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Hans-Jochen Vogel ist am Sonntag im Alter von 94 Jahren nach langer Krankheit gestorben

Zum Tod von Hans-Jochen Vogel - „Weiterarbeiten und nicht verzweifeln“

Mit Hans-Jochen Vogel starb der eigentliche politische Erbe des alten Zuchtmeisters Herbert Wehner. Vogel war ein großer Kümmerer, der mit Fleiß, Hingabe und Umsicht arbeitete. Er wird der SPD fehlen, auch wenn die Partei es vielleicht noch gar nicht ahnt. Ein Nachruf.

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Hartmut Palmer ist politischer Autor und Journalist. Er lebt und arbeitet in Bonn und in Berlin.

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Unter den Eigenschaften, die nach seinem Tod in allen Nachrufen parteiübergreifend gepriesen werden, wird eine oft vergessen, über die er selbst nie sprach, die ihn aber besonders auszeichnete: seine selbstlose Hilfsbereitschaft und sein stiller Einsatz für Schwache, Bedrängte und Zukurzgekommene.

Hans-Jochen Vogel, der in jungen Jahren als Münchner Oberbürgermeister Triumphe gefeiert und auch als Bonner Minister geglänzt hatte, fand seine wichtigste Rolle erst, als die SPD 1983 nach 13 Regierungsjahren ausgelaugt am Boden lag und einen neuen Anführer brauchte. Willy Brandt war schon eine Legende, Helmut Schmidt fing an, eine zu werden. Und Herbert Wehner war zu alt und zu krank geworden, um weitermachen zu können. Vogel musste die Arbeit des legendären Triumvirats allein übernehmen. Als Oppositionsführer wurde der einstige Star die letzte politisch-moralische Instanz der SPD. 

Ein großer Kümmerer

Politisch hat er sich immer Willy Brandt verbunden gefühlt, der ihn Anfang der Siebzigerjahre aus München nach Bonn geholt hatte. Aber Brandts Lebensart war nicht seine, und auch Helmut Schmidts Neigung, die SPD als eher lästiges Beiwerk zu betrachten, teilte er nicht. Je älter er wurde, desto größer wurde sein Verständnis für die jungen Leute, die ihn einst als Münchener Oberbürgermeister zur Weißglut gebracht hatten. Er beobachtete mit Neugier und Sympathie, wie die Grünen, anfangs mit Misstrauen empfangen, die Politik und auch ihn veränderten. 

Er wurde als Oppositionsführer milde gegen seine früheren Gegner und ein großer Kümmerer, der vielen Menschen half, die Schwierigkeiten hatten, die in die Mühlen der Bürokratie geraten, zu Unrecht benachteiligt oder in Not geraten waren. Wer sich an ihn wandte, ihm schrieb und um Hilfe bat, bekam eine Antwort. Und wenn Vogel auch nur den Hauch einer Chance sah, dem oder der Bittenden zu helfen, verfolgte er die Sache solange, bis sie zum bestmöglichen Erfolg führte.

Umsicht, Fleiß und Hingabe

Darin vor allem glich er Herbert Wehner, dem „Zuchtmeister“, dessen Amt als Vorsitzender der Bundestagsfraktion er 1983 wie selbstverständlich übernommen hatte, weil keiner mehr da war, dem man es zu- und anvertrauen konnte. Die Fraktion führte er acht Jahre mit Umsicht, Fleiß und Hingabe, länger als jedes der beiden Bonner Ressorts – das für Wohnungsbau und Raumordnung und das der Justiz –, die er vorher, nicht minder erfolgreich, als Bundesminister geleitet hatte.

Als Kanzlerkandidat der SPD hatte er 1983 vergeblich versucht, Helmut Kohl von der Macht zu verdrängen. Und auch als Parteivorsitzender gelang es ihm nicht, die SPD zurück ins Kanzleramt zu führen. Aber Vogels wahre Größe zeigte sich gerade jetzt, in der Zeit der politischen Niederlagen. Er wurde ein würdiger Nachfolger des großen Kärrners Herbert Wehner: spartanisch wie dieser, bescheiden und fleißig. 

Im VW Golf zu Honecker

Kaum ins Fraktionsamt gewählt, setzte er die Bemühungen seines Vorgängers fort, sich im diskreten, direkten Gespräch mit SED-Chef Erich Honecker um die Freilassung von verfolgten DDR-Bürgern zu bemühen. Er fuhr zu ihm an den Wehrbellinsee, aber nicht etwa im Bonner Dienstwagen, sondern in seinem privaten Auto (Marke VW Golf) – genau wie Wehner es auch immer gehalten hatte, nur dass eben jetzt nicht mehr dessen Ehefrau Greta Wehner das Auto chauffierte, sondern Vogels Gattin Lieselotte.  

Da sie zuerst den Wagen zu einem Abstellplatz bringen musste, wurde der ihr zugedachte Blumenstrauß dem Ehemann übergeben, was damals – da ein Foto von der Blumenübergabe in den Medien veröffentlicht worden war – zu dem Missverständnis führte, Vogel habe Honecker Blumen mitgebracht, und einige kritische Briefe zur Folge hatte.

Er hasste Unpünktlichkeit

Wer zu Wehner ging, musste dessen Vulkanausbrüche fürchten oder das beharrliche Schweigen, mit dem er seine Besucher nerven und kirre machen konnte. Das kam bei Vogel nicht vor. Er war ein aufmerksamer Zuhörer und ein hilfreicher Berater. Er erwarb sich Respekt und Hochachtung, weil er über die Dinge, die es zu besprechen galt, nicht nur einfach Bescheid wusste, sondern auch über das, was zu diesen Dingen geführt hatte und was aus ihnen folgte.

Wer zu Vogel kam, war allerdings gut beraten, wenn er sich vorher über alle Details informiert hatte, die für sein Anliegen relevant waren. Denn Vogel hatte ein nicht nur Ahnung über das Mögliche, sondern auch ein unglaubliches Gedächtnis. Er hasste Unpünktlichkeit. Und er bestand seinerseits darauf, dass Briefe, die er schrieb, auch ordnungsgemäß beantwortet wurden. Erst danach kamen sie in die Ablage. 

Wehner mochte ihn erst nicht

Über seinen humanitären Einsatz in der Zeit der deutschen Teilung ist nie groß geschrieben und berichtet worden. Er selbst widmete dem Antrittsbesuch bei Honecker in der Schorfheide in seinem Buch „Nachsichten“ nur wenige Zeilen. Er wollte, auch darin Wehner ähnlich, kein Aufhebens davon machen.

Wehner mochte ihn anfangs gar nicht. Der knorrige Fraktionschef behandelte den Neuling aus München wie einen bayerischen Schnösel. Er wusste, dass Vogel ein Gefolgsmann Brandts war – allein das machte ihn verdächtig. In kleinem Kreis nannte er ihn abfällig das „weiß-blaue Arschloch“, wie Heribert Prantl von der Süddeutschen Zeitung schrieb, der Vogel besser als jeder andere Journalist kannte.

Zwölf Jahre Oberbürgermeister

Wehner habe wohl „eher Sympathien für die linken Dogmatiker in München (gehabt), die Vogel das Bürgermeister-Leben sauer gemacht hatten“. So sauer übrigens, dass Vogel, der „Karajan der Kommunalpolitik“ (Weltwoche), der ewigen Querelen mit den Parteilinken überdrüssig, schon daran gedacht hatte, den Bettel hinzuwerfen und die Politik ganz sein zu lassen. Bis Brandt ihn für sein Kabinett gewann.  

Zwölf Jahre hatte der erfolgreichste Münchner Oberbürgermeister der Nachkriegsgeschichte die Stadt regiert. Als er, entnervt von den ständigen Angriffen von links, das Amt aufgab, hinterließ er der Stadt nicht nur eine der am besten geführten und organisierten Verwaltungen, sondern auch ein dichtes S- und U-Bahnnetz und vor allem die Olympischen Spiele 1972, die er schon nicht mehr als Oberbürgermeister, sondern nur noch als Zuschauer und Vizepräsident des olympischen Organisationskomitees erleben durfte.

Die Bundespolitik war weitaus beschwerlicher

Bundesweit bekannt war er schon als OB. Nach Brandts Berufung begann seine bundespolitische Karriere – und die war weitaus beschwerlicher und weniger glanzvoll als die zwölf Münchner Jahre.

Vogel, der schon als Kommunalpolitiker erkannt hatte, dass ohne eine Eindämmung der grassierenden Spekulation mit Grund und Boden eine vernünftige Stadtplanung und bezahlbares Wohnen nahezu unmöglich sind, scheiterte mit dem Versuch, ein Gesetz durchzubringen, das Bodenspekulanten das Handwerk gelegt hätte. Die von ihm betriebene Bodenrechtsreform wurde von den Freien Demokraten erbittert bekämpft und blockiert. 

Als Justizminister erfolgreicher

Der Justizminister, als den ihn Helmut Schmidt 1974 nach dem Rücktritt Willy Brandts berief, war erfolgreicher. Die Reform des Abtreibungsparagraphen 218, die sein Vorgänger Gerhard Jahn angeschoben, aber nicht vollendet hatte, und das neue Scheidungsrechts waren die heißesten Eisen, die er schmieden musste. Der von Vogel durchgesetzte Anspruch auf Versorgungsausgleich für geschiedene Frauen empörte viele Männer – darunter auch solche, Genossen, die sonst auf dem progressiven Flügel der SPD anzutreffen waren, und zwar besonders dann, wenn sie, wie Vogel in seinen „Nachsichten“ ironisch anmerkt, selbst von einer Scheidung betroffen waren.  

Vor der mit Abstand schwierigsten Aufgabe stand Vogel im Herbst 1977, als Sympathisanten der sogenannten „Rote Armee Fraktion“ (RAF) den Arbeitgeberpräsidenten Hanns Martin Schleyer entführt und die Freilassung ihrer in Stuttgart Stammheim einsitzenden Gesinnungsgenossen verlangt hatten.

Prinzipienfest

Vogel gehörte dem Krisenstab an, der unter dem Vorsitz des Kanzlers Schmidt tagte und in dem auch Helmut Kohl und Franz Josef Strauß als Vertreter der Opposition saßen. Er lehnte die Forderungen der Erpresser ab. Die Lage spitzte sich von Tag zu Tag mehr zu. Die RAF-Leute stellten immer neue Forderungen. Auch Schleyer flehte auf Videos, die sie von ihm gedreht und ins Kanzleramt geschickt hatten, die Politiker an, nachzugeben und dem Austausch zuzustimmen. 

In dieser fürchterlichen Lage wurde im Krisenstab die Frage erörtert, ob es nicht vielleicht erlaubt sei, auch das Undenkbare zu denken, das archaische Auge-um-Auge, Zahn-um-Zahn-Prinzip etwa. Der Journalist Prantl hat die Szene so beschrieben: „Als Strauß also vorschlug, mit denselben Mitteln wie die Terroristen zu arbeiten und inhaftierte RAF-Terroristen an die Wand zu stellen, und als selbst Brandt begann, über die Einführung der Todesstrafe nachzudenken – da fanden Vogel und Wehner prinzipienfest in der strikten Ablehnung zusammen. Die Grundwerte der Verfassung: Sie waren für Wehner so unantastbar wie für Hans-Jochen Vogel.“ 

Immer Economy

Fortan habe Wehner sein Verhalten gegen Vogel geändert und ihn als verlässlichen Genossen geschätzt. Als es wieder einmal in der Koalition drunter und drüber ging und ein Projekt des Justizministers am Widerstand der FDP zu scheitern drohte, steckte Wehner dem 19 Jahre Jüngeren einen Zettel zu, den Vogel bis ins hohe Alter aufbewahrte. Auf dem Zettel stand: „Trotz alledem: Weiterarbeiten und nicht verzweifeln.“ 

Das passt ins Bild. Hans-Jochen Vogel war ein unermüdlicher Arbeiter im Weinberg der SPD. Und er hat nie Bodenhaftung verloren. Seine Bescheidenheit war sprichwörtlich, allerdings auch die Art, wie er gelegentlich damit kokettierte. Obwohl jeder Bundestagsabgeordnete Anspruch darauf hatte, im Flieger in der Business-Klasse, also vorne am Eingang zu sitzen, flog Vogel immer Economy. Wenn er das Flugzeug betrat und die Bundestagskolleginnen und Kollegen vorne sitzen sah, wünschte er laut „Guten Flug“ und begab sich nach hinten. 

„Das steht mir noch nicht zu“

Als die Berliner Genossen ihn 1981 in großer Not zum Regierenden Bürgermeister machen und den Ankömmling im Dienstwagen vom Flughafen Tegel abholen wollten, ließ er sie mit der Bemerkung stehen: „Entschuldigung! Das steht mir noch nicht zu“, und nahm sich ein Taxi. Der 1986 bekanntgewordene Skandal um die gewerkschaftseigene Wohnungsbaugesellschaft „Neue Heimat“, bei dem sich SPD-Mitglieder und Gewerkschafter auf Kosten der Mieter bereichert hatten, erschütterte ihn. Vogel sah voraus, wie sehr dieser Skandal dem Ansehen von Sozialdemokratern und Gewerkschaftern schaden, welche verheerenden Folgen er für die Debatte um die Mitbestimmung und damit für die Glaubwürdigkeit der SPD haben würde. 

Als 1983 die neu gewählte SPD-Bundestagsfraktion zur konstituierenden Sitzung zusammen kam, hielt Vogel, gerade nahezu einstimmig zum neuen Vorsitzenden gewählt, eine kurze Rede auf Wehner, der neben ihm saß und verabschiedet werden musste. Es ist die einzige Ansprache, die er vollständig in seinen Memoiren abgedruckt hat – sehr kurz und sehr eindringlich:  

„Es ist wie der Abschied von einem Vater, dessen ständige Sorge und Anwesenheit selbstverständlich erschien und dessen Weggang das Gefühl der Einsamkeit, ja der Verlassenheit aufkommen lässt. Denn wenn wir dich auch alle unter uns in einer freundschaftlichen Mischung von Vertrautheit und Respekt den Onkel nannten – in Wahrheit warst du doch für die meisten von uns eine Art Vater. Zu all dem gehört, dass du wie wenige Autorität besitzt. Übrigens auch gegenüber deinen Gegnern und gegenüber denen, die sich an deinen Ecken und Kanten reiben. Es ist nicht die Autorität des Amtes, das du innehattest. Es ist die Autorität des Lebens, das du gelebt, der Irrtümer, die du überwunden, der Gefahren und Herausforderungen, die du bestanden hast.“

Dies alles trifft auch auf den zu, der diese Sätze einst formulierte. Hans-Jochen Vogel war nicht nur im Amt, sondern durch seine Art zu leben und Politik zu machen, als moralische Instanz und als unermüdlicher Kümmerer der eigentliche Erbe Herbert Wehners. Es steht allerdings zu befürchten, dass die heutige SPD noch nicht begriffen hat, wen sie da verloren hat. Hans-Jochen Vogel ist am Sonntag, im Alter von 94 Jahren, nach langer Krankheit gestorben.

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Dorothee Sehrt-Irrek | Mo., 27. Juli 2020 - 12:01

war die SPD groß, zu einer Zeit, als es dessen bedurfte.
Man konnte es evtl. leichter haben in der alten Bundesrepublik, wenn man in FDP oder CDU/CSU war und das wäre zweifelsohne auch aller Ehren wert gewesen, aber die SPD verzauberte....mich jedenfalls.
Das große Werk hat die SPD vollbracht und es ist nicht schlimm, wenn es jetzt kleiner weitergeht, aber weitergehen sollte es!
Die immerwährende Verantwortung ist und wird bleiben die für den Frieden.
Die scheinbare Koketterie bei Hans-Jochen Vogel, ist das nicht auch etwas wie bei Heinemann, "Ach was, ich liebe keine Staaten, ich liebe meine Frau, fertig!"?

liebe Frau Sehrt-Irrek, verzaubert Sie nicht mehr - vermute ich mal.

Trösten Sie sich: Auch die CDU reißt niemanden mehr vom Hocker, so wie
dies einmal in den ersten Jahrzehnten nach dem Krieg der Fall war.
Wir Wähler müssen uns notgedrungen zufrieden geben mit dem Personal, das in unserer Zeit in den Parteien zur Verfügung steht.
Von der Prinzipientreue, dem Arbeitsethos, der Vernunft u. der uneigennützigen Hilfsbereitschaft eines Hans Jochen Vogel kann man bei den allermeisten
Politikern nicht viel erkennen. Leider.
Daß die beiden Brüder Vogel (Hans Jochen u. Bernhard) sich trotz ihrer unterschiedlichen Parteizugehörigkeiten weiterhin gut verstanden und Gespräche miteinander führen konnten, zeigt ihre Toleranz und geistige Weite.

Ach, manchmal wird mir weh um's Herz, wenn ich an die Zeiten denke,
als der eine Vogel Kultusminister u. später Ministerpräsident in RLP war und der andere in der Bundespolitik und in der SPD eine wichtige Rolle spielte!

Tempi passati!

Gerhard Lenz | Mo., 27. Juli 2020 - 14:04

Antwort auf von Christa Wallau

sind wir hier im Forum wieder alle ehemalige SPD-Anhänger. Die der Partei den Rücken gekehrt haben, weil sie ins sozialistische Lager gewechselt ist. Man selbst ist sich selbstverständlich treu geblieben - es sind die Parteien (neben der SPD vor allem die CDU), die sich verändert haben. Alle sind sie jetzt am linken Rand zu finden, versteht sich.
Mit den vielen Krokodilstränen, die da vergossen werden, könnte man mühelos einen mittelgrossen Badesee füllen!

Lassen wir doch mal die Heuchelei: Die Ost-Politik der SPD, die ja für manchen in der Union schon Landesverrat war, hätte einer AfD die Zornesröte ins Gesicht getrieben und einen Dauerplatz vor deutschen Gerichten beschert, da also, wo die AfD ihre wesentlichen Aktivitäten entfaltet (und nicht im Parlament). Schröders Koalition mit den Grünen des "ewigen Steinewerfers Fischer" oder dem Ex-KBWler Trittin wäre gleichfalls Landesverrat gewesen, und auch einem Hans-Jochen Vogel hätte man mühelos das Etikett "Marxist!" umgehängt.

Dorothee Sehrt-Irrek | Mo., 27. Juli 2020 - 14:40

Antwort auf von Christa Wallau

Politik ist breiter geworden seither, ganz sicher seit der Wiedervereinigung, wenn Sie liebe Frau Wallau ein bisschen von der damaligen Entspannung und Zuversicht an die jungen Menschen weitergeben könnten, über alle politischen Differenzen hinweg?

ob diese Partei jemals "groß" war bin ich mir, als Noch- Genossin, so sicher nicht. Groß waren aber die oben genannten Namen und die SPD -Politiker die sie trugen. So manchen von ihnen durfte ich selbst kennenlernen. Hans -Jochen Vogel bei einem Vortrag in den 80igern.Wir waren an einem abartig heißen Julitag eingepfercht in einem Nebenraum eines fränkischen Gasthofes. Mittendrin der Referent, völlig sortiert und methodisch sprach er zum total derangierten Publikum. Der Raum war stickig, überfüllt und vollkommen verräuchert. So einen disziplinierten Menschen mit Kontenance habe ich selten gesehen. Legendär: Seine in Klarsichthüllen verwahrten Unterlagen. An seinen erhobenen Zeigefinger erinnere ich mich auch noch, genauso wie an seine Zornesröte, wenn die Redeliste nicht eingehalten wurde. Besonders wichtig war mir bei ihm, dass er einer der wenigen bekennenden Christen, wie auch Johannes Rau, in der damaligen SPD war. H.J. Vogel war ein guter Mensch, aber kein Gutmensch.

einfach mal so.
Vielleicht erst nach seinen Erfahrungen in der UDSSR und seiner damit einhergehenden Erkenntnis, dass es ohne Kultur, Rechtsstaat und Religion/Spiritualität/Transzendenz nicht geht.
Man merkte ihm evtl. nicht an, was ein Pfarrer meinte an seinem Grab rezitieren zu müssen "Die Liebe blähet sich nicht auf..."
Natürlich war ich auch im Herbert-Wehner-Freundeskreis als zeitweilig Sächsin.
Wie schön, dass Sie eigene Erfahrungen wiedergeben können.
Das ist das Wohlfühlen, das ich meine.
Aus Erinnerungen heraus würde ich meinen, dass es nach ´45 niemals um Ideologie ging, sondern um die Menschen und eine Zukunft für die Bundesrepublik, auch umgreifender, aber nicht gegeneinander.
Es war ein politisches Ringen, kein Repräsentieren, es ging nicht um Macht, es ging um KLARE und auch politisch immer PRÄZISIERTE PROJEKTE.
Ich will angesichts des Todes eines Großes nicht in Bashing ob irgendwelcher Bemühten abgleiten.
Der andere Kommentator meint es ja aber positiv.
"Nicht aufgeben"

Sie haben vollkommen Recht ,liebe Frau Sehrt-Irrek, auch Wehner war Christ. Zu meiner Überraschung hatte mir das vor vielen Jahren ein Bundestagsabgeordneter erzählt. Es gab wohl regelmäßig auch Gottesdienstbesuche z.B. zu Beginn und Ende der Legislatur und einen Bundestagsgebetskreis. Der 1. Korinther 13,aus dem stammt der von Ihnen zitierte Satz, ist ein Kapitel der Bibel, das man gar nicht oft genug lesen kann.(Ob ich mit Menschen- oder Engelszungen redete und hätte der Liebe nicht....)

Ob Herbert Wehner ein gläubiger Christ war, entzieht sich meiner Kenntnis.

Jedoch war er ein begnadeter Redner, Stratege.
Ich schaue mir diese ollen s/w BT-Debatten gelegentlich sehr gerne an; man lernt ja bekanntlich bis zum Finale furiuso, nicht wahr?

"Natürlich gestatte ich eine Zwischenfrage - auch von diesem - na ja - Herrn.
Und wenn Sie schon mit mir reden wollen, dann nehmen Sie gefälligst die Hände aus der Hose! Sie, sie - Taschenspieler Sie!"
Wehner war quasi der erste Rapper des Bundestages, seine Stakkatosprache.
Und von ganz leise bis zum Brüllen!
Unvergesslich!

Interview Ernst-Dieter Lueg und Herbert Wehner.
"Herr WÖRNER, die Zeit des Kanzlers Schmidt neigt sich wohl dem Ende, oder?"
"Herr, Herr LÜG, ob Sie das beurteilen können, das - äh, bezweifle ich."
"Danke Herr Wörner." - "Gerne Herr Lüg."

Das sind klare Aussagen, Butter bei die Fische.

Die SPD hat NIEMANDEN mehr mit Charisma, Charakter, Aura.
Dieses Personal ist Kreisklasse F.
Jedoch sind sie sich selbst genug!

Ernst-Günther Konrad | Mo., 27. Juli 2020 - 12:14

Ein exzellenter Nachruf, dessen Inhalt ich gerade zu "genossen" habe. Legender auch seine brüderlichen Streitigkeiten mit Bernhard aus der CDU. Da war politischer Parteienaustausch garantiert, kontrovers, aber vorbildlich respektvoll.
"Die Grundwerte der Verfassung: Sie waren für Wehner so unantastbar wie für Hans-Jochen Vogel.“
Ich wage zu bezweifeln, dass die Jusos und SPD-Parteigänger heute den "alten" Vogel noch wirklich kannten. Sie haben ihre Identität vergessen, also warum soll die politisch demente SPD sich noch an Vogel, Wehner, Brand, Schmidt, Ehmke erinnern.
GG - was ist das?
Hat die SPD in letzten Jahren sich dieser Männer erinnert? Nein.
Die SPD heute, mit den kommunistischen und sozialistischen Fantasien, wird nicht wissen, welchen großen Politiker sie da verloren haben.
Die BILD titelt, es soll nach der Pandemie einen Gedenktag für die Opfer von COVid 19 geben. Wird es auch einen Gedenktag geben, wenn es die SPD bald nicht mehr gibt?
Ein weiteres Vorbild ist gegangen.

Und der kläglich Rest von heutigen.....
bis hin zu Schaustellern & Karnevalisten der aller übelsten Art,
die zum "Gruselkabinett" befördert & hofiert werden.
Ja Herr Konrad, wie so oft den Nagel auf den Kopf getroffen. Ihr Satz hat inhaltlich noch weitere 2000 Jahre Gültigkeit:
Und Sie wissen nicht, wovon Sie reden & was Sie säen.

Und nie den Humor verlieren, auch wenn die Gummistiefel schon längst nicht mehr reichen ;-)

Tomas Poth | Mo., 27. Juli 2020 - 14:19

Cicero und die NZZ widmen diesem bedeutenden Nachkriegspolitiker einen Nachruf.
Alle anderen schweigen sich bisher aus!?
Unfähige Leitmedien?

Dorothee Sehrt-Irrek | Di., 28. Juli 2020 - 12:22

Antwort auf von Tomas Poth

es geht andererseits aber gerade auch für die SPÖ um sehr viel, jedenfalls standard-online, Moment, zu meiner Überraschung TE.
So langsam erinnert sich die Presse wieder an ihre großen Zeiten?
Publizistik war eine große Liebe von mir, Liebe jetzt im etwas weiteren Sinne gemeint, eben auch sehr ehrlich und menschlich.

Bernd Muhlack | Mo., 27. Juli 2020 - 17:16

Vor etlichen Jahren sah ich ein Interview im BR mit Jochen Vogel und seinem Bruder Bernhard; CDU.
Ich glaube Sigmund Gottlieb war der Moderator.
Das war sehr informativ und amüsant.
Eigentlich war Jochen viel konservativer als Bernhard.

"Stimmt das eigentlich mit der peniblen Ordnung und den Klarsichtfolien?"
"Ach wissen Sie, es doch schön wenn sich um mich Mythen ranken, gell?"
Und lacht, sein Bruder ebenfalls.

Diese "Sorte Politiker" gibt es leider nicht mehr!

Heut zu Tage ist "Haltung" angesagt.
Leider meist im falsch verstandenen Sinn einer "Anpassung," eines "Abnickens".

94 Jahre?
Like Queen Elisabeth II.

kann gut sein, dass Hans-Jochen Vogel konservativer war als sein jüngerer Bruder.
Deshalb gehörte er evtl. niemals zu den Linken in seiner Partei und Bernhard Vogel brachte Schwung in die CDU:)?
Wenn die Parteien doch bitte für derlei politische "Kapriolen" Raum lassen.
Ältere neigen nicht selten dazu, zu beschützen und wer brauchte nach ´45 wohl mehr Schutz?
Vielleicht auch ein persönliches Korrektiv zum 3. Reich, ich bin aber sicher, das die Vogels IMMER loyal zu ihren je Parteien sind und waren.

Fritz Elvers | Mo., 27. Juli 2020 - 18:32

Dass Strauß die Hinrichtung von RAF-Mitgliedern vorschlug, ist überliefert und denkbar, aber dass Brandt die verfassungswidrige Einführung der Todesstrafe forderte, glaube ich nicht und finde dies auch nirgendwo belegt.

Hans-Jochen Vogel war zu seiner Zeit genau der richtige Politiker. Wahrscheinlich wäre er es auch jetzt, hätte aber wohl keine Chance.

hermann klein | Di., 28. Juli 2020 - 12:19

Mit Hans-Joachim Vogel hat die SPD letzten Überragenden verloren.
Wo sind heute in der Partei die scharfsinnigen Charaktere eines Helmut Schmidt, Karl Schiller, Fritz Erler, Carlo Schmidt, Hans Apel, Jürgen Wischnewski, usw.?
Gegenwärtig: Norbert-Walther-Borjans, Saskia Esken, Ralf Stegner…. Um Gottes willen….

Andraimon | Di., 28. Juli 2020 - 12:33

Wir haben ihm viel zu verdanken: das neue Scheidungsrecht mit dem Versorgungsausgleich (auch wenn er nicht so lange warten wollte, sein Scheidungsverfahren vorher durchführte) und in München den Altstadtring, der die einst schöne Maximilianstraße kaputtmachte.

Klaus Funke | Di., 28. Juli 2020 - 14:55

Das war Vogel´s Markenzeichen. Er hat diejenigen, die jetzt die SPD zugrunde richten, erst möglich gemacht. Durch sein ewiges "sowohl als auch". Ein salbungsvoller Redner ist er gewesen. Ein verständnisvoller Christ auf dem Arbeiterthron. Was er gesät, das ernten wir jetzt. Freilich „De mortuis nil nisi bene“ - das ist auch das einzig entschuldbare Motiv für all die jetzigen Nachrufe. Die Wahrheit ist eine gänzlich andere... wenn man ehrlich und kritisch ist.