenso wichtiger Pfeiler der europäischen Sicherheit ist wie die deutsch-französische Aussöhnung. Diese Aussöhnung ist angesichts des nicht heilenden Traumas der Hitler-Aggression, des enormen Ausmaßes der Zerstörung und der vielen Millionen Kriegsopfer ein wahres Wunder der modernen Geschichte.
Phase der Feindschaft darf nicht anbrechen
Es ist nicht nötig, sich selbst und andere mit den Gespenstern Molotows und Ribbentrops zu erschrecken – vor allem jetzt nicht, wo statt einer weiteren Teilung Osteuropas zwischen Moskau und Berlin darum gerungen wird, was für ein Nachbarland Russland an seiner westlichen Grenze bekommen wird. Man sollte sich nicht über das Wiederaufleben der deutsch-russischen Feindschaft freuen. Sie wird die Nato nicht stärken. Deutschland mag seiner Verpflichtung zur Erhöhung der Militärausgaben nun schneller nachkommen, aber diese Ausgaben werden die Sicherheit Europas nicht verbessern. Man sollte sich nicht auf Hilfe von außen oder auf die Verlässlichkeit der nuklearen Abschreckung verlassen. Letzteres garantiert nur Zerstörung, nicht Rettung.
Die russisch-deutschen Beziehungen haben sich seit fast einem Jahrzehnt verschlechtert. Es ist unrealistisch, sie in absehbarer Zeit wieder in die Zeit der Partnerschaft für eine Modernisierung Europas von Lissabon bis Wladiwostok zurückzuversetzen. Aber es ist immer noch möglich, den Übergang der russisch-deutschen Beziehungen in eine Phase der Feindschaft zu stoppen.
Der bisherige Ansatz wird nicht funktionieren
Dazu muss der Grad der Aggression in der öffentlichen Rhetorik reduziert werden, eine eigene, möglichst gründliche Untersuchung im Falle Nawalnys durchgeführt werden, und es muss eine detaillierte, begründete Position dazu entwickelt werden, bevor das Thema mit der Organisation für das Verbot chemischer Waffen erörtert wird.
Diese Position sollte in erster Linie die russische Gesellschaft überzeugen. Der Ansatz „wir wissen nicht, was passiert ist, aber wir haben zehn Versionen von dem, wie es hätte sein können“ hat weder im Fall Litwinenko funktioniert, noch bei der Zerstörung der Boeing MH17 über der Ukraine, noch im Falle Skripal. Auch im Fall Nawalny wird es nicht funktionieren.
Wer wird nun Russland-Experte in der EU?
In den Beziehungen zu Berlin ist es besser, eine Pause einzulegen. Sollen die Deutschen selbst entscheiden, ob sie noch eine weitere Gasleitung aus Russland benötigen. Sollen sie selbst entscheiden, wer nach ihnen die Rolle des Russland-Experten in der EU einnehmen wird, ob nun Polen oder Litauen. Sollen sie selbst über die Nachfolge Merkels und generell über die Zukunft ihres parteipolitischen Systems entscheiden. Das geht uns nichts an.
Nach einer Weile muss man die Suche nach Verständigung mit Deutschland auf der Basis von Nachbarschaft, Berechenbarkeit und gegenseitigem Nutzen erneuern. Für Moskau besteht jetzt die wichtigste Aufgabe in Europa darin, in Weißrussland nicht zu versagen, wie man im Falle der Ukraine versagt hat. Man sollte nicht zulassen, dass Lukaschenko Putin täuscht, noch dass Putin sich im weißrussischen Volk täuscht. Und natürlich auch nicht im eigenen Volk.