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Wer etwas gelten will, nutzt Worte von Gewicht / dpa

Intellektuelles Vokabular - Erzähl mir nichts vom Narrativ!

Es gibt einen Begriff, der in den deutschen Feuilletons extrem beliebt ist: das „Narrativ“. Genau genommen ist sein inflationärer Gebrauch aber unerträglich, denn in den meisten Fällen ist das Wort nur Synonym für „Argument“, „Behauptung“ oder „Mythos“.

Autoreninfo

Judith Sevinç Basad ist Journalistin und lebt in Berlin. Sie studierte Philosophie und Germanistik und volontierte im Feuilleton der NZZ. Als freie Autorin schrieb sie u.a. für FAZ, NZZ und Welt. Sie bloggt mit dem Autoren-Kollektiv „Salonkolumnisten“. 

So erreichen Sie Judith Sevinç Basad:

Es ist fraglich, ob alle Menschen, die das Wort „Narrativ“ im Mund und Wortschatz führen, auch tatsächlich wissen, aus welcher philosophischen Denkschule es stammt und was genau es wohl bedeutet. Wahrscheinlicher ist eher, dass sich die Narrativ-Fans wie jene Zeitgenossen verhalten, die sich schicke Brillen mit Fensterglas auf die Nase setzen, obwohl sie keine Sehschwäche haben: Sie wollen mit derlei Dekor halt wie Schweinchen Schlau erscheinen.

Ausdruck soll wissenschaftliches Gewicht verleihen

Und dieser Trend zur Schlauheit dominiert mittlerweile auch die Politik. „Wir haben das Narrativ, die AfD sei im Osten überall vorn, in Thüringen durchbrochen", erzählte jüngst der Landes- und Fraktionsvorsitzende der Thüringer CDU, Mike Mohring. Was er eigentlich damit sagen wollte, war wohl dieses: „Wir haben die Behauptung, die AfD sei im Osten überall vorn, in Thüringen durchbrochen“.

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Christa Wallau | So., 6. September 2020 - 11:02

erreichen, weniger von "Narrativen" zu sprechen, liebe Frau Basad?

Hier bei CICERO rennen Sie mit Ihren Argumenten offene Türen ein (jedenfalls bei 95% der Leser), und diejengen, an die Ihre Worte eigentlich gerichtet sein müßten, hören sie nicht bzw. wollen sie nicht hören.
Die Phalanx der Beton-Ideologen steht so fest wie ehemals die Mauer in der DDR.
Diese reale Mauer sollte ja auch ein antifaschistischer Schutzwall sein. Heute besteht
dieser "Wall gegen Rechts" nur in den Köpfen, aber ebenso wirkungsvoll.
Tote gibt es zwar jetzt nicht mehr an der Mauer, dafür viel gesellschaftliche Ausgrenzung.
Das Klima ist spießig und stickig, unbefriedigend u. gefährlich - wie zu Zeiten Honeckers.

Es gibt nur noch: Für die Regierung sein o. gegen sie.
In der DDR hieß das: Für den Sozialismus oder dagegen. Dazwischen gab es nichts.

Wie sehr wünsche ich mir die Zeiten zurück, da man in DE sowohl konservativ als auch
liberal und sozialdemokatisch argumentieren u.
effektiv wählen konnte!

...als wenn Ausgrenzung einseitig funktionieren würde. Die AfD, um die es ja geht - ohne dass Frau Wallau ihre Partei nennt - hat sich doch selbst durch ständige Provokation, fragwürdiges Verhalten und Abdriften nach Rechtsaussen auf die andere Seite des Walles gestellt. Und spielt dort, mit Wonne, das Opfer.

Zum Thema: Es ist mir nicht ganz klar, Frau Basad, warum Sie aufgeblasenes und bombastisches Sprachgewurschtel jetzt als linke Sünde darstellen. Ich empfehle Ihnen nicht, die Ergüsse neu-rechter Teutonen-Intellektueller zu studieren. Da könnten Sie jede Menge selbstverliebtes, pathetisches Geschwurbel beobachten, welches dem - zugegeben - Akademikerquark eher linker Intellektueller in Nichts nachsteht.
Die Deutschen können es halt nicht besser, im Gegensatz zu den Angelsachsen, die das "plain English" als "Sprachkunst" ansehen.
Davon abgesehen frage ich mich, was mit der "Triggerwarnung" eigentlich bezweckt werden soll: Empörten die Möglichkeit geben, sich zu empören?
Wozu?

Holger Jürges | So., 6. September 2020 - 11:21

Als zuweilen brillantes Stilmittel, sich harmonisch in den Sachverhalt einfügend, empfinde ich Fremdwörter als "zumutbar", zumal sie bei belesenen Zeitgenossen nicht anrüchig wirken.

Jedoch als rhetorisch genutzte Figur des Politikers entfalten Fremdwörter manipulative Elemente; nun ja, Rhetorik ist ja oft zielgerichtet manipulativ.^ - Der Politiker sollte "normales" deutsch sprechen.

Im Umfeld einer geneigten Runde hingegen, kann das Fremdwort (auch fachspezifisch) durchaus zu einem sachlich komprimierten, sinnvollen Austausch beitragen.

Holger Jürges | So., 6. September 2020 - 11:41

Werte Frau Basad,

Zitat: "Ratsam wäre indes eines: Weniger Diskurse, weniger Narrative und weniger Zurschaustellung des eigenen Pseudo-Intellekts."

Es gibt aber auch den aufrichtig-ungefälschten Intellekt: Lesen Sie ein Interview mit Herrn Peter Sloterdijk und überlegen sich dann, ob die inflationär eingesetzten Fremdwörter des Philosophen nicht einer natürlichen Erwartungshaltung von Herrn Sloterdijk bezüglich des geneigten Lesers entstammen - fern jeglicher Arroganz - wäre ja möglich...

Manfred Sonntag | So., 6. September 2020 - 12:13

Großartig, Frau Sevinç Basad. 2018 hat Herr Tellkamp in einem offenen Dialog mit Herrn Grünbein behauptet, 95% aller Flüchtlinge müssten unser Land wegen fehlenden Gründen wieder verlassen. Spiegel, Zeit, SZ und andere stürzten sich auf diese Aussage und bezichtigten ihn der Lüge, ohne selbst Zahlen zu nennen. Nachdem bekannt wurde, dass es laut BAMF im ersten Halbjahr 84% wären, bat ich nun einen Journalisten, mir eine Zahl der letzten Jahre zu nennen, Er gab mir seinen Schätzwert von ~60%, welche wieder gehen müssten. Jetzt schrieb ich ihm, im Mittelwert von 10 Jahren (ltd. BAMF) sind es 77,5%. Er liege damit genauso weit entfernt wie Herr Tellkamp, nämlich 17,5% und der Vorwurf der Lüge gegenüber dem Schriftsteller habe sich damit erledigt. Doch in der Antwort beharrte er auf dem Lügenvorwurf. Die Linken & Linksliberalen werden wegen ihrer Selbstgerechtigkeit, Faktenverdrängung und Denkfaulheit in den gesellschaftlichen Ruin getrieben. Ein neues Narrativ darüber wird entstehen.

Dieter Freundlieb | So., 6. September 2020 - 13:46

Bei der Verwendung des Ausdrucks 'Narrativ' geht es mir weitgehend wie Frau Basad. Ihre wenig schmeichelhafte Erklärung für die offenbar zunehmende Neigung unter Politikern und Journalisten, den Begriff des Narrativs auf alles mögliche anzuwenden, finde ich einleuchtend.

Vielleicht wäre es aber angemessen gewesen, etwas näher auf die Herkunft des Ausdrucks aus dem zum Relativismus neigenden postmodernen Denken von Jean-François Lyotard und anderen postmodernen französischen Denkern hinzuweisen. Lyotards Absicht, seine Ablehnung der 'grands récits' ('Meistererzählungen') mit einer generellen Kritik an objektiven Wahrheitskriterien zu verbinden, wird heute meistens gar nicht mehr thematisiert. Es ist wie bei vielen anderen Formen der politischen Kritik. Bestimmte Überzeugungen als 'Narrative' zu bezeichnen, klingt wissenschaftlich oder sonstwie intellektuell fundiert und erspart dem Schreiber die argumentative Auseinandersetzung.

Ernst-Günther Konrad | So., 6. September 2020 - 14:19

bestand dieser Tage der grüne MP Kretschmann auf seine ureigenste Art, Menschen eben reden zu lassen,wie sie reden, solange niemand beleidigt oder massiv angegriffen wird. Habe das Wort "Narrativ" erst hier im Forum kennen gelernt. Musste nachlesen, war mir zu ungenau, weil verschieden verwendbar, benutze es deshalb nicht.
Mag sein, dass der ein oder andere glaubt, mit vielen Fremdwörtern wirke er klüger. Wer es braucht. Meine Devise ist, so einfach verständlich wie möglich. Wenn ich selbst erst nachschauen muss, gehört es eben nicht zu meinem täglichen Sprachgebrauch und ich vermeide diese Begriffe, wenn ich sie nicht als Beispiel verwende.
Wie bei allem, entscheidet der Empfänger einer Botschaft dessen individuelles Verständnis. Möchte schon wissen, was jeder hier im Forum darunter versteht. Es ist natürlich Ziel jeder Ideologie, Begrifflichkeiten festzulegen, die andere diskreditieren, festlegen wie sie zu verstehen sind und natürlich nicht mehr diskutabel sind. Einfach mal fragen.

Gerhard Schwedes | So., 6. September 2020 - 15:56

Ich stimme Ihnen voll und ganz zu. Auch andere Artikel von Ihnen zeigen, dass Sie sich einen eigenen Kopf bewahrt haben und sich nicht von der Modewelle des politischen Zeitgeistes mitreißen lassen. Deshalb mein Dank und Respekt. Leider benutzen aber auch Sie einige Wörter, die man ganz schlicht in deutscher Sprache audrücken könnte. Warum nehmen Sie für "User" nicht einfach das deutsche Wort "Nutzer", für "Fakt" nicht das viel anschaulichere Wort "Tatsache". Was ist eigentlich ein Sharepic? (Ich weiß es inzwischen, weil ich im Internet nachgesucht habe.) Im Internet lese ich gerade folgenden Titel: "Social Media Bilder und Sharepics mit den besten free Tools". Hier stehen 50 Prozent deutsche Wörter 50 Prozent englischen gegenüber - ein Lackmustest dafür, dass wir Deutsche unseren Kulturzenit überschritten haben. Wir sind geistig und kulturell so träge geworden, dass wir dabei sind, unsere Kultur und Sprache an den Nagel zu hängen.

Harald Lieder | So., 6. September 2020 - 20:32

Antwort auf von Gerhard Schwedes

Lieber Herr Schwedes,
Sie sprechen mir aus der Seele! Dieses Wort, "Fakt" ist zwar kürzer und auch lautmalerischer - wie "abgehackt" oder "zack" - aber es ist ein überflüssiges Fremdwort. "Tatsache" drückt genau dasselbe aus, wenn man einen "unbezweifelbaren Sachverhalt" (DWDS) benennen will.
Für mich hat Fakt außerdem einen äußerst unangenehmen Beiklang nach DDR.
Von besonders kläglichem Bildungsstand zeugt jedoch die beliebte Verpaarung mit dem Adjektiv "wissenschaftlich": solchen Zeitgenossen ist offenbar nicht bewusst, dass in der Wissenschaft so schnell nichts als "unbezweifelbarer Sachverhalt" geadelt wird.

Bernd Muhlack | So., 6. September 2020 - 16:01

Als ich das Wort Narrativ das erste mal hörte, las, dachte ich zunächst das habe etwas mit Karneval, Fastnacht zu tun; ich bin Rheinländer, Kölle Alaaf.
Jedoch hätte das zum Kontext keinerlei Sinn ergeben.
Das war zu Schulzeiten und spätestens in der Oberstufe wird man mit "Fachausdrücken" attackiert.
Dazu Sätze in so manchem Traktat welche man (ich) auch nach dem zehnten repetitiven Lesen nicht verstand.
Immer bedeutungsschwer nicken und im Zweifel sagt man: "Das sehe ich genauso!"

Früher wurde im Bundestag von so manchem/r noch auf einem relativ hohen Niveau debattiert, etwa Rainer Barzel oder Hildegard Hamm-Brücher.
Dazu bedurfte es keiner "Verschwurbelungen" sondern schlicht einer sehr guten Rhetorik.

Anne Will sagt nicht "rechtes Narrativ" sondern "Das ist AfD-Sprech!"
Sie ist ja eine persona non grata - tabu.
So einfach ist das - gemeint ist dasselbe.

Es gibt auch das "positive" Narrativ "Haltung zeigen".
Bei Heiko Maas muss ich dann immer lachen!

Wie immer: prima Frau Basad!

Ich freue mich immer Ihre Artikel zu lesen, liebe Frau Basad. Erneut haben Sie mich überzeugt.l

Ein neues hübsches Wort bereichert unsere politische Sprache, das "Narrativ". Dieses unterscheidet sich nicht von langweiligen Erzählungen, aber es besitzt den Neuheitswert für unsinnige, vermeintlich intellektueller, Unterhaltung. Denn im politischen Zirkus streiten nicht Ideen, Ideologen, Kapital und Macht, sondern Narrative. Für mich ist es nur ein schwachsinniges "Modewort". Und diese Mode-wörter kommen und gehen.

Das Narrativ siedelte sich zwischen sozialwissenschaftlicher Romantik und unver-ständlichem Geschwurbel an. Wir brauchen keine Narrative und Volksverdum-mung. Wir brauchen Taten und Realpolitik.

Thomas Hanke | So., 6. September 2020 - 18:37

Der Link im Text führt nicht zur Antonio-Amadeo-Stiftung, sondern zur Bundeszentrale für Politische Bildung und einen Beitrag der Anne-Frank-Stiftung.

Kirsch | Mo., 7. September 2020 - 15:00

Antwort auf von Thomas Hanke

Lieber Herr Hanke,

vielen Dank für Ihren Hinweis! Das haben wir behoben. 

Mit freundlichen Grüßen

Die Redaktion

Ulrich Mende | Mo., 7. September 2020 - 05:48

Diese ganze Diskussion ist doch reichlich akademisch.
Was mir aber auffiel: Quasi im Vorbeigehen bestätigt Frau Basad die Amadeo-Antonio-Stiftung, die vor dem „gefährlichen Mythos von der Islamisierung des Abendlandes“ warnt.
Wenn wir die schwammigen Begriffe „Islamisierung“ und „Abendland“ einmal ersetzen durch „Wachsenden Einfluss des politischen Islam“ und „Europa“, so beobachten wir genau dieses. Beispiel D: Wir sagen, dass Erdogan, der uns ja gern den islamistischen Rabia-Gruß zeigt, sein Land islamisiert. Aber wird sind nicht bereit zuzugeben, dass die von ihm bezahlten Imame der DITB-Moscheen dasselbe hier in unserem Land machen.