
- Der lange Rückweg zur Vernunft
Mit der Identitätspolitik ist das Privateste zum Politikum geworden. Doch woher kommt eigentlich der Glaube, wonach Wahrheit und Identität in irgendeiner Form zusammenhängen könnten? Und in welche Irre wird der Weg am Ende führen? Eine Spurensuche.
Der Tag, an dem das abendländische Denken einen Salto mortale hinlegte, war ein Donnerstag. An den Fensterfronten der Buchhandlungen von Paris drückten sich die Studenten der École normale supérieure ihre hochgetragenen Nasen platt. Es war der 20. Februar 1975, drei Tage nach Ende der Pariser Winterferien. In den Auslagen befand sich ein druckfrisches Taschenbuch aus dem Verlag Gallimard.
In den philosophischen Fakultäten sollte es wie eine Bombe einschlagen: Hinter einem schlichten weißen Cover mit geschwungenem Schriftzug in Rot und Braun verbarg es, so zumindest ein damals immer lauter werdendes Gerücht, eine revolutionäre Theorie über Macht und Identität. Ihr Titel: „Surveiller et punir“, zu Deutsch „Überwachen und Strafen“.
Der Dandy mit dem Wollkragenpulli
Autor der über 350 Seiten umfassenden Analyse war ein gewisser Michel Foucault, Psychologe, Philosoph und als engagierter Intellektueller in der französischen Öffentlichkeit kein Unbekannter mehr. Mit Büchern wie „Wahnsinn und Gesellschaft“ oder „Die Ordnung der Dinge“ waren dem linken Professor, Lehrstuhlinhaber für die „Geschichte der Denksysteme“ am renommierten Collège de France, einige Bestseller gelungen. Sein politischer Protest für die Rechte von Homosexuellen oder für die Insassen in den Gefängnissen von Toul oder Nancy hatten dem Dandy mit dem weißen Rollkragenpulli zudem einiges an medialer Aufmerksamkeit beschert – und das weit über den berüchtigten Mai des Jahres 1968 hinaus.

„Überwachen und Strafen“ aber sollte noch einmal alles in den Schatten stellen, was man selbst in der Fünften Republik von einem Vertreter der Federhalterzunft so gewohnt war. Denn diese „Geschichte der Gegenwart“, wie der Autor sein eigenes Buch nannte, stellte die Philosophie Platons von den Füßen auf den Kopf. Der antike Starphilosoph hatte einst nämlich behauptet, dass der Körper das Gefängnis unserer Seele sei, und mit dieser These einen scheinbar unverrückbaren Glaubenssatz im sogenannten Leib-Seele-Dualismus geprägt.