Mit dem Grundgesetz auf der Straße: Protest steckt in Baden-Württembergs DNA / picture alliance

Corona-Demos in Stuttgart - Auf den Straßen im Protestländle

In Stuttgart wird nicht nur demoliert, sondern auch demonstriert. Die Corona-Demos sind hier größer als anderswo und auch ansonsten rumort es. Was braut sich da zusammen im reichen Südwesten? Moritz Gathmann hat sich umgesehen.

Autoreninfo

Moritz Gathmann ist Chefreporter bei Cicero. Er studierte Russistik und Geschichte in Berlin und war viele Jahre Korrespondent in Russland.

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„Frieden“, ruft die junge blonde Frau auf dem E-Bike. „Freiheit“, antworten ihr um die hundert Radfahrer. Von den Wänden des Tunnels, der Bad Cannstatt mit der Stuttgarter Innenstadt verbindet, hallt es hundertfach zurück. Vorbei an den Radlern rasen an diesem warmen Juniabend vier Polizeimotorräder, der flackernde Schein ihrer Blaulichter gibt der Fahrraddemo eine übersinnliche, religiöse Anmutung. Willkommen in der Stuttgarter Kirche der „Querdenker“.

In vielen deutschen Städten regte sich seit Mitte April Widerstand gegen die Corona-Beschränkungen. Aber während selbst in Berlin nur wenige Hundert Menschen auf die Straße gingen, protestierten im Mai in Stuttgart weit über 5000 Menschen – die Veranstalter sprechen von 20 000. Selbst im 50 000-Einwohner-Städtchen Ravensburg gingen 2000 Bürger auf die Straße. Viele Medien waren schnell in ihrem Urteil: Verschwörungstheoretiker, Covidioten, Rechtsextreme, hieß es über die Protestler, der Stuttgarter Bischof Gebhard Fürst nannte die Demos „egoistisch und im höchsten Maße verletzend“. Zuletzt attackierte ein Antifa-Trupp die Stuttgarter Demo – ein Demonstrant liegt seitdem im Koma. Es gärt im reichen Südwesten. Wenn die Wirtschaftskrise einschlägt, könnte das Fass gerade hier überlaufen. 

Zwischen industriellem Motor und wilden Esoterikern 

Was ist es, das den vermeintlich braven Baden-Württemberger so rebellisch macht? Warum war die RAF überdurchschnittlich mit Baden-Württembergern durchsetzt – von Gudrun Ensslin über Brigitte Mohnhaupt bis Christian Klar? Warum entstanden im Kampf gegen ein AKW an der badisch-französischen Grenze die Grünen, warum beendeten diese Grünen gerade hier die jahrzehntelange CDU-Herrschaft und stellen seitdem den ersten grünen Ministerpräsidenten? Warum holte die AfD hier bei den Landtagswahlen 2016 mit über 15 Prozent ihr bestes Ergebnis in den westdeutschen Bundesländern? Warum sitzt gerade im beschaulichen Tübingen ein Bürgermeister namens Boris Palmer fest im Sattel, der schon in zweiter Generation das Querulantentum zelebriert? 

Das Ländle ist in vielerlei Hinsicht besonders: Da ist der über Jahrzehnte nur selten gebrochene wirtschaftliche Aufschwung, der seit dem Zweiten Weltkrieg aus einem bäuerlich geprägten Bundesland den industriellen Motor der Republik gemacht hat. Bundesweit sind die Gehälter nur in Hessen höher, Stuttgart ist mit einem durchschnittlichen Jahresverdienst von 56 160 Euro brutto der Krösus unter den deutschen Landeshauptstädten.

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Fritz Elvers | Di., 30. Juni 2020 - 12:01

Ich kann die Proteste gegen Corona gut verstehen. Dieses dämliche Virus soll endlich abhauen!

CORONA GO HOME!

Gerhard Lenz | Di., 30. Juni 2020 - 12:45

Antwort auf von Fritz Elvers

Wäre ja nett, wenn das Virus einfach verschwinden würde. Wird es aber, so wie es aussieht, nicht tun. Selbst wenn man es einfach ignoriert.
Vielerorts sind die sogenannten Hygiene-Demos mittlerweile fast nur noch Veranstaltungen von ein paar Dutzend Menschen. Neben den üblichen Typen, die auch gegen Merkel und Migration meckern, gibt es jetzt noch ein paar Hardcore-Esoteriker und Impfgegner. Stuttgart scheint da eine Ausnahme zu sein, auch wenn die Veranstalter im Größenwahn gerne Hunderttausende einladen, und Zweitausend erscheinen. Noch dazu aus dem ganzen Bundesgebiet. Wäre es nicht so gefährlich, könnte man angesichts der dort sichtbaren Losungen laut loslachen: "Man solle doch endlich mit dem Denken anfangen" - im nächsten Atemzug proklamiert man volle Kontrolle über den eigenen Körper, so als könne man selbst bestimmen, ob sich das Virus bei einem einnistet. Dann noch die üblichen Sprüche über Gates, ausserirdische Wesen, Chemtrails, eingepflanzte Chips...chaotisch und verrückt!

Viren wie das ganze System Leben ist schon immer ein Kampf der Gegensätze, die es seit "Anbeginn" gab. Wie sich die Sache hier unter Merkel entwickelt, hängt vom Menschen ab, wie er damit umgeht. Ob ihr "Regierungstreuen" alles "Richtig" gemacht habt, wird die Geschichte zeigen. Jedenfalls wart ihr sogenannten "Imperialisten" aus dem Westen nach dem Wetter der Hauptfeind des Sozialismus.
Aber keine Angst. Ihr "Neuen Denker" habt alles Richtig gemacht. Die Bildung ist so weit gekommen, dass der Teller von der Masse ohne murren, zedern & hinterfragen leer gelöffelt wird.
Applaus, dass schafften nur wenige Reiche hier auf Erden.
Ja, Herr Lenz, eigentlich spielt es doch keine Rolle, ob AFD oder so was ähnliches, wie Klimawandel, Flüchtingskrise, Ozonloch, irgend eine Pest oder ein ganz anderer Feind.

Die Tür ist hinter uns allen ist längst zuge.....

Zu diesen Zimmer haben wir Europäer keinen Zugang mehr.
Nichts geht mehr, .... :(

Michaela 29 Diederichs | Di., 30. Juni 2020 - 15:50

Ihr gut recherchierter und informativer Artikel ist spannend zu lesen. Kompliment. Vor allem wenn man wie ich BaWü nur wenig kennt. Die können ja bekanntlich alles - bis auf Hochdeutsch. Ob sich die Stimmung weiter aufheizt, werden wir vielleicht im Herbst sehen. Airbus hat gestern m. W. Arbeitsplatzabbau angekündigt. Wie es bei den Autobauern und -händlern sein wird, jetzt wo das Konjunkturpaket verabschiedet ist, auch das wird sich erst noch zeigen müssen. Wenn es viele Arbeitslose im Ländle gibt, ist es mit der Gemütlichkeit bestimmt vorbei. Danke für Ihren Artikel.

Heidemarie Heim | Di., 30. Juni 2020 - 17:48

Antwort auf von Michaela 29 Di…

Das können Sie laut sagen, liebe Frau Diederichs! Im Artikel von Herr Gathmann ist der Durchschnittsschwabe in seiner Vielfalt ganz gut beschrieben. Habe etwa 20 Jahre im von Stuttgart auch schon gegen Widerstand eingemeindeten Stadtteil Bad Cannstatt gelebt. Unsere Vermieterfamilie und Mitmieter Ur-Einwohner wie sie im Buch standen;) Erste Lektion und tätige Nachhilfe bekam ich in Sachen "Kehrwoche"! Schritt eins: Kauf eines geeigneten Besens schmal! und Kehrblech um zwischen Rinnstein und Reifen evtl. geparkter PKW zu kommen. Nur Ausfahrt und Gehweg flott abkehren ist nicht! Danach das so aufgefundene Material in die zuvor innen und außen gründlich gewaschenen und nach dem austrocknen mit frischer Zeitung oder Prospekt ausgelegten Kuttereimer vorsichtig verbringen! Kein Pardon gibt es außer auf einer sog. Hocketse, der einzig akzeptierten ruhigen! Freizeitaktivität, für Faulenzer oder sonst wie Untätige! Arbeitsstellenverlust gilt nicht nur als, sondern IST Höchststrafe in BW!LG

Maria Masur | Di., 30. Juni 2020 - 17:56

Antwort auf von Michaela 29 Di…

die ich auch nur unterstreichen kann. Informativ, spannend und gut recherchiert präsentiert! Klasse.

Michaela 29 Diederichs | Di., 30. Juni 2020 - 19:02

Gut, dass Sie uns eine kleine Einführung in die Mentalität gegeben haben. "So wurde in Emden (56 Prozent) und Wolfsburg (52,2 Prozent) sogar für mehr als die Hälfte aller sozialversicherungspflichtig Beschäftigten Kurzarbeit angemeldet." so SPON. Von dort habe ich nichts über Demos gelesen. Hat wohl doch auch etwas mit Tradition und Mentalität zu tun.

Ernst-Günther Konrad | Di., 30. Juni 2020 - 19:41

Prima Herr Gathmann. War viel zu lesen, aber sehr interessant. Kenne den Bodensee ein wenig, waren früher mit den Kindern dort Urlauben. Nun, die BWler sind direkt und herzlich. Die sagen was sie denken und lassen sich von nichts und niemand bevormunden. Vor allem wirken die Protagonisten glaubwürdig und haben noch das Ohr am Volk. Es müssten noch viel mehr Menschen gegen den drohenden Demokratieverlust auf die Straße gehen. Orban hat sein Ermächtigungsgesetz via Parlament zum 20.06.2020 aufgehoben. Und wir? Täglich Corona Hysterie vom feinsten, immer mehr Menschen werden ausgegrenzt und stigmatisiert. Das wird nicht mehr lange gut gehen. Wenn die Massen an Kurzarbeiter und Arbeitslose erstmal aufwachen, dann hat die Regierung ein Problem. Die Widerstände gegen diese Corona Maßnahmen wachsen täglich, auch wenn uns Umfragen verwirren sollen. Immer mehr Leute sehe ich ohne Maske und ihr Schimpfen ist nicht zu überhören. Merkel kann froh sein, das Gütersloh nicht in BW liegt.

Da warnt doch tatsächlich ausgerechnet Trump-Berater Fauci vor einer drohenden Katastrophe, weil die USA in die falsche Richtung gingen, und Einschränkungen aufhoben.
https://www.spiegel.de/wissenschaft/medizin/corona-in-den-usa-trump-ber…

Nun gut, ich denke, Trump wird den Störenfried bald "feuern".

Er könnte ja hier im Forum nach einem neuen Chef-Virologen suchen. Denn hier findet er "ausgemachte" Experten.

Sie haben es tatsächlich erkannt, hier im Forum finden Sie ausgemachte Experten.
Bleibt nur zu hoffen, dass Sie von ihnen lernen. Allerdings ich habe da so meine Zweifel.

Manfred Wolke | Di., 30. Juni 2020 - 21:04

Danke für den wirklich interessanten Bericht aus dem Ländle. Das ist tatsächlich eine Welt und Mentalität, die einem in Westdeutschland nicht so bekannt ist.

Einzig stört mich der etwas penetrante Vergleich mit den hochkriminellen Typen der RAF. Warum man Verbrecher als vermeintliche Ausprägung dieser nicht konformen, freiheitsliebenden Schwaben überhaupt erwähnt, erschließt sich mir nicht.

Inge Meier | Mi., 1. Juli 2020 - 11:03

Ist ja gut, dass Menschen sich für etwas engagieren.
Was mir aber ein bisschen Angst macht ist , dass es bei vielen dieser Protestler anscheinend nicht um Bürgerengagement im Sinne des Citoyens geht, sondern um Propagierung alternativloser Wahrheiten und Etablierung „neuer“ Ordnungen , die auf alles eine Antwort haben und jeden an seinen/ihren Platz stellen wollen.

Tomas Poth | Mi., 1. Juli 2020 - 14:46

Der italienische Süden wird seit Jahrzehnten subventioniert, alimentiert!
Diese Senke der Arbeitskraft, Arbeitsleistung der vielen fleißigen in den anderen Regionen Italiens und Ländern Europas muß vom Tropf genommen werden.
Gebt Ihnen diese Chance, es aus eigenem Willen und in eigener Verantwortung zu schaffen.
Die Angst vor dem Scheitern ist der falsche Berater. Da muß ein Ruck durch Italien gehen oder sie bescheiden sich mit dem was ihnen möglich ist.

Michaela 29 Diederichs | Mi., 1. Juli 2020 - 16:30

Antwort auf von Tomas Poth

Ich bekomme bei diesem Kommentar nicht die Kurve. Wo ist der Zusammenhang mit dem Ländle, das Herr Gathmann uns hier so trefflich schildert?

Tomas Poth | Mi., 1. Juli 2020 - 15:00

Das ist der Kontrapunkt zu Muttis vollbetreuter, die Selbstverantwortung scheuender Mitläufer-Gesellschaft.
Auch hier wieder Linksextreme Gewalt, diesmal gegen Gewerkschafter! Linke gegen Arbeitnehmervertreter! Soweit degeneriert ist man bei der IGM und ihrer Corona, satt und korrumpiert von den Aufsichtsratsposten.