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Die Mechanismen der Cancel Culture schaffen einen Teufelskreis / dpa

Cancel Culture - Nur ein Storno an der Supermarktkasse?

Die Begriff „Cancel Culture" wird derzeit viel zitiert, einige sind seiner bereits überdrüssig. Ein Blick auf die Mechanismen des Ausschließens lohnt sich dennoch. Denn es scheint paradox: Die Mittel der Cancel Culture schaden ihrem Zweck.

Bernd Stegemann

Autoreninfo

Bernd Stegemann ist Dramaturg und Professor an der Hochschule für Schauspiel (HfS) Ernst Busch. Er ist Autor zahlreicher Bücher. Zuletzt erschienen von ihm das Buch „Die Öffentlichkeit und ihre Feinde“ bei Klett-Cotta und „Identitätspolitik“ bei Matthes & Seitz (2023).

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Was ist Cancel Culture? Über den einfach zu verstehenden Begriff, der eine Kultur des Ausschließens meint, tobt ein erbitterter und zusehends sinnloser Streit. Auf der einen Seite mehren sich die Stimmen, die die wachsende Zahl von Ausschlussforderungen für ein Problem halten. Es wird immer seltener miteinander gestritten, stattdessen werden unliebsame Meinungen immer öfter als böse verurteilt, um sie dann aus der Öffentlichkeit verbannen zu können.

Auf der anderen Seite gibt es Stimmen, die leugnen, dass es so eine Kultur des Ausschließens überhaupt gibt. Wie kann das sein? Es lohnt sich, die Argumente der Leugner anzuschauen, denn im Zentrum ihrer Leugnung steckt ein logischer Trick, der viel mit der angespannten Lage der Öffentlichkeit zu tun hat: Die Art, mit der Cancel Culture geleugnet wird, entspricht der Methode der Cancel Culture. Und zugleich sägt die Methode der Cancel Culture an dem Ast, auf dem sie selber sitzt. 

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Maria Arenz | So., 23. August 2020 - 14:47

Man darf abwarten, wie lange es noch dauert, bis der Überdruss gegen die "Cancel Culture" sich auch gegen die "privilegierten Minderheiten" richtet, die sie schützen will. Ich fürchte, homo sapiens ist auf Dauer nicht imstande, da sauber zu trennen.

Karl Napp | So., 23. August 2020 - 19:53

Antwort auf von Maria Arenz

"Man kann einen Teil des Volkes die ganze Zeit täuschen und das ganze Volk einen Teil der Zeit. Aber man kann nicht das gesamte Volk die ganze Zeit täuschen."
Milwaukee Daily Journal, 29. Oktober 1886
Auch wenn das schon eine Weile her ist - für richtig halte ich es nach wie vor allemal.

Michaela Diederichs | So., 23. August 2020 - 19:55

Antwort auf von Maria Arenz

Ist aber alles in der Agenda 2030 ausformuliert worden und alle Staats- und Regierungschefs haben unterschrieben! Wer ausschert, handelt gegen das Völkerrecht. Mehr Totschlagargumente als die Agenda 2030 gibt es nicht. Nun ziehen Sie also mal schön den Kopf ein.

Gerhard Lenz | Mo., 24. August 2020 - 09:14

Antwort auf von Michaela Diederichs

Es ist erstaunlich, wie viel Unwahres über die Agenda 2030 erzählt wird. Ob aus Unwissenheit, oder politischer Absicht, lass ich mal dahingestellt sein...

Für diejenigen, die an wirklicher Information interessiert sind, hilft dieser Link:

https://www.2030agenda.de/de/publication/die-agenda-2030

Selbstverständlich hat die Agenda gar nichts mit "Cancel Culture", so wie sie im allgemeinen verstanden wird, zu tun.

Wer natürlich die Menschenrechte, die am 10. Dezember 1948 von der Generalversammlung der Vereinten Nationen beschlossen wurde, als Totschlagsargument versteht, der hat noch erheblichen Informationsbedarf.

Dort heisst es:
Artikel 1: Alle Menschen sind frei und GLEICH an Würde und Rechten geboren:
Artikel 2: Niemand darf diskriminiert werden.

Die Agenda 2030 soll natürlich auch dazu dienen, bei der Umsetzung der Menschenrechte zu helfen.

Rainer Möller | Mo., 24. August 2020 - 12:35

Antwort auf von Gerhard Lenz

natürlich gibt es immer eine Stelle, an der Gleichheits- und Freiheitsansprüche kollidieren. Das von vornherein zu bestreiten ist unsinnig. Wenn man das Problem zugibt, kann man einen Kompromiss finden, um es zu lösen. Wenn man das Problem abstreitet, fällt man unweigerlich denen zum Opfer, die den Gleichheitsanspruch so weit überdehnen, dass von der Freiheit nichts mehr bleibt. (Wörtlich geht es da übrigens gegen "distinction", die Erasetzung durch "discrimination" ist selber schon Teil dieser Überdehnungs-Interpretation.)

Holger Jürges | So., 23. August 2020 - 15:17

werter Herr Stegemann, mit einem – nach meinem Dafürhalten – Schönheitsfehler: Die von Ihnen beschriebenen perfiden Vorgehensweisen verorte ich aktuell allein in dem gesellschaftlichen Spektrum, welches man gemeinhin „Links“ nennt. - Wenn´s die Rechten wär´n, würden schon lange die Fanfaren geblasen. -
Nun, der raffinierten Vorgehensweise der Cancel-Culture geschuldet, müssten wir die Frage stellen: Bewegen wir oder werden wir bewegt ? - Mit der Zustimmung breiter Kreise, die den öffentlichen Diskurs bestimmen, heißt es dann wohl: Wir werden bewegt ! -
Auch wenn es den Prinzipien des Grundgesetzes zuwiderläuft: Links darf, was rechts nicht mal „denken darf“...

Romuald Veselic | So., 23. August 2020 - 15:39

Z: "Es geht also nicht mehr nur darum, die eigenen Interessen durchzusetzen, sondern man will vor allem bestimmen, wie die Anderen ihre Interessen formulieren dürfen."

Walter Müller | So., 23. August 2020 - 16:00

Danke für die gute Analyse eines inzwischen schon viel zu lange andauernden Idiotentheaters, dessen Folgen mehr und mehr gewachsene Gemein- und Freundschaften zerstört. Woher kommt die neue Lust am Kulturkampf? In einem lange Zeit freien Land kann sich eine Sprachpolizei etablieren, große Medienkonzerne arbeiten plötzlich mit Framing Manuals und die gewählten Politiker halten sich bedeckt. Wir alle dachten, Verhältnisse wie in der DDR sein ein für alle mal vorbei. Weit gefehlt. Relativ kleine Gruppen bestimmen, wie die Anderen ihre Interessen formulieren dürfen. Und Medien und Öffentlichkeit ziehen mit, die zugehörige Gehirnwäsche dringt in die letzten Winkel. Wird das Land dadurch tatsächlich nicht nur sauber sondern auch ideologisch rein? Wollen wir das?

Lt. Wikipedia werden Bestseller aus den Verkaufszahlen von 400 repräsentativ ausgewählten Buchhandlungen direkt an die Bestsellerliste des SPIEGEL übermittelt.
Wenn es diesem aber gefällt, kann er einen nachweislichen Bestseller, (der heisst ja deshalb so, weil er so erfolgreich ist,) klammheimlich von Platz 6 seiner Liste nehmen.
Das geschah zwar 2017, ist jedoch ein Relikt aus voraufgeklärten Zeiten.

Danke Herr Müller, dass Sie das so treffend ganz in meinem Sinne geschrieben haben.

Johan Odeson | So., 23. August 2020 - 16:24

Der rhetorische Trick ist immer derselbe. Er besteht aus der immer wieder neuen Definition der Gruppe oder der Situation, die angeblich die Richtigkeit der eigenen These bestätigt. These: All Scotsmen like tea. Einwand: My grandfather is a Scotsman, but does not like tea. Thesenwechsel: Then he is not a true Scotsman! Es wird einfach neu definiert. These: Der Sozialismus hat historisch total in der Realität versagt. Thesenwechsel: Dann war das nicht der richtige Sozialismus! Damit wird einfach die Realität geleugnet und die eigene Theorie völlig davon losgelöst und jedweder argumentation entzogen.

Gunther Freiherr von Künsberg | So., 23. August 2020 - 18:34

Cancel heißt übersetzt „für ungültig erklären, streichen, annullieren“. Die so Handelnden geben sich als Protagonisten aus obwohl sie Antagonisten sind. Dies geschieht dadurch, dass sie den bis dato anerkannten Inhalt von Werten für ungültig erklären. Kraft eigener höchster Entscheidungsgewalt (ex cathedra) die weder Zweifel noch Einwände zulässt, werden die Inhalte dieser Werte neu bestimmt. Hierbei vertrauen die Antagonisten darauf, dass die Protagonisten sich entsprechend ihrer Werte wie Meinungsfreiheit und Toleranz verhalten und sich nicht massiv zur Wehr setzen, was dem Toleranzgedanken widersprechen würde, obwohl abzusehen ist, dass die Gefahr besteht in der Diktatur zu landen. Diktatoren gewähren formal dieselben Grundrechte wie Demokratien;sie definieren nur die Inhalte wesentlich anders. Die Geschichte hat gezeigt, dass dies für nahezu alle Grundrechte zutrifft, die unsere Nachkriegsdemokratie noch zu bieten hat. Kommunismus und Demokratie schließen sich einander absolut aus.

Yvonne Stange | So., 23. August 2020 - 18:39

... sich allerdings durch den Vergleich zu "Klimaleugnern" völlig disqualifiziert. Schade. - Was ist denn ein "Klimaleugner"? Oder wer ist gemeint? Und schon wird die Rhetorik des Mainstreams herausgeholt. Verflixt nochmal, es gibt keine "Klimaleugner"! Es gibt nur Menschen, die anzweifeln, daß auf einmal der "Klimawandel" allein vom Menschen verursacht sein soll! Das ist der Streitpunkt, der nicht bewiesen ist! Das es einen Klimawandel gibt, dies leugnet niemand. Den gab es schon immer - schon vor dem Menschen - und den wird es immer geben, auch wenn es keine Menschen mehr gibt.

genau so, Frau Stange, sehe ich das auch. "Klimaleugner" ist ein scharfes Instrument wie Corona-Leugner auch.

der Begriff "Leugner im Zusammenhang mit Klima, Corona etc. ärgert mich auch.
Aber es ist genau die Linie des linksgrünen Mainstreams der damit jedwede Diskussion aus dem Wege gehen will. Und wenn Leugner nicht mehr zieht kommt der Rechtspopulist oder Nazi. Es ist so durchschaubar wie dumm. Aber aus dieser linken Ecke erwarte ich nichts mehr. Wo Ideologien herrschen, hat der gesunde Verstand Urlaub.
Auch bei manchen Foristen klar zu erkennen. Daher Dank für Ihren Beitrag.
Allen einen schönen Start in die Woche.

Stefan Jurisch | Mo., 24. August 2020 - 07:32

schweigende Masse, die das alles mit sich machen lässt. Würde diese ab und an mal aufbegehren, hätten solcherlei Phänomene direkt weniger Aussicht auf Erfolg.

Hans Meiser | Mo., 24. August 2020 - 11:11

Warum, Herr Stegemann, relativieren Sie alles, was Sie da so schön und richtig schreiben, durch die (zwanghafte/politisch korrekte/gehorsam vorauseilende/ ... ???) Erwähnung, dass "die Rechten" auch Cancel Culture betreiben?
Das mag durchaus sein, ist aber in der aktuellen und richtig von Ihnen beschriebenen Situation nur von geringer Bedeutung bzw. Auswirkung auf die gesellschaftliche Entwicklung.
So wie er hier steht, hat Ihr Artikel damit nämlich auch etwas von Cancel Culture bzw. unterstütz er diese: "... wenn das die anderen (bösen, rechten) machen, dann ist es ja für die guten/linken irgendwie ok ...".

Manfred Sonntag | Mo., 24. August 2020 - 14:31

Prima, Herr Stegemann. Besser kann man das Drama gar nicht beschreiben. Die Cancel Culture ist in ihrem Wesen totalitär und der Wegbereiter für eine erzreaktionäre Diktatur. Sie steht in der Tradition von Stalin, Mao und der roten Hilde. Aber auch die sogenannten Linksliberalen haben ihre Unschuld durch die offene und verdeckte Unterstützung von Cancel Culture verloren. Mit "Liberal" hat das nicht das GERINGSTE mehr zu tun. Aber was solls, unsere Politiker im Bundestag und den Landesparlamenten machen es ja vor. Dort wurde die „Mainstream Doctrin“ der Linksliberalen integriert was am Ende immer auch eine „Cancel sonstwas“ zur Folge hat. Die CC Kampfgruppen haben nur die Technik des Ausgrenzens spezifiziert.

Ernst-Günther Konrad | Mo., 24. August 2020 - 14:38

So sehr ich ihrem Artikel zustimmen kann, ergeben sich für mich doch Fragen. Dass es in der Nazi-Zeit ebenso Cancel Culture gab, dürfte niemand anzweifeln. Wie zeigt sich Cancel Culture von rechts denn gegenwärtig? Im Moment haben doch eindeutig die Linksfaschisten das sagen. Ich habe in den letzten Jahren zum Thema Klimawandel niemand hier gelesen, der den Wetterwandel bezweifelt. Es besteht nur Kritik und Unklarheit, ob und in welcher Weise wir Menschen selbst durch unsere Lebensweise Einfluss nehmen. Es wird der Klimawandel nicht geleugnet, sondern nur deren Gründe. Das gleiche gilt für das Virus. Die allermeisten Menschen bezweifeln nicht das Virus selbst, sondern dessen Gefährlichkeit und kritisieren die Hysterie darum. Das ist doch nicht geleugnet. Leugnung ist für meine Begriffe, eine Tatsache/Annahme für jedermann sichtbar als nicht vorhanden zu bezeichnen. Das derzeit ein Kulturfrevel linksindoktriniert stattfindet ist Tatsache für die einen, wird von den Anwendern geleugnet.

Bernd Muhlack | Mo., 24. August 2020 - 20:16

Zitat:
"Und wie alle gesellschaftlichen Gifte hat auch dieses eine selbstverstärkende Wirkung. Denn wenn man die Erfahrung macht, dass man die andere Meinung nicht mehr aushalten muss, bringt man auch keine Mühe mehr für Gegenargumente auf."

Ich habe mir diesen Satz ausgedruckt und an die Wand meines Schreibtisches gepinnt.
Sehr gut und für ALLE gültig!

Das erinnert mich an Robespierre und Danton.
"Nur wir sind die GUTEN!"

Letztlich nicht atemlos revoluzzend durch die Nacht, sondern eher kopflos in Paris.

Herr Stegemann. sehr gut!
Da capo ... Zugabe ...

Eines noch.

In der Tat scheint es so, dass ob der (Androhung) der neuen Netiquette eine gewisse, angenehme Beruhigung eingekehrt ist.