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Rassist oder Kind seiner Zeit? Immanuel Kant / picture alliance

Philosophin über Identitätspolitik - „Das ist die Anziehungskraft des Grusels“

Jüngst ist auch der Begründer der Menschenrechte, Immanuel Kant, zur Zielscheibe von modernen Bilderstürmen geworden. Die dezidiert linke Philosophin Susan Neiman beschwört hingegen den Universalismus des Königsberger Philosophen und wendet ihn gegen Identitätspolitik aus dem eigenen Lager.

Ralf Hanselle / Antje Berghäuser

Autoreninfo

Ralf Hanselle ist stellvertretender Chefredakteur von Cicero. Im Verlag zu Klampen erschien von ihm zuletzt das Buch „Homo digitalis. Obdachlose im Cyberspace“.

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Susan Neiman wurde 1955 in Atlanta geboren. Nach Professuren an der Yale University und der Universität Tel Aviv leitet sie seit 2000 das Potsdamer Einstein Forum. Zu ihren bekanntesten Werken zählen „Das Böse denken“ und „Warum erwachsen werden?“.

Frau Neiman, Immanuel Kant, ihr philosophischer Fixstern, ist wegen Rassismusverdachts in der Kritik. Geht es bei der aktuellen Debatte aber vielleicht auch um ein linkes Unbehagen am Universalismus?
Susan Neiman: Genau das ist der Punkt. Natürlich hat Kant in seinem Werk dumme Vorurteile geäußert; übrigens nicht nur über Afrikaner, sondern ebenso über Frauen und Juden. Was man bei der unentwegten Wiederholung dieser Dinge indes vergisst, ist Kants radikale Ablehnung des Kolonialismus. In seinem Buch „Zum ewigen Frieden“ etwa gratuliert er den Japanern und den Chinesen dafür, dass sie dem Westen den Zutritt zu ihren Ländern verboten haben. Er nennt den Kolonialismus ein Übel; das ist brandaktuell. Man sollte sich also gut überlegen, wie man Denker beurteilt, die am Ende auch nur Kinder ihrer Zeit gewesen sind. Schauen Sie sich die Aufklärung an: Da gab es vielleicht einen Feministen, Condorcet, ansonsten war das Denken der Zeit fürchterlich sexistisch. Und doch: Kant hat die Grundlagen für die universellen Menschenrechte gelegt. Das muss man anerkennen. Er war entschiedener Universalist und gegen jegliches Stammesdenken. Ohne die Aufklärung hätten wir keinen Begriff von den Menschenrechten. Das vergisst man immer wieder; und das ärgert mich furchtbar. Wenn wir heute weiterdenken als die Philosophen des 18. Jahrhunderts, heißt das ja nur, dass wir Fortschritte gemacht haben. Die Denker der Aufklärung hätte das gefreut.

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Günter Johannsen | Di., 8. September 2020 - 12:10

Warum ist nicht der Gott der SED-Erben in der Kritik, der ein übler Rassist war und besonders die Juden im Visier hatte? Aus vielen Briefen und Schriften von Karl Marx geht ein menschenverachtendes Weltbild hervor. An seinen Arnold Ruge schrieb Marx, wie "widerlich" ihm "der israelitische Glaube" sei. Sein Text "Zur Judenfrage" (1843) legt den geistigen Grundstein für blanken antisemitischen Hass: "Welches ist der weltliche Grund des Judentums? Das praktische Bedürfnis, der Eigennutz. Welches ist der weltliche Kultus der Juden? Der Schacher. Welches ist sein weltlicher Gott? Das Geld."
Marx an Engels über den Juden Ferdinand Lasalle: „Es ist mir völlig klar, dass er, wie auch seine Kopfbildung und sein Haarwuchs beweist, von den Negern abstammt, die sich dem Zug des Moses aus Ägypten anschlossen … Diese Verbindung von Judentum und Germanentum mit der negerhaften Grundsubstanz müssen ein sonderbares Produkt hervorbringen niggerhaft“.
(„Marx & Engels intim“, Random House Verlag)

Der doch eine Kehrtwende bei der Beurteilung des NS-Regimes forderte. Aber natürlich wäre es übertrieben, Hoecke auch nur Ansatzweise einen Denker zu nennen.

Es geht auch nicht um Marx, einem der Lieblingsbösewichte der ewigen DDR-Widerständler. Es geht um Kant.

Auch wenn er - was wohl fast zu jenen Zeiten üblich war - antisemitische Sprüche klopfte, ist doch bemerkenswert, was der Mann aus Königsberg hervorbrachte.
Er nannte sich "Weltbürger" - man könnte ihn als frühen Globalisierungsfürsprecher bezeichnen. Und entwarf das Konzept des "kategorischen Imperativs", welches laut Kant unterschiedslos Geltung hatte, unabhängig von Religion oder geographischem Hintergrund.

Da könnten viele Menschen, die sich politisch "rechts" positioniert haben, aber eine gewaltige Menge lernen.

Jemand der sich mit Sätzen wie " Marx, einem der Lieblingsbösewichter der ewigen DDR-Widerständler" entlarvt, ist wohl kaum in der Position diejenigen, welche seine Meinung nicht teilen, zu belehren " wo sie noch eine gewaltige Menge lernen" könnten.

Dorothee Sehrt-Irrek | Di., 8. September 2020 - 12:21

die Mühe macht, ich muss mindestens eine Debatte erkennen können, um mich zu äußern...
Aber ich wähne Kant als Prussen sicher vor "der" Bundesrepublik Deutschland.
Wer Bekanntschaft mit diesem unbekannten Land Prussen machen möchte, wird um mindestens Kant nicht herumkommen.
Ich freue mich schon sehr auf das neue Buch von Prof. Sloterdijk.
Den Himmel zum Sprechen bringen? Keine Schwierigkeit für Prof. Sloterdijk, aber der Himmel kann nur zu etwas oder jemandem sprechen, nicht zu "NICHTS"?
Es hat mir gefallen, was Sloterdijk zur Cancel-Culture zur Berliner Zeitung sagte.
Ich spreche z.B. etwas aus.
Wenn Leute damit Probleme haben, kann ich sie nur dann für sie lösen oder mit ihnen, wenn sie mich zur Kenntnis nehmen.
Das wäre statt Unterschrift mein Beitrag zu dem, was sich da evtl. Kultur nennt.
Bitte lasst Prussen in die Unabhängigkeit.
Irgendwann sind der Drangsale einfach zuviele, selbst für evtl. im Denken Abgehärtete.
Gibt es noch Mitleid auf dieser Welt?
Wohl nur mehr im Himmel?

Holger Jürges | Di., 8. September 2020 - 12:33

Nun, Frau Neiman, für den Verstand gibt es keine absolute Freiheit, sondern lediglich eine sich selbst begrenzende Scheinwahrheit; und das
hält uns davon ab, befriedet und glücklich zu sein, denn immerfort werden sich Gegensätze in die Harmonie des oberflächlichen Selbst bohren.
Und dieses Unbehagen - diese Ferne vom Glück - ebnet zuweilen absurde Denkweisen, welche hinsichtlich jener derzeitigen "Identitätspolitik" ins Dekadente ragen, den Weg. Ein gangbarer Weg "nach Erlösung" wäre einzig die Versenkung ins eigene Ich (z.B. im Zen), was gegebenfalls zur Überwindung allgemein wahrnehmbarer Welterfahrung, im Sinne deterministischer Gesetzmäßigkeiten, führen würde. - Natürlich ist den Schreihälsen ein solcher Weg viel zu unbequem; es war schon immer einfach, in den Fluten von Empörungswellen mitzuschwimmen; dabei jedoch in bornierter Form das Vermächtnis wertvoller Vergangenheiten zu beschmutzen ist nicht hinnehmbar, denn menschliche Dummheit tötet immer die Vernunft...

Ernst-Günther Konrad | Di., 8. September 2020 - 14:38

"Wir bewegen uns momentan in einer Ära, die ich eigentlich begrüße. Wir fangen an, über historisch Verdrängtes nachzudenken."
Nein, genau da befinden wir uns nicht. Diejenigen, die Kultur abschaffen, das "alte" vernichten wollen, sie denken weder nach, noch haben sie Geschichtsbewusstsein und schon gar nicht die Fähigkeit, über vergangenes und deren Menschen ihrer Zeit zu diskutieren. Deshalb finde ich diese Zeit auch nicht toll.
Toll wäre, wenn die jungen mit den Alten, wenn über Parteigrenzen hinweg der gesellschaftliche Diskurs eingeläutet werden würde. Stattdessen linke Begriffsbestimmung und Widerrede zwecklos, da ist man gleich ewig gestrig, rechts.
Einzig ihre Ausführungen, dass viele Denker eben auch in ihrem Zeitgeist lebten und wir nicht erwarten können, dass z.B. Kant hätte in die Zukunft schauen und die Gesellschaft von heute erahnen hätte können. In jeder Zeit gab es Vorgänge, die wir aus heutiger Sicht anders einordnen können. Die Betonung liegt aus heutiger Sicht.

Wir bewegen uns momentan in einer Ära, in de wir angefangen haben, über historisch Verdrängtes nachzudenken. Das ist Fakt. Dass dabei Denkmäler in Frage gestellt werden und mitunter geschliffen werden, ist sichtbarer Teil des Prozesses. Wer an dem Verdrängen hängt, wird es natürlich nicht verstehen.

Manfred Sonntag | Di., 8. September 2020 - 15:18

Ein prima Interview. Zusammenfassend würde ich bezüglich Foucault sagen, wer einem am Ende Wahnsinnigen zujubelt und verehrt, hat selten Gutes im Sinne. Der aus der von Foucault bestimmten Identitätspolitik hervorgegangene positive Rassismus ist auch nichts anderes als eine linke ideologische Kriegserklärung. Jeder Anhänger bewegt sich auf den totalitären Pfaden von Robespierre, Lenin, Stalin, Pol Pot usw. Gestern sind es "nur" Denkmäler die gestürzt wurden. Heute jedoch verlieren schon die ersten Bürger ihren Job auf Grund von PC & CC, deren Wurzeln in der Identitätspolitik liegen. Diese Politik instrumentalisiert die Benachteiligten zu Bittstellern und Abhängigen der herrschenden Eliten. Selbst B. Obama kritisierte die daraus entstandene Opferhaltung (TAZ 27.09.09) großer Teile der schwarzen Bevölkerung: "Man dürfe jedoch nicht darauf warten, dass irgendjemand komme und die Afroamerikaner aus ihrem Übel erlöse. Das müssten sie selbst tun.".

gabriele bondzio | Di., 8. September 2020 - 20:46

„Was einen Preis hat, an dessen Stelle kann etwas anderes als Äquivalent gesetzt werden; was dagegen über allen Preis erhaben ist, hat seine Würde„Immanuel Kant (1724-1804), dt. Philosoph

Die Frage aller Fragen ist doch hier, wer in seinem Wirken dumme Vorurteile äußert. Bestimmt nicht Kant-er war ein Kind seiner Zeit. Wenn die Bilderstürmer, einen solchen Grad von Intelligenz und Wissen erreicht haben, dann dürfen sie Steine werfen. Aber ich glaube fast... selbigen fehlt auch hier die Treffsicherheit.
Leopold von Ranke hat dies richtig erkannt. Historischen Epochen können nur aus sich selbst beurteilbar sein und nicht aus der Rückschau. Wenn so ein Quatsch, wie Menschen die Großartiges geleistet haben (und weil sie längst tot sind/keine Gegenwehr anstrengen), plötzlich mit Makel zu versehen. Aus dem heutigen Zeitverständnis Schule macht, ist den Makel-Suchern nicht mehr zu helfen.

"Wenn die Bilderstürmer, einen solchen Grad von Intelligenz und Wissen erreicht haben, dann dürfen sie Steine werfen. Aber ich glaube fast... selbigen fehlt auch hier die Treffsicherheit." Ich gehe noch einen Schritt weiter: Es fehlt ihnen häufig auch der Geist - es sind nämlich, so zumindest mein Eindruck, häufig sehr kleine Geister ohne eigene Ideen. Und nun glauben sie, dass sie sich an wesentlich größeren Geistern abarbeiten müssen. Eine Kant ist heute noch bekannt, seine Kritiker werden ganz schnell in Vergessenheit geraten. Was gelegentlich vergessen wird: Jeder Mensch ist ein Kind seiner Zeit. Und ist dementsprechend nicht vor den Fehlern und Mißverständnissen seiner Zeit gefeit. Jemanden nun aus heutiger Sicht daraus einen Strick drehen zu wollen, ist unredlich.