Mammutaufgabe der EU-Ratspräsidentschaft: Die Brexit-Verhandlungen / dpa

Großbritannien und die EU - Harter Brexitherbst

Vor den Gesprächen über das künftige Verhältnis von Großbritannien und der EU verhärten sich die Fronten erneut. Will Boris Johnson die EU mit seinen Provokationen bloß zu einem besseren Deal bewegen oder gedenken die Briten, die Verhandlungen mit der EU über ein Freihandelsabkommen tatsächlich zu sprengen?

Tessa Szyszkowitz

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Tessa Szyszkowitz ist Londoner Korrespondentin des österreichischen Wochenmagazins Profil. Im September 2018 erschien „Echte Engländer – Britannien und der Brexit“. Foto: Alex Schlacher

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Diesen Dienstag beginnt die achte Verhandlungsrunde zwischen Großbritannien und der EU über ein Freihandelsabkommen. Bis Mitte Oktober sollen diese abgeschlossen sein, damit das Vereinigte Königreich am 1. Januar 2021 nicht ohne Abkommen aus dem EU-Binnenmarkt und der EU-Zollunion austritt. Denn dann endet die Übergangsphase, die seit dem offiziellen Brexit am 31. Januar 2020 läuft. Die Zeit drängt. Da Großbritannien seit 47 Jahren Mitglied der EU war, sind die Gespräche über eine Abwicklung der sehr engen wirtschaftlichen Vernetzung kompliziert. 

Wieder alles anders

Laut einem Bericht in der Financial Times aber deutet einiges darauf hin, dass der britische Premierminister Boris Johnson gar keine weiteren ernsthaften Verhandlungen mehr plant. Am Mittwoch soll ein britisches Gesetz präsentiert werden, das die Bestimmungen des Austrittsvertrages, den Großbritannien mit der EU unterzeichnet hat, bei Zuschüssen und Zollkontrollen in Nordirland außer Kraft setzen würde.

„Ich vertraue der britischen Regierung, das Austrittsabkommen zu implementieren, das ist eine Verpflichtung nach internationalem Recht“, meldete sich EU-Kommissionspräsidentin Ursula Von der Leyen am Montag vormittag warnend aus Brüssel zu Wort.

Königreich soll ohne Abkommen „gedeihen“

Sogar seine eigenen Minister sind, wie die Engländer dies gerne nennen, „puzzled“, also verwirrt. Will Boris Johnson die EU bloß zu Beginn einer neuen Verhandlungswoche in Panik versetzen und zu einem besseren Brexit-Deal bewegen? Oder ist der britische Premierminister tatsächlich der Meinung, dass das Vereinigte Königreich ohne Freihandelsabkommen mit der EU „prächtig gedeihen“ wird? Die Herbstsaison beginnt, die blonde Bombe explodiert wieder.

Am Sonntagabend hatte das Presseteam in Downing Street vorab die Worte des Premierministers an Journalisten, darunter auch Cicero, ausgesendet, die am Montag als Video unter die Leute gebracht werden sollten: „Es kann immer noch zu einem Abkommen mit der EU kommen“, wollte Boris Johnson demnach sagen: „Aber wir können und werden kein Abkommen akzeptieren, bei dem die Grundlagen eines unabhängigen Landes kompromittiert werden.“

Fehlende Kompromissbereitschaft  

Danach brach ein Twittersturm los, der am Montag Vormittag noch Fahrt aufnahm. „Die EU weigert sich zu begreifen, dass wir wirklich ein unabhängiges Land sein wollen“, sagte Umweltminister George Eustice, der am Montag Früh in die Fernsehstudios entsandt wurde, um die neue Brexitvolte zu erklären. 

Der neue deutsche Botschafter in London, Andreas Michaelis, erlaubte sich in einem Tweet eine erhobene Augenbraue: „Nach den Worten des Premierministers muss Deutschland sich fragen, ob es noch ein unabhängiges Land ist. Deutschland ist Vertragsstaat von hunderten internationalen Verträgen. Damit verbundene Kompromisse haben sicherlich nicht unsere Souveränität ausgehöhlt.“

Hardliner fürchten um Souveränität 

In Großbritannien hat sich die Regierungspolitik im Zuge der Brexit-Debatte gegenüber der EU radikalisiert. 2016 waren viele Brexit-Befürworter dafür, die politischen Institutionen der EU zu verlassen, sie wollten aber im EU-Binnenmarkt oder zumindest wirtschaftlich eng vernetzt bleiben. Immerhin gehen 43 Prozent der britischen Exporte in die EU.

Der Austritt aus dem EU-Binnenmarkt und der EU-Zollunion ist für die meisten britischen Händler ohnehin schon ein Schock – statt Zollfreiheit stehen Zölle, Checks, Dokumente und damit mehr Kosten und Verzögerungen an. Je härter der Bruch, um so größer wird der Schmerz für die Briten sein. Inzwischen gilt allerdings in Boris Johnsons Regierung, in der seine loyalen Brexiteers sitzen, jeder Kompromiss bei Handelsfragen als Einmischung in die Souveränität Britanniens. 

EU fordert faire Bedingungen 

Für die Verhandlungen zwischen EU und Großbritannien über einen Freihandelsvertrag ist diese inhaltliche Verschiebung schwierig. Es bleibt bis zum Ablauf der Übergangsphase am 31. Dezember 2020 kaum mehr Zeit für die detailreichen Verhandlungen, wenn nicht einmal die Grundlagen klar sind.

Michael Barnier, der EU-Chefverhandler in den Brexitgesprächen, gab dem französischen Radio am Montag ein Interview, in dem er erklärte: „Es sind schwierige Verhandlungen, weil die Briten ihre Produkte in einen Markt von 440 Millionen Konsumenten zu ihren Bedingungen exportieren wollen … wir aber hätten gerne faire Bedingungen.“ 

Der Premier der großen Worte

Boris Johnson, daran erinnert man sich noch gut aus dem Herbst 2019, verspricht gerne Dinge, die er dann nicht hält. Er wollte ja an sich „lieber tot im Graben liegen“, als den Brexit zu verschieben. Dann verschob er den Brexit doch. Dass er den Brexit überhaupt noch liefern konnte, lag vor allem daran, dass er am Ende einen Deal akzeptierte, der eine Zollgrenze zwischen Nordirland und Großbritannien einführte. Genau dies zu verhindern, hatte er ebenfalls fest versprochen. In diesem Licht besehen, könnte es sich auch bei seinen jüngsten Ankündigungen bloß um eine provokante Strategie handeln, um die EU zu Zugeständnissen zu bringen. Gerade bei der Frage, wie weit Fischereirechte und staatliche Zuschüsse in Zukunft geregelt werden, gibt es noch keine Einigung.

Das Pfund fiel jedenfalls erst einmal gegenüber dem Euro. Nicht nur die britische Währung, auch die Stimmung der Bevölkerung auf der Brexitinsel war gedämpft. Denn nicht nur stehen die Chancen für einen Deal mit der EU schlecht, auch die Covid-Zahlen steigen wieder. Am Sonntag wurden bereits knapp 3000 tägliche Neuinfektionen bekannt gegeben. Dem Vereinigten Königreich droht ein harter Herbst.

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Dorothee Sehrt-Irrek | Mo., 7. September 2020 - 15:16

Ich habe eine Weile gemeint, Johnson mit Merkel zusammen sehen zu können.
Ich bin mir unsicher geworden, glaube aber doch, dass Frau Merkels Verhalten in der EU Johnson so etwas wie Souveränität wieder vor Augen geführt und schmackhaft gemacht haben könnte.
Ich bin nach wie vor ein großer Fan der EU, aber sie sollte evtl. sich auch ein Beispiel an England nehmen und wieder mehr auf die Gemeinsamkeit souveräner Staaten abstellen als auf die Souveränität Merkels oder demnächst sonst irgendeiner politischen Person als der für die EU verbindliche.
Ich glaube schon, wenn Johnson nicht mit Merkel vergleichbar ist, dass England gut aus dieser EU herauskommt.
Eine Besonderheit eines für sich stehenden Johnson könnte schon dessen Prädestination fürs Souveräne sein.
Das macht nicht wenig die Anziehungskraft des Adels aus.
Ob das reicht? Andererseits sind Engländer gar nicht soviel anders als ihr derzeitiger Premier? "Rule.."
"Die" Skandinavier sind konstitutionelle Monarchien and so is England

Holger Jürges | Mo., 7. September 2020 - 15:30

Zitat: „Die EU weigert sich zu begreifen, dass wir wirklich ein unabhängiges Land sein wollen“, sagte Umweltminister George Eustice, der am Montag Früh in die Fernsehstudios entsandt wurde, um die neue Brexitvolte zu erklären. - Zitatende

Ha, da sollten die Briten Merkel aber dankbar sein für die Unabhängigkeit, denn ohne Merkels hanebüchene Flüchtlingspolitik hätte es nie einen Brexit gegeben; den Engländern wurde mulmig zumute, bei immer weiter wachsenden Distanzen zu vernünftigen Entscheidungen Deutschlands und der EU... - Merkels Alleingang erbrachte dann die Endscheidung zum "By by EU".

Dass Boris nun das Bestmögliche für sein Land herausholen möchte, unterscheidet ihn ebenfalls von Merkel, bezüglich dessen zu bemerken wäre: T r o t z Merkel geht es Deutschland n o c h gut, denn die Anliegen der arbeitenden Bevölkerung sind Merkel reichlich egal. - Das Bestmögliche bezüglich Merkel hieße, sich ihres Amtseides zu erinnern: doch da ist nur dunkles Gewölk.

Gerhard Lenz | Di., 8. September 2020 - 00:32

Antwort auf von Holger Jürges

Johnson, und da ähnelt er Trump, will zunächst einmal das "Bestmögliche" für sich selbst.

Er möchte ganz offensichtlich, in Anlehnung an sein großes Vorbild Churchill, als der Premier in die Geschichte eingehen, der sein Land aus der "Versklavung durch die EU" geführt hat.

Johnson hat den Briten erzählt, dass ihr Land noch immer eine Großmacht sei, und dass außerhalb der EU und ihrer Regeln einem völlig unabhängigen Britannien eine wunderbare Zukunft winken würde.

Das ist natürlich absoluter Unsinn.

Die großartigen Handelsbeziehungen, von Johnson & Co. versprochen, sind nicht in Sicht. Tatsächlich droht der wirtschaftliche Abstieg und eine völlige Abhängigkeit von den USA - für die das Land ja jetzt schon in Kriege ziehen darf.

Johnson kann drohen so viel er will - schon in Kürze wird ihm sein ganzes pathetisches Gehabe nichts mehr nutzen. Dann muss er liefern.

Und wird es nicht können.

Christa Wallau | Di., 8. September 2020 - 18:23

Antwort auf von Holger Jürges

... das Vertreten eigener Interessen bedeutet, diese schlichte Tatsache ist unseren
Laien-Darstellern auf dem politschen Parkett längst nicht mehr bewußt.
Unsere heutigen deutschen Politiker sind zum größten Teil Ideologen, Moralprediger u. selbsternannte Weltverbesserer.

Es geht in der Politik jedoch grundsätzlich um nichts anderes als Interessensvertretung, erst nachrangig um Moral. Chinesische Politik zeigt dies
z. B. ganz eindeutig - ob uns das nun gefällt oder nicht.

Politiker können die Welt nicht verändern, sondern nur erfolgreich u.(möglichst) friedlich den Teil der Welt verwalten, für den sie zuständig sind - im Interesse derer, die sie in der Welt vertreten. Dies sind s e i n e Landsleute!

Wenn die Bürger in einem Staat nicht mehr in der Lage sind zu erkennen, wer
wirklich i h r e Interessen vertritt bzw. ihr langfristiges Wohlergehen im Auge hat, dann ist leider Hopfen und Malz verloren. Diese Leute graben sich ihr eigenes Grab.
in Deutschland ist dies der Fall.

Ernst-Günther Konrad | Mo., 7. September 2020 - 16:29

Ich lese erst wieder einen Artikel zu diesem Brexit, wenn mal konkret dargelegt wird, worin denn die unüberwindlichen Probleme überhaupt bestehen.
Das ein Premier das Beste für sein Land aus vertraglichen Verhandlungen heraus holen will ist doch völlig normal. Dass die EU ihrerseits bereits mit dem Brexit viele Fehler selber gemacht hat, darüber lese ich was? Genau. Nichts.
Lasst Boris machen, er muss es gegenüber allen Briten vertreten. Mit allen Vor- und allen Nachteilen. Nur erpressen lassen sollte er sich nicht. Schon gar nicht von einer UvdL, die als Verteidigungsministerien versagt hat und auf höchst dubiose Weise ins Amt gehievt wurde.

Christoph Kuhlmann | Di., 8. September 2020 - 00:05

dann geht London in die Knie und ein großer Teil der 2 Millionen Industriearbeitsplätze in England geht verloren. Damit werden 50% der Deviseneinnahmen erwirtschaftet. Bei einem exorbitantem Handelsbilanzdefizit. Das Pfund wird noch sehr tief sinken, wenn das alles stimmt.

gabriele bondzio | Di., 8. September 2020 - 08:43

Ja, wenn zwei Parteien um Geld-und andere Vorteile kämpfen, ist das abzusehen. Zu erwarten, das Streicheleinheiten getauscht werden ist ein bissel realitätsfern.
Zumal ja für die EU der Austritt der Briten ein Schlag ins Gesicht war und sie schon daher ein Negativ-Beispiel setzen möchten. Um weiter-austrittswillige Länder abzuschrecken.
Das Boris für sein Land kämpft, sehe ich positiv. Dafür wurde er gewählt. Auch wenn die Presse gerne von Erpressung redet.. Unsere Merkel schaufelt im Gegensatz ein neues Milliardengrab für den Steuerzahler mit Pipeline-Projekt Nord Stream 2.

Charlotte Basler | Di., 8. September 2020 - 12:05

Ist er nicht dafür bekannt ein knallhart und gerissen zu verhandeln? Hat er es nicht auch beim Austritt im letzten Moment geschafft, die Dinge in seinem Sinne zu verbiegen?

helmut armbruster | Di., 8. September 2020 - 18:51

diese Weisheit stammt nicht von Clausewitz. Mein Vater hat sie aus dem Krieg mit gebracht. Und auf den Fall GB - EU passt sie wunderbar.
Die EU als der eigentlich stärkere Verhandlungspartner lässt sich von Johnson die Richtung vorgeben. Warum? Weil sie unfähig ist Einigkeit und Geschlossenheit aufzubringen. Von Härte zeigen will ich erst gar nicht reden.
Es ist doch klar, dass, wen man so auftritt der Verhandlungspartner einen nicht ernst nimmt und insgeheim glaubt, hier kann ich mehr heraus holen als ich gedacht habe.
Wann endlich wird die EU begreifen, dass sie einig und geschlossen auftreten muss, wenn sie den ihr zustehenden Platz in der Welt auch besetzen will?